eipcp gerald Die Grammatik der Toleranz
print

Die Grammatik der Toleranz

Gerald Raunig

Gerald Raunig

biography


zuerst veröffentlicht in: Gefährliche Kreuzungen. Grammatik der Toleranz, München 2006

Das Generalthema Toleranz soll hier nicht als persönliche Qualität, als dem Wesen Einzelner mehr oder weniger anhaftende Disposition, als Charaktereigenschaft von Individuen verhandelt werden; Toleranz soll hier aber auch nicht oder nicht nur als ideologisches Programm thematisiert werden, als Teilaspekt christlicher Doktrin, als integrale Komponente der Aufklärung wie des aufgeklärten Absolutismus oder als Supplement des politischen Liberalismus. Vielmehr soll es hier um Toleranz als Grammatik gehen.

Was diese Fokussierung der Toleranz als Grammatik unter anderem nahe legt, ist, dass dadurch etwas möglich wird, das strukturell auch so verschiedene theoretische Richtungen wie die späteren Schriften Foucaults, die Governmentality Studies, die Queer Theory oder die ambitionierteren Ansätze der Critical Whiteness Studies thematisieren: Es ist dies ein Blick nicht auf die Anderen, der die Anderen erst konstruiert und produziert, etwa als Subjekte oder Objekte rassistischer Praktiken oder antisemitischer und islamophober Diskurse, sondern ein Blick, der die weiße, männliche, heterosexuelle, koloniale Konstante in ihrer Praxis des Othering, der Produktion des anderen, quasi von innen, immanent erforscht, als eine Konstante, die sich selbst als Norm setzt und immer wieder reproduziert. Es geht hier nicht um eine Technik der Selbstbeschuldigung, um christliche Selbstgeißelung oder um maoistische Selbstkritik, oder um eine Theorie, die über die Essenz, den Ursprung des Übels von Rassismus, Sexismus, Islamophobie und Antisemitismus aufklären will. Eher möchten wir hier Überlegungen anstellen, die die Verhältnisse zwischen Tolerierten und Tolerierenden, die Praxen der Toleranz einer Untersuchung unterziehen, und darüber hinaus auch Fluchtlinien ziehen, die die Asymmetrien dieser Verhältnisse und Praxen durchbrechen.

Was ist nun das spezifische daran, Toleranz nicht als persönliche Eigenschaft oder politisches Programm, sondern als Grammatik zu verstehen? Beginnen wir traditionell, bei Etymologie und sprachwissenschaftlichen Aspekten des Begriffs: Im engeren Sinn würde Grammatik der Toleranz heißen, dass es darum geht, die Toleranz zu schreiben. gramma steht im altgriechischen für Buchstabe oder Schrift, das kommt von grafein, ritzen, einritzen, eingraben. Das gramma ist also buchstäblich das Produkt einer Praxis, die eine Spur in etwas einschreibt, einritzt. Grammatik bedeutet auf dieser sprachlichen Ebene ein Gefüge zwischen diesen eingeschriebenen, eingeritzten Spuren der Schrift und der Sprache, das Verhältnis dieser Spuren untereinander. Es geht hier weniger um die Feststellung, Identifizierung, Schichtung von Subjekt und Objekt als Satzgliedern, oder in unserem Fall von Subjekten und Objekten der Toleranz, sondern auch und vor allem um jene Bewegung der Bedeutung, die durch das Prädikat, nämlich „tolerieren“ erzeugt wird. Es ist bei allen Anwendungen der Toleranz also zu fragen, wie genau das Tolerieren als grammatikalische Funktion gesetzt wird. Und das nicht nur als Frage nach Subjekt und Objekt der Toleranz, einfach nach dem Motto „Wer toleriert hier wen?“ Eine differenzierte Untersuchung dieser grammatikalischen Funktion wird vor dieser Frage beginnen und über sie hinausgehen, sie wird nicht eine Methode der Feststellung, sondern eine der Verschiebung verfolgen.

 

Lassen Sie mich mit einer kurzen eklektischen Geschichte des Begriffs die Beweglichkeit und Veränderlichkeit der grammatikalischen Funktion von Toleranz anschaulich machen. Der Begriff Toleranz taucht zum ersten Mal auf als Substantivierung des lateinischen Verbs tolerare („ertragen, aushalten, erdulden“): als tolerantia bei Cicero, und zwar in einem kleineren Werk, das Cicero 46.v. geschrieben hat, den stoischen Paradoxa ad Marcum Brutum, und es ist vermutlich nicht zufällig, dass das Wort gerade bei Cicero, am Übergang von der Politik zur Philosophie auftaucht. Toleranz erscheint hier in einer Reihe von Tugenden des Weisen, etwa der Größe seines Ratschlags, magnitudo consilii, oder der Geringschätzung des Schicksals, contemptio fortunae, und zwar als tolerantia rerum humanarum, Toleranz also gegenüber allen menschlichen Angelegenheiten. In ihrer Allgemeinheit ist diese Toleranz gegenüber allem, was menschlich ist, eine abgeklärte, fast objektlose, absolute Toleranz, und sie weist auf etwas hin, was wir im Alltagssprachlichen als stoische Ruhe bezeichnen.

Ich möchte hier noch ein weiteres Zitat von Cicero anfügen, das aus den ein Jahr später geschriebenen Tusculanae disputationes stammt und das diese Form der absoluten Toleranz des Weisen näher bestimmt, die sich scheinbar jeder Grammatik entzieht, als monolithischer hermetischer Block, als Tugend des Weisen. Hier kommt zwar nicht das Wort tolerantia vor, aber das verwandte tolerabilis, tolerierbar im Sinne von erträglich: “Quodsi est qui vim fortunae, qui omnia humana, quae cuique accidere possunt, tolerabilia ducat, ex quo nec timor eum nec angor attingat, idemque si nihil concupiscat, nulla ecferatur animi inani voluptate, quid est cur is non beatus sit? et si haec virtute efficiuntur, quid est cur virtus ipsa per se non efficiat beatos?”[1]: “Wenn es aber einen gibt, der die Macht des Schicksals, der alles Menschliche, was ihn treffen kann, erträgt und aushält, und den deshalb weder Furcht noch Beklemmung trifft, und wenn derselbe nichts begehrt, sich von keiner leeren Lust der Seele hinreißen lässt, was sollte der sein, wenn nicht glücklich? Und wenn dies durch die Tugend bewirkt wird, was könnte es geben, warum die Tugend selbst an sich nicht glücklich machen sollte?“[2]

In diesem Ausschnitt wird es vielleicht noch klarer: es dreht sich um das furchtlose Ertragen sowohl des Schicksals als auch alles Menschlichen. In der stoischen Philosophie Ciceros ist Toleranz also eine Tugend des in sich selbst ruhenden Weisen, durchaus ähnlich der Sorge um sich, wie Foucault das später nennen wird. Es gibt aber auch den signifikanten Unterschied zwischen Cicero und Foucault: Während Foucault vor allem eine Praxis der Sorge um sich entwickelt, die das Sich nicht als Subjekt, sondern als Subjektivierungsweise konzeptualisiert, also Bewegung impliziert sowohl in Bezug auf ein permanent sich veränderndes Selbstverhältnis, als auch in Bezug auf alle möglichen transversalen Austauschverhältnisse, bleibt das absolute Subjekt der Toleranz bei Cicero statisch, in sich ruhend, eine Tugend an sich. Während Foucault Subjektivierung als Prozess, das Selbst als Verhältnis versteht, erscheint diese Bewegung in der Philosophie Ciceros tendenziell still gelegt: Toleranz erscheint als absolute Tugend, die nicht irgendwen oder irgendwas toleriert, sondern buchstäblich darin liegt, alles zu erdulden.

Diese stoische Form der Toleranz als Wesenseigenschaft des Subjekts wird auch Grundlage für spätere emphatische Toleranzbegriffe, in denen Toleranz als Ausdruck wechselseitigen Respekts unter Menschen angerufen wird, die sich bei allen Unterschieden in relevanten Hinsichten als Gleiche achten. Aber auch über eine derart abstrakte Anrufung hinaus hat sich die Praxis der Toleranz vor allem als Prinzip, das aus der Notwendigkeit geboren ist, als praktische Lösung aus unerträglichen Sackgassen des ausufernden Konflikts, bewährt. Die Genealogie der Toleranz als eines positiven Begriffs führt von den verschiedenen vorneuzeitlichen, religiös konnotierten Toleranzbegründungen und den damit verbundenen Edikten über Spinoza, Locke, Mill, Rousseau, Voltaire, Lessing bis hin zu den vielfachen Anrufungen der Toleranz in heutiger Zeit. Die positive Konzeption von Toleranz kann also auf gute und theoretisch über lange Zeit entwickelte Gründe zurück greifen und auf eine ebensolche überzeugende historische wie aktuelle Praxis: Humanistisch-liberale Toleranzdiskurse und die aus ihnen hervorgehenden Aktionen, Lichterketten, Lichtermeere, antirassistische Demonstrationen, Manifestationen und Solidarisierungsformen haben sich immer wieder als griffige Sofortmaßnahmen gegen Rassismus und Antisemitismus und in den letzten Jahren auch gegen die immer erfolgreichere Ideologie vom „Kampf der Kulturen“ erwiesen.

 

Trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer evidenten Effekte setzen sich diesen affirmativen Toleranzdiskursen – mit ähnlich gutem Recht und fast seitdem der Begriff existiert – immer wieder Argumente entgegen, die Kritik an Phänomen und Begriff der Toleranz üben, indem sie auf die ihm inhärenten Verhältnissetzungen hinweisen: In der langen Geschichte der Toleranz entwickeln sich nämlich genau jene Verhältnissetzungen, die Toleranz gerade nicht als Selbstverhältnis oder als transversale Bewegung des wechselseitigen Austausches, sondern als hierarchische, vertikale Verhältnissetzung zu anderen beschreiben.

Damit wird in die ursprünglich neutral-absolute lateinische Wortbedeutung von tolerare und tolerantia die Transitivität, die Hierarchie von Tolerierenden und Tolerierten eingeschrieben, jene ungleiche Grammatik der Toleranz, die Politiken der Toleranz z.B. von Gleichheitspolitiken unterscheidet. Das Objekt der Toleranz wird gerade durch den Akt der Toleranz erst so konstruiert, als es sei es natürlich marginal, unterlegen, anders, außerhalb der Norm, außerhalb der Gesellschaft. Aus der Tugend des Weisen, aus einem Ausdruck von Menschlichkeit und Respekt, aus einer notdürftigen Praxis gegen schroffe Konflikte wird eine paternalistische Geste von Individuen, Gruppen oder staatlichen Institutionen und Autoritäten, die als unausweichliche Vorbedingung ein Gefälle zwischen Subjekt und Objekt der Toleranz einrichtet.

Seit der Antike wiederholt sich daher die Kritik der Toleranz bei so verschiedenen Geistern wie Symmachus, Hobbes, Kant, Goethe, Marx, Nietzsche, Thomas Mann – und das betrifft dann auch Themen, die im Lauf der Neuzeit über das klassische Terrain früherer Toleranztheorien, also die Religionsfreiheit hinausgehend, andere, politische Freiheiten in den Blickpunkt rücken. Schon die kirchliche Toleranz in der Renaissance erduldete nicht viel mehr als marginale Abweichungen innerhalb der kirchlichen Identität, schon die staatliche Praxis des aufgeklärten Absolutismus hegte mit der Gewährung von beschränkten Freiheiten z.B. für jüdische und protestantische Glaubensgemeinschaften diese gleichzeitig ein, machte sie mit dieser Form der beschränkten Inklusion zugleich unsichtbar. Die einen mussten zwar keine gelben Sterne mehr tragen, waren aber dennoch von den bürgerlichen Rechten weitestgehend ausgeschlossen, die anderen durften ihre Gotteshäuser nicht nach außen kenntlich machen. Und so ist auch in Bezug auf Toleranz als Gewährung politischer Freiheiten im 19. Jahrhundert ein ähnliches Verfahren zu konstatieren: Die Regierungstechnik der beschränkten Erlaubnis ging in hohem Ausmaß mit einer Praxis des Verbots einher.

Bei aller Prominenz der oben angeführten langen Reihe von Toleranzkritikern zitiere ich in diesem Zusammenhang einen etwas unbekannteren Autor, und zwar den individualanarchistischen „Junghegelianer“ Max Stirner, der 1844 in Der Einzige und sein Eigentum vor allem mit Bezug auf Fragen der Versammlungs- und Pressefreiheit schrieb: „Man spricht von der Toleranz, dem Freilassen der entgegengesetzten Richtungen und dergleichen, wodurch die zivilisierten Staaten sich auszeichnen. Allerdings sind einige stark genug, um selbst den ungebundensten Meetings zuzusehen, indes andere ihren Schergen auftragen, auf Tabakspfeifen Jagd zu machen. […] Die gerühmte Toleranz der Staaten ist eben nur ein Tolerieren des ‚Unschädlichen’, ist nur Erhebung über den Kleinlichkeitssinn, nur eine achtungswertere, großartigere, stolzere – Despotie.“[3]

Die Grammatik der Toleranz hat sich hier, im Deutschland des 19. Jahrhunderts, schon gefestigt: Aus einer Praxis, die die Härten der aufeinander treffenden identitären Fraktionen innerhalb und außerhalb des christlichen Glaubens abschwächen wollte, hat sich ein humanistisch-universalistischer Diskurs entwickelt, der „den Menschen“ als abstrakte Norm setzt: Diese Norm „des Menschen“ mit ihrem Außen des Unmenschlichen, Unzivilisierten, greift Max Stirner an, und das „Tolerieren des Unschädlichen“, eine Toleranz also in erträglichen Dosen, die durch die despotischen Praxen der Zensur und der politischen Verfolgung konterkariert wird – nicht nur im deutschen Vormärz, in dem diese Zeilen Stirners geschrieben sind. Das heißt, der staatliche Toleranzbegriff ist schon immer und erst recht im 19. Jahrhundert kein Begriff der Gleichheit, sondern ein Polizey-Begriff. Schon in den Zeugnissen des 18. und 19. Jahrhunderts wird klar, dass diese fürsorglich-verwaltende Polizey-Praxis mit ihrer Duldung und Erhabenheit „über die literarischen Kämpfe“[4] nur einen scheinbaren Gegensatz zur autoritären Bändigung der „Volksrottierungen, die den Staat ‚gefährden’“[5] erzeugt. Die Toleranz kultureller Abweichungen steht in einem komplementären Verhältnis zur radikalen Unterwerfung politischer Kämpfe, Polizey als totale Verwaltung der Bevölkerung geht nicht nur weit über den heutigen Begriff der Polizei, sondern auch über eine rein repressive Praxis hinaus.

Der Begriff der Repression führt mich direkt ins 20. Jahrhundert und zu Herbert Marcuses Kritik der „repressiven Toleranz“ aus dem Jahr 1965[6]: Marcuse sieht die Hauptfunktion der Toleranz für die liberale Demokratie – und dieser Aspekt wurde auch von den 1968 revoltierenden StudentInnen gern aufgenommen - in der zunehmenden Verschleierung von Exklusion und Ausbeutung sowie in einer Umkehrung der Toleranzforderung. Der politische Ort der Toleranz habe sich geändert, sagt Marcuse. Toleranz erschöpfe sich nur noch in einer Passivität gegenüber Herrrschaft. Zur Toleranz aufgefordert werden somit nicht mehr die Herrschenden, sondern umgekehrt die Minderheiten. Die Untergebenen mögen diejenigen tolerieren, die sie regieren, indem sie auf widerständige Praxen und Diskurse verzichten, passiv deren Herrschaft akzeptieren. Dieser Aspekt der Umkehrung der Toleranzforderung ist denn die heute auch noch fruchtbare Seite an der Theorie Marcuses: in Zeiten ausufernder Zero-Tolerance-Propaganda gegenüber Minderheiten von New York bis in die bayrische Provinz noch unerträglicher als in den 1960er Jahren. Problematisch wird Marcuses Theorie allerdings dort, wo er die Figur des autonomen, über einen freien Willen verfügenden und abwägenden Subjekts einführt als eine Bedingung, die einmal vorherrschte, jetzt aufgrund von Repression aber nicht mehr vorzufinden sei.[7] 

 

Gegen diese Hypothese einer derartigen Machtformation, die vor allem oder nur als Repression gegen ein ursprünglich als autonom gedachtes Subjekt verstanden werden kann, richten sich die Überlegungen Michel Foucaults. Foucaults Argument gegen die „Repressionshypothese“ beruht auf der Infragestellung von Repression als zentralem Moment für den Zusammenhalt von Gesellschaft und die Sicherung von Herrschaft. Ohne zu leugnen, dass es Repression gab und gibt, besteht Foucault darauf, die produktiven und kreativen Aspekte der Macht hervorzuheben. Komplexere Regierungsmechanismen funktionieren demnach nicht (nur) über den simplen Ausschluss, sondern – über Disziplin und Kontrolle hinaus – auch über eine Struktur der Gewährung und zugleich Begrenzung von Freiheiten.

Die Grammatik der Toleranz fungiert hier als Supplement der Repression, als Fortsetzung der Herrschaft mit anderen Mitteln. Toleranz stellt seit der Moderne einen Teil der Formation dar, die Foucault als Bio-Macht bezeichnet: jene Form der Macht, die Unterwerfung der Körper und Kontrolle der Bevölkerung nicht durch die Drohung mit dem Tod, sondern durch die Regulierung des Lebens zustande bringt.

Toleranz wird damit zu einer Praxis der Entscheidung darüber, was als nicht integrierbar und abnorm ausgeschlossen wird, aber vor allem darüber, was als marginal, also am Rand stehend, als von der Norm abweichend dennoch in die Norm inkludiert wird. Damit wird die Toleranz immer mehr zu einer unter mehreren Techniken der „ausschließenden Einschließung“. Die Grammatik einer nun nicht mehr nur humanistisch-liberalen, aber auch nicht mehr nur repressiv-disziplinierenden Toleranz ist hier weniger über Solidarität oder glatte Ausschlüsse als über den Mechanismen der Integration und Normierung zu verstehen. Die Biomacht als vielfältige, fürsorglich regierende und produktive Macht, die vor allem Normalitäten produziert, tut dies nicht notwendigerweise, indem sie das Marginale verfolgt und einsperrt, sondern dadurch, dass sie es zugleich duldet und als nicht gleichberechtigt integriert. Normalisierung wird hier genau in der Einverleibung und im ausschließenden Einschluss des Marginalen, Randständigen erzeugt.

Wenn die Toleranz im Setting der Biomacht eine bestimmte Norm zum Ausdruck bringt und befestigt, stellt sich all das, was toleriert wird, auch als ein Teil dessen dar, was diese Norm sichert und aufrechterhält. Das Objekt der Toleranz begründet erst die Natürlichkeit und die Autorität der Norm und derjenigen, die Toleranz üben. Toleranz manifestiert sich also bei aller Gewährung von Freiheiten vor allem in Regeln, Beschränkungen und Bedingungen, die festlegen, was die Toleranz Übenden ohne Gefährdung ihrer Autorität zulassen können. Zugleich verhüllt, verdeckt, verschleiert die Pose der Toleranz auf der Seite der Tolerierenden jene Autorität und Normativität, die ihr innewohnt. Toleranz organisiert nicht nur die Subjekte der Toleranz durch normative Marginalisierung, sie verbirgt auch den Prozess der Identifizierung von Differenzen und des einschließenden Ausschlusses. Toleranz ist zugleich Ausübung von Macht und ihre Verhüllung.

 

Die Grammatik der Toleranz errichtet also nicht nur ein Regime der Identifikation des Anderen und des Einschlusses, sondern erzeugt einen mehrfachen Mehrwert. Wie weit die tolerante „Regierung“ der Biomacht Kapital aus der Identifikation des Anderen und aus der Integration aller Formen von Differenz schlägt, lässt sich durch einen schnellen Sprung in die Gegenwart des neoliberalen Kapitalismus und seine Affirmation durch pseudowissenschaftliche Arbeiten erkennen: Ein besonders schönes zeitgemäßes Dokument dafür ist der für die offizielle Stadtentwicklungspolitik zahlreicher europäischer Städte relevant gewordene und von Richard Florida und Irene Tinagli eingeführte „Euro-Tolerance-Index“[8], ein skurriler Versuch, Toleranz zu quantifizieren anhand eines Vergleichs europäischer Länder. Vorteil entsteht hier nicht nur aus der Verhüllung der autoritären Position der Tolerierenden, sondern umgekehrt auch aus der Sichtbarkeit differenter – wenn auch nach wie vor ein-/ausgeschlossener – Positionen der Tolerierten. Schon in seinem Bestseller The Rise of the Creative Class hat Richard Florida die Beziehung von Kultur, Kreativität und wirtschaftlichem Wachstum „analysiert“ und „nachgewiesen“, dass Kreativität als Standortfaktor entscheidend zu ökonomischem Erfolg beiträgt. Genauer schreibt er: "The key to understanding the new economic geography of creativity and its effects on economic outcomes lies in what I call the 3T’s of economic development” - die 3 großen T’s also als wichtigste Faktoren der urbanen ökonomischen Entwicklung: “Technology, Talent and Tolerance”.[9]

Technologie und Talent wären ja - zwar auf völlig verschiedenen Ebenen – zwei halbwegs einsichtigerweise wirtschaftliche Faktoren, aber wie funktioniert die Toleranz in diesem Zusammenhang? „Tolerance… is critical for the ability of a region or nation to attract or mobilize creative talent.”[10] Toleranz gegenüber Schwulen, „Bohemians”, MigrantInnen und Frauen wird von den AutorInnen der Studie Europe in the Creative Age als Ausschlag gebender Faktor für Standortpolitik und Wirtschaftswachstum propagiert und daher Regionen und Städten als Wettbewerbsvorteil angepriesen. Nicht dass die angeführten, als Minderheiten identifizierten Gruppen durch ihre Teilnahme am Produktionsprozess zum Wirtschaftswachstum beitragen würden, ihre pure „Präsenz“ führt als vorproduktive Funktion der Toleranz zur Förderung des „Ökosystems der Kreativität“. „The point here is not that immigrants, gays or bohemians literally ‘cause’ economic growth. Rather, their presence in large numbers is an indicator of an underlying culture that’s open and conducive to creativity.”[11]

Was ist aus solch hohler neoliberaler Propagandalyrik zu lernen, wenn wir die Ergebnisse der Studie für einen Moment ernst nehmen? Einerseits dass die Grammatik der Toleranz als Regierungstechnik nicht nur im herkömmlich politischen Bereich relevant ist, sondern auch als Steuerung von ökonomischen Ressourcen fungiert. Andererseits zeigt dieses Beispiel noch einmal, wie die Grammatik der Toleranz festgeschriebene Identitäten voraussetzt und zugleich real erzeugt. Man muss nicht gleich so weit gehen, um Toleranz im „liberalen Multikulturalismus“ wie Slavoj Zizek in seinem Plädoyer für die Intoleranz als eine „verleugnete und verkehrte Form des Rassismus“ zu verstehen.[12] Aber: Wie die Forderung nach Toleranz gegenüber Anderen, die als „verschieden“ festgestellt werden, die totalisierenden Merkmale dieser Subjekt- und Identitätsformierung verstärkt, so naturalisiert und übertreibt auch die ökonomisch positive Affirmation multikulturalistischer Diskurse die Andersheit der Tolerierten, um sie verwerten zu können.

 

Ich komme zum Schluss noch einmal auf meine anfänglichen Ausführungen über die Grammatik zurück: Grammatik, habe ich gesagt, ist ein Gefüge zwischen den eingeschriebenen, eingeritzten Spuren der Schrift und der Sprache, das Verhältnis dieser Spuren untereinander. Bei der Formierung dieses Gefüges werden nicht nur Subjekt und Objekt, in unserem Fall die Subjekte und Objekte der Toleranz festgestellt, identifiziert, stratifiziert, sondern auch und vor allem jene Bewegung der Bedeutung angestoßen, die durch das Prädikat erzeugt wird. Dabei ist es notwendig und möglich, die Grammatik nicht als bloße Praxis der Feststellung der Positionen von Tolerierenden und Tolerierten zu verstehen, sondern sie über identitäre Zuschreibungen und Fixierungen der Hierarchie hinaus zu denken.

Michel Foucault spricht in seinem Text „Theatrum Philosophicum“[13] von der Notwendigkeit einer anders gebauten Grammatik, einer Grammatik des Ereignisses, einer Grammatik, die sich nicht am Prädikatsnomen fest macht, sondern am Verb in seiner infinitiven, präsentischen Form. Infinitiv, Präsens, Werden. Auf die Bewegtheit des Verbs kommt es hier an, auf ein Werden, das andere Namen als mit Immanuel Kant jenen „hochmütigen Namen der Toleranz“[14] annehmen kann: Und es geht hier mehr als um einen Namen, der an die Stelle der Toleranz gesetzt wird, es geht vor allem um Praxen, die nicht darin bestehen, Identitäten festzulegen, politische, soziale und ökonomische Ungleichheiten in absolute Differenzen zu verwandeln und als solche zu verwerten. Was am Spiel steht, nicht zuletzt auch in den künstlerischen Projekten der „Gefährlichen Kreuzungen“, ist, wie schon der Titel sagt, eine Praxis der gefährlichen und offensiven Widerrede, in der symmetrische Formen der Kooperation und Allianzen der Gleichheit gedacht, möglich und gemacht werden.



[1] Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tuskulum, lateinisch-deutsch, München: dtv 1984, 5, 17, 370/372

[2] Übers. G.R.

[3] Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig: Zenith 1927, 199f.

[4] Ebd., 200

[5] Ebd.

[6] Herbert Marcuse, „Repressive Toleranz“, in: Robert P. Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, FfM: Suhrkamp 1966, 91-129

[7] Vgl. dazu und auch für die folgende Foucault-Interpretation: Wendy Brown, „Reflexionen über Toleranz im Zeitalter der Identität“, in: Rainer Forst (Hg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, FfM: Campus 2000, 257-281, hier vor allem 258

[8] Richard Florida and Irene Tinagli, Europe in the Creative Age, February 2004, http://www.creativeclass.org/acrobat/Europe_in_the_Creative_Age_2004.pdf

[9] Richard Florida, The Rise of the Creative Class, New York: Basis Books 2002, 249

[10] Richard Florida and Irene Tinagli, Europe in the Creative Age, 25

[11] Ebd.

[12] Slavoj Zizek, Ein Plädoyer für die Intoleranz, Wien: Passagen 1998

[13] Michel Foucault, „Theatrum Philosophicum“, in: Gilles Deleuze und Michel Foucault, Der Faden ist gerissen, Berlin: Merve 1977, 21-58, hier 31

[14] Immanuel Kant, “Was ist Aufklärung?”, in: Kants gesammelte Schriften VIII, Berlin: de Gruyter 1968, 40