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05 2012
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Die Zukunft Europas entscheidet sich in Griechenland

Birgit Mennel

Etienne Balibar, Michael Löwy, Eleni Varikas

Birgit Mennel (translation)

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Griechenland ist derzeit in einer Situation, wie wir sie seit dem Ende der deutschen Besatzung 1944 nicht mehr erlebt haben: brutale Lohn- und Pensionskürzungen; eine Jugendarbeitslosigkeit von 50%; Unternehmen, kleine Geschäfte, Zeitungen, Verlagshäuser, die pleite sind; tausende Bettler_innen und Obdachlose auf den Straßen; reihenweise Privatisierungen, Einstellen von öffentlichen Diensten (Gesundheits- und Erziehungswesen) sowie Aussetzen der Sozialversicherung; steigende Selbstmordrate. Man könnte die Liste der verheerenden Folgen des „Memorandums“ fortsetzen.

Die Banker_innen, die Reeder und die Kirche (die größte Grundbesitzerin) werden dagegen nicht besteuert. Man verordnet die Reduktion aller Sozialbudgets, aber das gigantische Budget der „Verteidigung“ wird nicht angerührt: man verpflichtet Griechenland weiterhin zum Kauf von militärischer Ausrüstung in Milliardenhöhe bei eben jenen europäischen Anbietern, die – rein zufällig – dieselben sind, die die Schuldenrückzahlung fordern (Deutschland, Frankreich).

Griechenland hat sich zum europäischen Labor entwickelt. An menschlichen Testpersonen werden Methoden ausprobiert, die dann auf Portugal, Spanien, Irland, Italien usw. angewendet werden. Die für diese Erfahrung Verantwortlichen, die Troika (Europäische Kommission, europäische Zentralbank, IWF) und ihre Kompagnons  in den griechischen Regierungen haben sich um diese keine Sorgen gemacht: Hat man schon jemals Meerschweinchen und Labormäuse erleb, die sich gegen ein wissenschaftliches Experiment aufgelehnt haben? Ein Wunder! Die menschlichen Testpersonen haben aufbegehrt: Trotz der scharfen Repression durch die Polizei, die weitestgehend von im Lauf der letzten Jahre rekrutierten Neonazis infiltriert wurde, ist es nicht gelungen, die Generalstreiks, die Platzbesetzungen, die Demonstrationen und die Proteste zu stoppen. Und jetzt, der Gipfel der Unverschämtheit, haben sich die Griech_innen gegen die Fortsetzung der „Erfahrung“ entschieden: sie haben das Wahlergebnis der Regierungsparteien (die Rechte und die gemäßigte Linke, die das Memorandum gegen ihr Programm unterschrieben hat) um die Hälfte reduziert und die Unterstützung für Syriza (Koalition der radikalen Linken) vervierfacht.

Man muss nicht Teil der radikalen Linken sein, um zu sehen, wie katastrophal die neoliberalen Lösungen der Troika sind; der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman betont es fortwährend: Wie soll Griechenlands „finanzielle Lage verbessert werden“, wenn man das Land in die Knie, in die Rezession zwingt, was offensichtlich die Einnahmen nur verringern und ein Ungleichgewicht im Budget herbeiführen wird? Wofür dienten die „großzügigen“ Darlehen Europas und des IWF? Zur Bezahlung … der Bankenschuld, auch auf die Gefahr einer neuerlichen Verschuldung. Die Religion der „Expert_innen“ der Troika ist der Kapitalismus (W. Benjamin, 1921): Eine Religion, deren Gottheiten – die Finanzmärkte mit ihren unvorhersehbaren, willkürlichen und irrationalen Dekreten – (Menschen-)Opfer verlangen.

Da sie aus der Willkür, dem Geheimnis und der Angst eine wahrhafte Regierungsweise gemacht hat, konnte eine solche Politik der brutalen Unterwerfung  einer Bevölkerung nur Reaktionen des Zorns, der Verzweiflung und der Wut hervorrufen. Ein Teil dieser Wut wurde durch eine unheilvolle, rassistische, antisemitische und xenophobe Kraft kanalisiert, nämlich die neonazistische Gruppe Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte). Aber die Einheimischen unterstützen zum ersten Mal seit 1958 mehrheitlich die radikale Linke. Diese Linke ist durch und durch europäisch. Sie zielt ganz und gar nicht auf einen Euro-Ausstieg, sondern lehnt das von der Troika auferlegte Memorandum kategorisch ab, das die in den letzten Jahren aufeinander folgenden griechischen Regierungen – Pasok, Nea Dimokratia sowie die der „nationalen Einheit“ mit der extremen Rechten – akzeptiert hatten. Die radikale Linke schlägt konkrete, realistische und unmittelbar umsetzbare Alternativen vor: ein Schuldenmoratorium, gefolgt von einem internationalen Audit, um seine Legitimität zu prüfen; soziale Kontrolle der Banken; Abschaffung der anti-sozialen Maßnahmen, die jene Regierungen getroffen haben, die das Memorandum unterzeichnet haben. Mit Unterstützung eines breiten Spektrums von demokratischen Linken, sozialen Bewegungen, Einheimischen, kämpfenden Arbeiter_innen, Netzwerken zur Verteidigung von MigrantInnen, feministischen, Queer-  und ökologischen Gruppen hat sie es erreicht, die zweite politische Kraft des Landes zu werden. „Sie wussten nicht, dass es unmöglich war, und so taten sie es “ würde Mark Twain sagen.

Im Juni wird eine zweite Wahl stattfinden. Einige Umfragen sehen die radikale Linke als stärkste politische Kraft des Landes. Für uns ist klar, dass sich die Zukunft Europas in Griechenland abspielt. Die Sprecher_innen des Finanzkapitals, Jose Manuel Barroso oder Wolfgang Schäuble, haben es begriffen; sie drohen den Griech_innen mit allen möglichen Repressalien, sollten sie es wagen, nicht für die von den Banken und dem IWF unterstützten Kandidat_innen zu stimmen. Die neue französische Regierung, die sich auf ein vorsichtiges Schweigen beschränkt, müsste laut und deutlich bekräftigen, dass sie die Entscheidung der griechischen Bevölkerung respektieren wird und dass sie jeden Vorschlag, Griechenland aus Europa oder aus der Eurzone auszuschließen, ablehnt.

Die radikale griechische Linke und der demokratische, antifaschistische Einheitselan, der sie trägt, muss dringend unterstützt werden. Sie steht momentan an der Spitze eines Kampfs, der Griechenland und in der Folge Europa aus dem Albtraum der neoliberalen Austerität herausführen kann.

Die Zukunft Europas entscheidet sich im Moment in Griechenland.