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04 2011
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Schluss mit den geheimen Absprachen mit dem Gaddafi-Regime!

Übersetzt von Birgit Mennel

Jean-François Bayart

Das kriminelle Bündnis gegen MigrantInnen

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Der Wunsch von Muammar al-Gaddafi, den Aufstand, der seine Macht in Frage stellt, militärisch niederzuschlagen, lässt uns nicht vergessen, dass die Europäische Union ihn mit weitreichenden Vereinbarungen, Finanzhilfen und militärisch-polizeilicher Kooperation zu einem ihrer zentralen Partner gemacht hat, soweit es um die Eindämmung der Immigration geht.

Diese Antimigrationspolitik ist jedoch nicht nur vergeblich und, wenn man den DemographInnen und ÖkonomInnen Glauben schenkt, den wohlverstandenen Interessen der europäischen Länder zuwiderlaufend. Sie schädigt auch die Demokratie und die öffentlichen Freiheiten, da sie einen Angriff auf den Respekt vor den Menschenrechten darstellt. Zudem ist sie kriminell im strengen Sinn des Wortes, und zwar in dem Maß, in dem sie den Tod von Tausenden von Menschen bewirkt, wie die Todesfälle durch Ertrinken von 150 aus Libyen kommenden Flüchtlingen in der Nacht vom 5. auf den 6. April 2011 bestätigen.

Die europäischen Führungen tragen die Verantwortung für die Konsequenzen der Maßnahmen, die sie in dieser Angelegenheit setzen, und ebenso für die Art und Weise, wie sie den Staaten des Maghreb deren Umsetzung vorschreiben. Der Film von Andrea Segre, Dagmawi Yimer und Riccardo Biadene Comme un homme sur la Terre (2008) dokumentiert die Tragweite der Mittäterschaft der Regierung von Silvio Berlusconi mit dem Regime von Muammar al-Gaddafi wie auch die schamlose Ausbeutung des Einkommens, das libysche FunktionärInnen aus dem Kampf gegen MigrantInnen lukrieren – um den Preis von schlechter Behandlung, Folter, Vergewaltigung und systematischen Morden, unter der vollständigen Gleichgültigkeit von Frontex sowie im Genuss des bürokratischen Komforts, zu dem die italienischen Materialzuwendungen verhelfen.

Ein Vorfall untermauerte übrigens sowohl die Dimension dieses Zugeständnisses von Rom an Tripolis wie auch die Immunisierung der europäischen öffentlichen Meinung: Am 12. September 2010 schoss ein libysches Schnellboot auf ein italienisches Fischerboot in der Annahme, man habe es mit klandestinen MigrantInnen zu tun. Protestbekundungen im ganzen Land waren die Folge. Weil die libysche Armee auf (wehrlose) vermeintliche Sans-Papiers geschossen hatte? Keineswegs. Weil die Ziele dieser Schüsse nicht jene waren, für die sie die Schützen hielten, sondern anständige ItalienerInnen, und weil diese obendrein von einem Boot in Beschuss genommen wurden, das ihre Regierung Tripolis im Rahmen von Kooperationsvereinbarungen über den Kampf gegen klandestine Immigration überlassen hatte.

Der Skandal betraf also die Fehlreaktion, und nicht den Schießbefehl und die Verstrickung der italienischen Behörden in den alltäglich gewordenen Verstoß gegen die allgemeine Menschenrechtserklärung, die europäische Menschenrechtskonvention, das Seerecht und, wie ich annehme, das italienische Recht selbst. Ein belastendes Detail: Italienische Ausbildungsoffiziere waren an Bord des Bootes der Küstenwache, was die Ungeheuerlichkeit der kriminellen geheimen Absprachen Roms mit Tripolis bekräftigt. Ein Auswuchs des Berlusconismus, wird man sagen. Nur dass die Europäische Union ebenso wie Frankreich in diese Politik verwickelt sind, und dass Letzteres dieselbe Art von Aufträgen an Tunesien, Algerien, Marokko, Mauretanien und den Senegal erteilt.

Im Oktober 2010 brachten Cecilia Malmström, EU-Kommissarin für Inneres, und ihr für europäische Nachbarschaftspolitik zuständiger Kollege Štefan Füle von ihrem Besuch in Tripolis „eine Kooperationsagenda“ mit, welche „die Wurzeln der Immigration, die Überwachung der Grenzen und den Kampf gegen den Menschenhandel“ ebenso beinhaltet wie „konkrete Maßnahmen für ein System der Grenzkontrolle“ und „einen Dialog über Flüchtlinge“.

Mit Rücksicht auf die Weigerung der libyschen Regierung verwies die Vereinbarung nicht auf die Genfer Konvention von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, einen Grundlagentext der Vereinten Nationen in Sachen Asylrecht und Schutz von Flüchtlingsrechten, sondern auf die Konvention der Afrikanischen Union, die Libyen unterzeichnet hat … und nicht anwendet. Als Fachmann auf dem Gebiet der politischen Erpressung und des Menschenhandels forderte Gaddafi fünf Milliarden Euro jährlich, um der illegalen Immigration „endgültig Einhalt zu gebieten“. Die Kommission versprach ihm 50 Millionen über einen Zeitraum von zwei Jahren. Und indem sie auf jede Bezugnahme auf die Genfer Konvention von 1951 verzichtete, gestand sie implizit ein, dass AfrikanerInnen nicht Teil der Menschheit sind, sondern der Region angehören.

Heute zeigt uns die Gehässigkeit, mit der Italien und Frankreich aus Libyen und Tunesien kommende MigrantInnen abschieben, obwohl einige unter ihnen Flüchtlinge mit Recht auf internationalen Schutz sind, dass unsere Führungen weder Verlegenheit ob ihrer früheren Kooperation mit Muammar Gaddafi zeigen, selbst wenn sie ihn bombardieren, noch auch sich durch das eingegangene Risiko einer Destabilisierung der Demokratisierungserfahrung in Tunesien stören lassen. Es heißt sogar, unsere Flugzeuge vermieden es, die libysche Flotte anzugreifen, um das Werkzeug im Kampf gegen die Migration nicht zu zerschlagen!

Mein Wunsch ist einfach: Ich hoffe, noch lange genug zu leben, um zu sehen, wie sich all jene vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen, die sich – unter dem in Europa nur allzu bekannten Deckmantel des Willens der Bevölkerung, des hierarchischen Prinzips, der administrativen Verpflichtungen und des Respekts vor Verträgen – tagtäglich über das internationale Recht hinwegsetzen und dabei den Tod oder das Leiden von Tausenden ihrer Mitmenschen verursachen: PräsidentInnen, Premier- oder VizepremierministerInnen, militärisch und polizeilich Verantwortliche, hohe FunktionärInnen der Kommission, Führungskräfte und KapitänInnen der Fluggesellschaften, DirektorInnen privater Sicherheitsunternehmen. Unsere PolitikerInnen haben der Immigration und dem Terrorismus den Krieg erklärt, aber sie machen sich frei vom Kriegsrecht. Mögen sie eines Tages den Preis dafür zahlen müssen, inch’Allah.

Jean-François Bayart ist Forschungsdirektor am CNRS (Centre national de la recherche scientifique).

Dieser Artikel erschien erstmals in der französischen Tageszeitung Le Monde am 13.04.2011.