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05 2012
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Staatsapparate und die Konstruktion kollektiver Macht

Birgit Mennel

Montserrat Galcerán

Birgit Mennel (translation)

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Die Klassiker sagten, eine revolutionäre Situation charakterisiert sich durch die Existenz einer doppelten Macht: die Macht des Staates, die in seinen Regierungsinstitutionen – Exekutive, Polizei, Justizgerichte und Parlamente – zum Ausdruck kommt; und andererseits die Menge von Vereinigungen, Räten, Kommunen oder Kollektiven, in denen „das Volk“ sich organisiert, debattiert und entsprechende Aktionen angeht. Diese beiden Mächte koexistieren während einer Revolution; historisch endet der Prozess, wenn eine der beiden obsiegt, sei es durch einen kontrarevolutionären Putsch zur Wiederherstellung der früheren Situation oder durch einen Vormarsch der Revolution, die neue Institutionen hervorbringt. Dies war der Verlauf in klassischen Revolutionen, in denen der Konflikt mit einer bewaffneten Gegenüberstellung endete. Die konstituierenden Prozesse am Ende des 20. und im 21. Jahrhundert – insbesondere in Lateinamerika – sind insofern neu, als es den sozialen Bewegungen gelingt, politische Plattformen hervorzubringen, um so auf dem Weg von Wahlen auf die Macht des Staates zuzugreifen, aber die doppelte Macht besteht in angespanntem Miteinander mit der staatlichen Macht weiter.  Die kollektive Macht löst sich nicht in den staatlichen Institutionen auf und sie erschöpft sich auch nicht in den Wahlvorgängen; sie bewahrt stets eine „Gegenmacht“ im Akt, durch die die kollektive Potenz zum Ausdruck kommt, die der institutionalisierten Macht die Stirn bietet. Während jedoch in Lateinamerika, nach einem Jahrzehnt von Verschuldung und Erpressung eine Antwort gefunden worden war, entstand Europa eine gegenläufige Bewegung. Angesichts einer ratlosen Linken, die sich davor fürchtete, die alten Revolutionsphantasmen zu beschwören, bewerkstelligten die neoliberalen Gruppierungen eine wahre „konservative Revolution“, wofür sie ihren ganzen staatlichen Einfluss geltend machten. Die siegreiche neoliberale Strategie konnte sich in mehreren, in den letzten Jahren peinlich genau aufeinander folgenden Schritten darlegen: Zuerst wird eine Kampagne der Diskreditierung der öffentlichen Dienste sowie der traditionellen Diskurse der Linken lanciert, um bis ins kleinste Detail von ihren Schwächen zu profitieren; im weiteren Verlauf erobert man Räume in den öffentlichen Institutionen, um von dort aus außerordentlich tiefgreifende Operationen vorzunehmen, die ihr eine ökonomische Stärke verleihen und eine gewisse Popularität sichern. In Madrid gibt es unzählige Beispiele für die Herausbildung solcher Infrastrukturen: etwa die unglaubliche Summe öffentlicher Geldes, die im Zuge von Kampagnen für die Olympischen Spiele ausgegeben wurden; die Schaffung privater Krankenhäuser; die Besserstellung von privaten Schulen und Universitäten. Wenn all das erst einmal im Staat installiert ist, wird eine virtuose Spirale in Gang genährt wird, bis die Krise ausbricht und nicht nur die Haltlosigkeit dieser Projekte deutlich macht, sondern – und das ist noch wichtiger – das Schuldenausmaß. Aus dieser Verschuldung resultieren eine Politik der Austerität und der Kürzungen. Interessant an dieser Weise, Politik zu machen ist, dass die Staatsapparate zu Agenten der Privatisierung, der Merkantilisierung sowie der Verschuldung sowie nunmher der Maßnahmen zur Ausgabenkürzung werden. Obwohl der Diskurs immer noch dem Muster des klassischen liberalen Diskurses eines „sich selbst entwerfenden Menschen “ folgt, steht das längst nicht mehr in einem Zusammenhang mit der ökonomischen und politischen Macht, welche die neoliberalen Sektoren ausgehend von ihren öffentlichen Posten ausüben und die sie zum Wohle ihrer Firmen und Konsortien kanalisieren, indem sie Geschäfte per Untervertrag an befreundete Firmen vergeben und so die politische Korruption vermehren. Diese Politik geht, leider, weit über die Parteienkürzel hinaus, denn beide Großparteien haben – trotz ihrer Differenzen im Stil und manchmal im Diskurs – die institutionelle öffentliche Macht in einen Hebel für ihre Cliquengeschäfte verwandelt. Dies erklärt auch die Ablehnung der gegenwärtigen politischen Strukturen sowie die Notwendigkeit der Herausbildung einer konstituierenden kollektive Macht. Die öffentlichen Schulden – fälschlicherweise als „Staatsschuld“ bezeichnet – sind also keine Schulden, die gemacht wurden, um die Bürger_innen mit mehr oder besseren öffentlichen Dienstleistungen zu versorgen, sondern sind zu einem großen Teil auszehrende Schulden, die eingegangen wurden, um eben jene Verträge zu bezahlen, die für die Finanzierung von Wahlkampagnen, großen Infrastrukturen oder riesigen Events der letzten Jahre eingegangen wurden. Es sind also Schulden, die nichts mit dem Wohlergehen der Bürger_innen zu tun haben, obwohl sie die öffentliche Administration in einem legalen Rahmen eingegangen war. Der 15. Mai (15M) stellt diese Art von Politik an den Pranger. Bis zum heutigen Tag können wir die Radikalität der sogenannten  Spanish Revolution noch nicht wirklich einschätzen, aber wir wissen intuitiv, dass wir einen neuen Weg beschreiten. Wir schaffen eine kollektive Macht, die in den zahlreichen auf dem gesamten nationalen Territorium durchgeführten Asambleas und Aktionen zum Ausdruck kommt; wir entwickeln einen neue politische Institutionalität, die über die Beschränkungen einer Partizipation im Wahlritual und eines Parteienspektakels hinausreicht. Damit wird eine Situation doppelter Macht eröffnet, in der sich das „Autoritätsprinzip“, das die instituierten Mächte zu Unrecht innehaben, einer „demokratischen Macht“ entgegenstellt, die von massenhaften Aktionen zivilen Ungehorsams ausgeübt wird. Nun gut: Was „konstituiert“ diese konstituierende Macht? Was sind die Wesenszüge oder die Abgrenzungspunkte dieser von uns ausgeübten „Macht im Akt“? Meiner Meinung nach ist es möglich, einige Aspekte herauszuschälen: Das ist zunächst das Netz lokaler oder im Stadtteil abgehaltener Asambleas, die mit der Generalversammlung und den zahlreichen Kommissionen und Plattformen den Keim einer lokalen Macht bilden, die in der in der Lage ist, Debatten und Diskussionen anzustoßen, Entscheiden zu treffen sowie die Aktivität von unzähligen Personen zu lenken, die Teil der Bewegung sind. Sie sind es, die die Zwangsräumungen stoppen und  das Prinzip der „Nichthaftung“ durchsetzen; sie sind es, die mit den Banken verhandeln und die bei der Besetzung von leerstehenden Wohnungen ebenso helfen wie bei der Umsiedelung derjenigen, die ihre Häuser aufgrund der vollständigen Sorglosigkeit der Autoritäten verlieren, deren Ziel im Schutz der Banken und nicht der Personen besteht. An zweiter Stelle zeichnet sich eine Karte neuer Rechte ab,  die den liberalen Individualismus einer ersten Generation von Rechten überschreitet und neue, im Entstehen begriffene Rechte einführt: das Recht auf Wohnung, das Recht auf Stadt, das Recht auf kulturelle Produktion, auf die freie Verwendung des Internet, auf eine garantierte Pension für alle, kurzum: das „Recht auf Rechte“ für alle Bewohner_innen der reichen Territorien der Gegenwart. Diese Rechte sind fundamental und sind nicht Teil der gegenwärtigen Gesetzgebungen. An dritter Stelle zeichnet sich nach und nach ab, dass all diese Innovationen zu einer neuen Magna Carta führen müssten, zu einer neuen Verfassung, die über die bereits obsolet gewordene Verfassung von 1978 hinaus reicht und an deren Ausarbeitung – nicht wie damals! – all diese neuen Mächte beteiligt sein sollten. Diese neue Verfassung wäre nicht das Ende – wie während der Transition –, sondern der Anfang einer demokratischen Revolution.