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03 2011
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Tunesien, Ägypten: Wenn ein Ostwind die westliche Arroganz hinwegfegt

Birgit Mennel

Alain Badiou

Birgit Mennel (translation)

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Der Wind aus dem Osten triumphiert über den Wind aus dem Westen. Wie lange noch wird der untätige und vor sich hindämmernde Westen – die „internationale Gemeinschaft“ derer, die immer noch glauben, sie seien die Herren der Welt – damit fortfahren, der ganzen Welt Lektionen in gutem Management und guter Führung zu erteilen? Ist es nicht lachhaft, zu sehen, wie sich einige dienstfertige Intellektuelle, Soldaten im Dienst des Kapital-Parlamentarismus, der uns ein heruntergekommenes Paradies ersetzt, den großartigen tunesischen und ägyptischen Bevölkerungen andienen, um diesen wilden Völkern das Einmaleins der „Demokratie“ beizubringen? Welch traurige Beharrlichkeit kolonialer Arroganz! Ist in der durch politisches Elend geprägten Situation, in der wir uns seit drei Jahrzehnten befinden, nicht klar geworden, dass wir es sind, die von den augenblicklichen populären Erhebungen lernen müssen? Müssen wir nicht in aller Dringlichkeit und ganz genau all das studieren, was da den durch kollektives Handeln bewirkten Sturz von oligarchischen und korrupten Regierungen möglich gemacht hat, die sich überdies – und vielleicht vor allem – in ihrem Verhältnis zu den westlichen Staaten in der Situation erniedrigter Vasallen befanden

Ja, wir müssen von diesen Bewegungen lernen und endlich damit aufhören, sie blödsinnig zu belehren. Denn mit dem Genie, das ihren Inventionen eigen ist, erwecken sie einige Prinzipien der Politik zum Leben, von denen man uns schon seit langem zu erzählen versucht, sie seien obsolet. Insbesondere jenes Prinzip, das Jean Paul Marat unaufhörlich in Erinnerung gerufen hat: Wenn es um Freiheit, Gleichheit und Emanzipation geht, so verdanken wir den Volksaufständen alles.

Es gibt Grund zur Revolte. So wie unsere Staaten und jene, die sich ihrer bemächtigen (Parteien, Gewerkschaften und obrigkeitshörige Intellektuelle), der Verwaltung gegenüber der Politik den Vorzug geben, so bevorzugen sie auch die Forderung gegenüber der Revolte und den „geordneten Übergang“ gegenüber jeglichem Bruch. Das ägyptische und das tunesische Volk erinnern uns daran, dass die Massenerhebung das einzige Handeln ist, das dem geteilten Gefühl einer skandalösen Okkupation der Staatsmacht angemessen ist. Und dass in diesem Falle nur eine einzige Losung die disparaten Elemente der Menge zusammenzuhalten vermag, nämlich: „Du, der du da bist – hau ab!“ Die außerordentliche Bedeutung der Revolte – ihre kritische Kraft – ist in diesem Fall, dass die von Millionen Menschen wiederholte Losung das Maß dafür vorgibt, was ohne Zweifel und irreversibel der erste Sieg sein wird: die Flucht dessen, der damit gemeint ist. Was auch immer in der Folge geschehen mag, dieser durch das Handeln der Bevölkerung erzielte und wesensmäßig illegale Triumph wird für immer siegreich gewesen sein.

Dass jedoch eine Revolte gegen die Staatsmacht absolut erfolgreich sein kann, ist eine Lehre von universeller Tragweite. Ein solcher Sieg verweist stets auf den Horizont, von dem sich jedes kollektive Handeln, das sich der Autorität des Gesetzes entzieht, abhebt; er verweist auf das, was Marx „das Absterben des Staates“ genannt hat. Er deutet also darauf hin, dass die in der Entfaltung ihrer schöpferischen Kraft frei assoziierten Menschen eines Tages ohne den finsteren Staatszwang auskommen werden. Und genau aus diesem Grund, wegen dieser äußersten Idee, setzt eine Revolte, die eine etablierte Autorität zu Fall bringt, in der ganzen Welt einen grenzenlosen Enthusiasmus frei.

Ein einziger Funke kann einen Flächenbrand auslösen. Alles beginnt mit der Selbstverbrennung eines in die Arbeitslosigkeit gedrängten Mannes, dem man das armselige Geschäft verbieten will, das ihm sein Überleben sichert und den eine Polizistin ohrfeigt, um ihm die Realitäten dieser Welt verständlich zu machen. Diese Geste breitet sich in wenigen Tage und Wochen aus, bis Millionen von Menschen ihrer Freude auf einem weit entfernten Platz und anlässlich des überstürzten Abgangs mächtiger Potentaten lautstark Ausdruck verleihen. Woher kommt diese sagenhafte Ausweitung? Handelt es sich um eine epidemische Verbreitung der Freiheit? Nein! In den poetischen Worten von Jean-Marie Gleize: „Eine revolutionäre Bewegung verbreitet sich nicht durch Ansteckung, sondern durch Resonanzen. Irgendetwas, das sich hier konstituiert, unterhält Resonanzen mit einer Schockwelle, die durch etwas ausgesendet wurde, was sich dort drüben konstituiert hat.“ Diese Resonanz können wir „Ereignis“ nennen. Das Ereignis ist die unvermittelte Erschaffung von etwas, das nicht eine neue Wirklichkeit, sondern eine Myriade neuer Möglichkeiten ist.

Keine dieser Möglichkeiten ist die Wiederholung von etwas bereits Bekanntem. Darum ist es auch obskurantistisch, wenn behauptet wird, dass „diese Bewegung nach Demokratie verlangt“ (was unterschwellig jene Demokratie meint, deren wir uns im Westen erfreuen) oder dass „diese Bewegung eine soziale Verbesserung fordert“ (womit unterschwellig der durchschnittliche Wohlstand der KleinbürgerInnen bei uns gemeint ist). Im Ausgang von beinahe nichts und überall seinen Widerhall findend schafft der Volksaufstand für die ganze Welt bisher unbekannte Möglichkeiten. Praktisch niemand spricht in Ägypten von „Demokratie“. Man spricht vom „neuen Ägypten“, vom „wahren ägyptischen Volk“, von verfassunggebender Versammlung, von vollständiger Veränderung der Existenz, von noch nie dagewesenen und vormals unbekannten Möglichkeiten. Es geht um eine neue Ebene, die an die Stelle derjenigen treten wird, welche vom Funken des Aufstands endlich in Brand gesetzt wurde. Sie – diese Ebene im Kommen – schiebt sich zwischen die eine Erklärung, dass die Kräfteverhältnisse umgewälzt, und die andere Erklärung, dass neue Aufgaben in Angriff genommen werden. Sie hat ihren Ort zwischen der Erklärung eines jungen Tunesiers: „Wir Arbeiter- und Bauernkinder sind stärker als die Kriminellen“, und der eines jungen Ägypters: „Von heute an, dem 25. Jänner, nehme ich die Angelegenheiten meines Landes in die Hand.

Das Volk, und nur das Volk, ist Träger der Weltgeschichte. Es ist sehr verwunderlich, unsere westlichen Regierungen und Medien davon ausgehen zu sehen, dass die Revolten, die auf einem Platz in Kairo stattfinden, das „ägyptische Volk“ sind. Wie das? Wird das Volk, das einzig vernünftige und rechtmäßige Volk, für diese Leute normalerweise nicht auf Mehrheiten bei Meinungsumfragen oder Wahlen reduziert? Wie kommt es, dass plötzlich Hunderttausende von Revoltierenden zu den RepräsentantInnen eines Volks von Millionen Menschen werden? Das ist eine Lektion, die wir nicht vergessen sollten und niemals vergessen werden.

Ist eine bestimmte Grenze der Entschlossenheit, des Ausharrens und des Mutes erst einmal überschritten, dann kann das Volk nämlich seine Existenz auf einem Platz, einer Straße, in einigen Fabriken, in einer Universität etc. konzentrieren. Die gesamte Welt wird zum Zeugen dieses Muts und vor allem der verblüffenden Schöpfungen, die sich damit verbinden. Diese Schöpfungen werden zum Beweis dafür, dass sich da ein Volk versammelt. Ein ägyptischer Demonstrant brachte dies deutlich zum Ausdruck: „Vorher habe ich ferngesehen. Jetzt sieht das Fernsehen mich an.

Problemlösungen ohne staatliche Hilfe

Im Gefolge eines Ereignisses setzt sich das Volk aus denen zusammen, die die durch das Ereignis aufgeworfenen Probleme zu lösen verstehen. So auch bei der Besetzung eines Platzes: Nahrung, Übernachtung, Wache, Transparente, Gebete, Verteidigungskämpfe werden so organisiert, dass der Ort, an dem das alles passiert, der Ort, der zum Symbol wird, für das Volk um jeden Preis gehalten werden kann. Probleme, die – gemessen an den Hunderttausenden von überall hergekommenen Menschen – unlösbar erscheinen, und zwar umso mehr, als auf diesem Platz der Staat verschwunden ist. Ohne die Hilfe des Staates unlösbare Probleme zu lösen, das ist die Bestimmung eines Ereignisses. Und es ist das, was ein Volk plötzlich und für eine ungewisse Zeit in die Existenz ruft, und zwar dort, wo es sich zu versammeln beschlossen hat.

Ohne kommunistische Bewegung gibt es keinen Kommunismus. Der Volksaufstand, von dem wir sprechen, vollzieht sich ganz offenkundig ohne Partei, ohne hegemoniale Organisation und ohne anerkannten Anführer. Es wird immer noch Zeit sein, auszuloten, ob dies eine Stärke oder eine Schwäche ist. In jedem Fall weist diese Bewegung in einer sehr reinen Form – wohl der reinsten seit der Pariser Kommune – alle Züge dessen auf, was man einen Kommunismus der Bewegung nennen muss. „Kommunismus“ bedeutet hier: gemeinsame Erschaffung des kollektiven Schicksals. Dieses „Gemeinsame“ hat zwei besondere Züge: Zunächst ist es generisch, indem es an einem Ort die Menschheit in ihrer Gesamtheit repräsentiert. An diesem Ort gibt es alle Arten von Menschen, aus denen sich ein Volk zusammensetzt; jede Stimme bekommt Gehör, jeder Vorschlag wird untersucht, jede Schwierigkeit wird als das behandelt, was sie ist. Weiters meistert es alle großen Widersprüche, von denen der Staat behauptet, er allein könne mit ihnen umgehen, ohne dass er jemals über sie hinwegkäme: Widersprüche zwischen Intellektuellen und HandarbeiterInnen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Armen und Reichen, zwischen MuslimInnen und KoptInnen, zwischen Menschen vom Land und Menschen aus der Stadt etc.

Ständig tauchen tausende neue Möglichkeiten hinsichtlich dieser Widersprüche auf, für die der Staat – jeder Staat – vollständig blind ist. Man sieht junge, aus der Provinz zur Versorgung der Verwundeten angereiste Ärztinnen inmitten aufgebrachter junger Männer schlafen; und sie sind ruhiger, als sie es jemals waren, weil sie wissen, dass ihnen niemand auch nur ein Haar krümmen wird. Man sieht auch eine Organisation von IngenieurInnen, die sich an die jungen Leute aus den Vorstädten wenden mit der Bitte, den Platz zu halten und mit ihrer Energie die Bewegung im Kampf zu schützen. Man sieht weiters eine Reihe von ChristInnen, die nachts auf den Beinen sind, um über die zum Gebet gebeugten MuslimInnen zu wachen. Man sieht Kaufleute den Arbeitslosen und Armen Nahrung geben. Man sieht, wie alle mit ihren NachbarInnen plaudern, die sie nicht kennen. Man liest tausende Spruchbänder, auf denen sich das Leben einer jeden bruchlos mit der großen Geschichte aller vermengt. Die Menge dieser Situationen und Erfindungen konstituiert den Kommunismus der Bewegung. Seit nunmehr zwei Jahrhunderten ist das einzige politische Problem genau dieses: Wie können die Erfindungen eines Kommunismus der Bewegung auf Dauer gestellt werden? Und die einzige reaktionäre Äußerung bleibt die folgende: „Das ist unmöglich, ja sogar schädlich. Vertrauen wir auf den Staat.“ Ein Hoch auf das tunesische und ägyptische Volk, das uns unsere wahre und alleinige politische Pflicht in Erinnerung ruft: die organisierte Treue zum Kommunismus der Bewegung im Gegenüber des Staates.

Wir wollen keinen Krieg, aber wir haben vor ihm auch keine Angst. Allerorts sprach man von der pazifistischen Ruhe der gigantischen Demonstrationen; diese Ruhe wurde in Zusammenhang gebracht mit dem Ideal der Wahldemokratie, das man der Bewegung unterstellte. Halten wir demgegenüber fest, dass es hunderte von Toten gab und immer noch jeden Tag gibt. Diese Toten waren zumeist MitstreiterInnen und MärtyrerInnen der Initiative, die sich dann dem Schutz der Bewegung widmeten. Die politischen und symbolischen Orte des Aufstands mussten um den Preis heftiger Kämpfe gegen die Milizen und die Polizei der bedrohten Regime gehalten werden. Und wer hat da mit dem Leben bezahlt, wenn nicht die jungen Leute aus den ärmsten Bevölkerungsschichten? Hoffen wir, dass sich die „Mittelklassen“, von denen der demokratische Erfolg der laufenden Geschehnisse einzig und allein abhänge, wie uns unsere unverhoffte Michèle Alliot-Marie mitteilte, daran erinnern, dass die Fortdauer des Aufstands im entscheidenden Moment nur durch das bedingungslose Engagement von Spezialeinheiten aus den gewöhnlichen Vierteln gewährleistet wurde. Die defensive Gewalt ist unvermeidlich. Diese findet im Übrigen in Tunesien unter schwierigen Bedingungen ihre Fortsetzung, nachdem die jungen AktivistInnen aus der Provinz wieder in ihr Elend zurückgeschickt wurden.

Kann man ernsthaft daran glauben, dass es das grundlegende Ziel dieser unzähligen Initiativen und grausamen Opfer war, den Menschen eine „Wahl“ zwischen Souleiman und El Baradei zu ermöglichen, so wie man sich bei uns mit der Entscheidung zwischen den Herren Sarkozy und Strauss-Kahn abfindet? Das soll die einzige Lektion dieser wunderbaren Episode sein?

Nein, tausend Mal nein! Das tunesische und ägyptische Volk sagt uns: Sich erheben, den öffentlichen Ort des Kommunismus der Bewegung konstruieren, diesen Ort mit allen Mitteln verteidigen, indem sukzessive Handlungsschritte erfunden werden – all das ist die Wirklichkeit einer populären Emanzipationspolitik. Es sind ganz sicher nicht nur die Staaten der arabischen Länder, die sich anti-populär verhalten und die im Grunde illegitim sind, ob mit Wahlen oder ohne. Was auch immer die Zukunft bringen wird, die Aufstände des tunesischen und ägyptischen Volks sind von universeller Bedeutung. Sie geben neue Möglichkeiten von internationalem Wert vor.