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04 2011
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Wie konnten sie das nicht vorhersehen?

Übersetzt von Birgit Mennel

Isabelle Stengers

Birgit Mennel (translation)

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Wir haben davon gehört, es wurden Anstrengungen gemacht zur Organisation eines Audits über die Sicherheit von Kernkraftwerken in Europa. Diese Nachricht macht glücklich, wenn sie auch ein wenig überraschend anmutet – es wurde so oft wiederholt, wir wären sicher! Fukushima kann nicht wie Tschernobyl mit einer rückständigen Gesellschaft in Zusammenhang gebracht werden. Und auch nicht mit einem Zusammentreffen unvorhersehbarerer Ereignisse: Tsunami ist ein japanisches Wort. Die Frage, die sich sowohl angesichts des Finanzcrashs 2007 sowie der Ölpest, die Mexiko BP zu verdanken hat, stellt, lautet: „Wie konnten sie das nicht vorhersehen?“

Katastrophen großen Ausmaßes sind nichts Neues, aber in den kommenden Jahren werden sich wohl die Katastrophen häufen, die Fragen dieser Art hervorrufen. Und jedes Mal schwört man einer beunruhigten Öffentlichkeit, dass man die Lektion gelernt habe. So erklärte auch Walter Lippmann mit jenem zynischem Scharfblick, der „denen, die wissen“ eigen ist, während sich das „Phantom Öffentlichkeit“ voller Unruhe materialisiert und verlangt, dass Rechenschaft abgelegt werde, es sei Sache der Herrschenden beruhigende Zeichen auszusenden – die Frage wurde gehört und behandelt, im vorliegenden Fall werde man ein Audit durchführen –, damit die Öffentlichkeit die von ihr angestrebte Ruhe wiederfinden könne.

Die Perspektive, die unsere Herrschenden indes heute in Angst und Schrecken versetzten könnte, ist, dass das Vertrauenskapital versiegen könnte, über das sie verfügen und von dem sie diesbezüglich Gebrauch machen. Und dies umso mehr als die Distanz zwischen ihnen selbst und der Öffentlich nicht so groß ist, denn auch sie stellen sich die Frage: „Wie konnten sie das nicht vorhersehen?“, allerdings mit dem Unterschied, dass sie wissen, dass man die Zähne zusammenbeißen und den Kurs halten muss. Und das wissen sie umso besser, als sie den PrivatunternehmerInnen die zur Änderung des Kurses notwendigen Mittel abgetreten haben. Der einzige Kompass, der die Zukunft jetzt noch bestimmt, ist die Aufrechterhaltung bzw. Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, die es ermöglicht, zu jener Gruppe von Ländern zu gehören, die gewinnen (Pech für die anderen Länder; dass es dort VerlierInnen gibt, ist Teil des Kurses). Die Herrschenden sind also gezwungen, sich auf jene zu verlassen, die gar kein Interesse daran haben, sich dieses Vertrauens würdig zu erweisen.

Aus diesem Gesichtspunkt unterschätzt man manchmal, was die Entfesselung der kapitalistischen Logik, die Neoliberalismus genannt wird, bedeutet. Die neue Ausgangssituation, die neue Konfiguration dessen, was die Staaten das Private machen lassen, und was dieses mit dem Staat macht (Deregulierung, Auferlegung von Rechten an geistigem Eigentum, sogenannte aktive Beschäftigungspolitik etc.), verlangt von unseren Verantwortlichen die Akzeptanz von Losungsworten, mit denen eine Art heroischer Anästhesie verbunden ist: Sie haben den Mut zu machen, was gemacht werden muss.

Nunmehr wird jedeR dem Imperativ unterworfen, nicht zu denken, und zwar einschließlich derer, die in der Industrie arbeiten und gezwungen sind, das zu machen, von dem sie wissen, dass es schlechte und für die Konsequenzen blinde Arbeit ist, die lediglich der Befriedigung von AktionärInnen dient, für die das einzig gute Signal die Verringerung der Produktionskosten ist – Tepco wusste, so habe ich gelesen, wie solche Kosten „zur Sicherung des Profits“ zu „rationalisieren“ sind. Was die ExpertInnen betrifft, wehe ihnen, wenn sie ihre Beunruhigungen dazu verleiteten, den AlarmistInnen Recht zu geben: Sie sollen Verrat an der ihnen zugewiesene Rolle geübt haben, die darin besteht, auf konstruktive Weise an der Mobilisierung zugunsten der Innovation, und damit am Fortschritt, mitzuwirken.

Bohrung in tiefen Gewässern, Finanzspekulation, Kernkraftwerke, in all diesen Fällen hätte die Erstbeste sagen können, dass mit dem Feuer gespielt wird, dass es darum geht, Vorsicht walten zu lassen. Aber Vorsicht walten zu lassen verlangt nach dem Gegenteil von Anästhesie: nach dem Mut der Vorstellungskraft, nach der Fähigkeit das unwahrscheinliche Mögliche ins Auge zu fassen. In der Welt, so wie es läuft, wird man nicht nur zunehmend mit dem Feuer spielen, sondern dies auch auf eine Art und Weise tun, die dazu bestimmt ist, das „Wie konnten sie das nicht vorhersehen?“ in eine traurige Leier zu verwandeln.

Es ist gefährlich, auf die pädagogischen Eigenschaften von Katastrophen zu setzen, denn die (vollkommen morsche!) Empörung stärkt vielmehr die ultrarechten Parteien, die in Europa in voller Blüte stehen. Doch welche Dynamiken könnten die Wut der Machtlosigkeit in einen Prozess der Wiederaneignung dessen verwandeln, was uns genommen wurde, nämlich die Fähigkeit uns in Fragen einzumischen, die uns angehen? Dynamiken dieser Art können und müssten überall angestoßen werden.

Es scheint mir daher wesentlich, dass wir uns auf die Vorhersehbarkeit der Katastrophe von Fukushima stützen, um zu fordern, dass Gruppen, die gegen Atomenergie auftreten, als AuditorInnen an den Sicherheitsaudits teilnehmen und mit der Befähigung versehen werden, kompromisslose Untersuchung durchzuführen. Anstatt beruhigender Zeichen könnte also das, was produziert wurde, Konsequenzen zur Folge haben, den Appetit auf weitere Untersuchungen anregen, welche die verwüstete Landschaft unseres Vorstellungsvermögens bewässern.

Isabell Stengers ist Philosophin und Autorin des folgenden Buches: Au temps des catastrophes. Résister à la barbarie qui vient, Paris: La Decouverte 2009.

Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht in der Ausgabe der Tageszeitschrift Le Monde, 26.03.2011