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09 2008
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nicht alles tun. Reader zum zivilen und sozialen Ungehorsam

Martin Büsser

Martin Büsser

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Die Herausgeber haben sich viel vorgenommen: »nicht alles tun« bietet nicht nur einen historischen Überblick über die Theorie und Praxis des zivilen Ungehorsams, sondern möchte diesen auch wieder an Strategien der bildenden Kunst rückbinden. Das ist ungewöhnlich, denn innerhalb der Linken überwiegt entweder die ursprünglich bildungsbürgerliche Vorstellung von der Kunstautonomie, die ihre Freiheit einbüßt, sobald Kunst sich politisch engagiert, oder aber die Vorstellung, dass jede Art von künstlerischem Protest gesellschaftlich wirkungslos aufs Feld der Kunst beschränkt bleibt. Dem gegenüber plädiert der Politikwissenschaftler John Holloway in seinem Beitrag »Über Poesie und Revolution« dafür, sich die Revolution künstlerisch vorzustellen: Revolution kann nicht einfach nur auf Gewalt mit Gewalt, auf Hässliches mit Hässlichem reagieren und die Frage nach einer ihr dienlichen Kunst vertagen. Auch wenn es beinahe vermessen ist, angesichts gegebener politischer Verhältnisse von Revolution zu sprechen, schneidet Holloway einen wichtigen Themenkomplex an. Kunst nämlich stellt innerhalb der Linken meist einen blinden Fleck dar oder erschöpft sich in Agit Prop und Revolutionsromantik. Würde die Revolution allerdings tatsächlich eintreten und der Kapitalismus abgeschafft werden, wäre auch agitatorische Kunst überflüssig geworden. Und was käme danach? Der Frage nach einer angemessenen Materialästhetik, die Adorno einmal gestellt und für sich sehr rigoros beantwortet hat, taucht bei Holloway nicht auf. Sehr wohl aber warnt er davor, sich eine Revolution ohne Poesie vorzustellen. Mit Verweis auf Marx’ Unterscheidung zwischen »abstrakter« und »konkreter oder nützlicher Arbeit« stellt künstlerische Arbeit für Holloway bereits jetzt einen Weg zur Selbstbestimmung dar. Sie verweist auf eine »auf dem Gebrauchswert und nicht dem Tauschwert basierenden Welt«. Damit verstrickt er sich allerdings gleich mehrfach in Widersprüche. Zum einen ist künstlerische Selbstbestimmung im Kapitalismus nur gewährleistet, solange dafür ein Markt existiert. Zum anderen gilt noch immer, was Wolfgang Seidel, ehemals Musiker der linken Band Ton Steine Scherben, dem Sonderweg der Kunst im Kapitalismus konstatierte: »Es sind zwei Paar Schuhe, ob ich auf der Theaterbühne zum Generalstreik aufrufe oder vor dem Werktor. Das eine ist Kunst und bekommt Applaus, das andere ist Politik und rührt an den Grundlagen unserer Gesellschaft.«

Einige der in »nicht alles tun« dokumentierten Arbeiten von bildenden Künstlern machen allerdings deutlich, dass es durchaus möglich ist, an einer Schnittstelle aus real betriebenen zivilen Ungehorsam und künstlerischer Intervention zu arbeiten. Wenn zum Beispiel der spanische Künstler fran meana auf Stöcke montierte Miniaturlandschaften vor Überwachungskameras hält und diese Aktionen später im Museum dokumentiert, betreibt er sowohl Agitation wie Aufklärung. Zum einen ›stören‹ seine Arbeiten, da sie die Überwachung temporär außer Kraft setzen, zum anderen schafft die Dokumentation im Museum ein Bewusstsein über die Allgegenwart der Überwachung.

Doch nicht nur die intensive Auseinandersetzung mit bildender Kunst im Kontext von zivilem Ungehorsam macht »nicht alles tun« zu einer außergewöhnlichen Publikation. Die Beschäftigung mit zivilem Ungehorsam selbst ist heute zu einer Seltenheit geworden. In ihrer Einleitung erklären die Herausgeber, dass die Debatte zumindest im deutschsprachigen Raum nach dem Fall der Berliner Mauer nahezu zum erliegen gekommen ist. Vorm Hintergrund der globalisierungskritischen Bewegungen in den so genannten Schwellenländern und neuen Aktionsbündnissen im Rahmen des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007, stößt das Thema jedoch auch in Deutschland wieder auf verstärktes Interesse. Es ist allerdings zu befürchten, dass viel historisches Wissen um die Geschichte und Entwicklung des zivilen Ungehorsams verloren gegangen ist. Deshalb ist »nicht alles tun« historisch angelegt, beginnt mit Thoreaus Schrift »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« und verfolgt die Entwicklung von Gandhis antikolonialem Widerstand in Indien über die britische Sitzblockade »Operation Gandhi« gegen die Stationierung atomarer Waffen Anfang der 1950er Jahre bis zu den Protesten der Neuen Sozialen Bewegungen von den 1960er und 1970er Jahren. Lou Marin weist in seinem historischen Überblick auf einen interessanten Aspekt hin, der für Deutschland spezifisch sein mag, und doch zugleich einen der typischen demokratischen Aneignungs-Effekte darstellt: Anfang der 1980er Jahre versuchten einige Politiker der SPD, Aktionskonzepte wie den zivilen Ungehorsam »staatlich zu vereinnahmen und mit dem Rechtsstaat zu versöhnen«. Ziviler Ungehorsam wurde zur demokratischen Bürgerpflicht umgedeutet, allerdings um den Preis, allen illegalen Aktionen die Legitimation abzusprechen. Wenn sich ziviler Ungehorsam jedoch auf einen kritischen Leserbrief oder auf eine Unterschriftensammlung beschränkt, die beim Adressaten sowieso sofort im Reißwolf endet oder zur Datenerfassung ans BKA weitergeleitet wird, werden sowohl Widerstand wie auch Demokratie zur Farce. Der Zaun, mit dem in Heiligendamm Politiker großflächig von allen Protesten abgeschirmt wurden, machte allerdings deutlich, dass die Angst vor zivilem Ungehorsam und seinen Folgen nicht nachgelassen hat, sondern geradezu panisch geworden ist.