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Vor hundert Jahren veröffentlichte Filippo
Tommaso Marinetti auf der ersten Seite von Le Figaro jenes Manifest, welches im
ästhetischen Bewusstsein der Welt das Jahrhundert des Glaubens an die Zukunft
eröffnete. Mit dem Manifest von 1909 begann der rasche Prozess des
Maschine-Werdens des kollektiven menschlichen Organismus. Dieses
Maschine-Werden ist mit den Verkettungen des globalen Netzes zu seinem
Abschluss gekommen, es schlägt heute um, nach dem Kollaps des Finanzsystems,
das auf der Futurisierung der Ökonomie, auf den Schulden und auf dem
ökonomischen Versprechen aufbaute. Jenes Versprechen ist vorbei. Es beginnt die
Epoche, die auf die Zukunft folgt.
MANIFEST DES POST-FUTURISMUS
- Wir wollen singen von einer gefährlichen Liebe, von der täglichen
Erschaffung einer süßen Energie, die sich nie verliert.
- Die Ironie, die Sanftheit und die Rebellion werden Grundelemente
unsrer Poesie sein.
- Bis heute haben Ideologie und Werbung die andauernde Mobilisierung
der produktiven und nervösen Energien der Menschheit in Richtung Profit
und Krieg gepriesen. Wir wollen die Sanftheit, den Schlaf und die Ekstase preisen,
die Schlichtheit der Bedürfnisse und die Lust der Sinne.
- Wir erklären, dass der Glanz der Welt durch eine neue Schönheit
bereichert wurde: die Schönheit der Autonomie. Jeder Mensch hat seinen
eigenen Rhythmus, und niemand darf genötigt werden, sich in gleichförmiger
Geschwindigkeit fortzubewegen. Autos haben den Reiz der Seltenheit
verloren und können vor allem nicht länger die Aufgabe erfüllen, für die
sie vorgesehen waren. Die Geschwindigkeit ist langsam geworden. Autos sind
unbeweglich wie dumme Schildkröten im Stadtverkehr. Nur die Langsamkeit
ist schnell.
- Wir wollen die Menschen besingen, die einander umarmen, um
einander besser zu verstehen, um die Welt besser zu verstehen.
- Die DichterIn muss sich mit verschwenderischem Feuer darauf
verlegen, die Macht der kollektiven Intelligenz zu vermehren und die Zeit
der abhängigen Arbeit zu verringern.
- Schönheit existiert nur in Autonomie. Ein Werk, das die
Intelligenz des Möglichen nicht auszudrücken vermag, kann kein Meisterwerk
sein. Poesie ist eine Brücke über den Abgrund des Nichts, die es erlaubt,
unterschiedliche Vorstellungen zu teilen und die Singularitäten zu
befreien.
- Wir sind am äußersten Kap der Jahrhunderte. Wir müssen unbedingt
zurückschauen, um den Abgrund der Gewalt und des Horrors zu erinnern, die
durch militärische Aggressivität und nationalistische Ignoranz jeden
Moment heraufbeschworen werden können. Wir haben zu lange in der Religion
der gleichförmigen Zeit gelebt. Doch wir haben die ewige, allgegenwärtige
Geschwindigkeit hinter uns gelassen, im Internet, also können wir sie nun
vergessen, um unseren singulären Rhythmus zu finden.
- Wir wollen uns lustig machen über die Idioten, die den Diskurs des
Krieges verbreiten: die Fanatiker des Wettbewerbs, die Fanatiker des
bärtigen Gotts, der zum Massaker aufhetzt, die Fanatiker, die die
entwaffnende Queerness fürchten, die in uns allen gedeiht.
- Wir wollen aus der Kunst eine lebensverändernde Kraft machen, wir
wollen die Trennung von Poesie und Massenkommunikation abschaffen, wir
wollen die Herrschaft über die Medien von den Managern zurückfordern und
sie den Weisen und den Poeten übergeben.
- Wir werden singen von den Scharen, die sich schließlich befreien
werden von der Sklaverei der abhängigen Arbeit, wir werden singen von der
Solidarität und der Revolte gegen die Ausbeutung. Wir werden singen vom
unendlichen Netz des Wissens und der Erfindungskraft, der immateriellen
Technologie, die uns von körperlicher Mühsal befreit. Wir werden singen vom
rebellischen Kognitariat, das mit seinem Körper in Austausch steht. Wir
werden singen von der Unendlichkeit der Gegenwart, in der wir keine Zukunft
mehr brauchen.
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