Teil 1: Quiz Frage an den/die Risse-LeserIn: Was fällt Ihnen zu den
beiden Begriffen EU und Kulturpolitik ein?
Raunig und Kaufmann geben in ihrem Paper einen Überblick über Geschichte und Status Quo der europäischen Kulturpolitik, schlagen neue Konzepte vor und geben konkrete Policy-Empfehlungen. Dabei konzentrieren sie sich ausschließlich auf die europäische Ebene, nationale und lokale Kulturpolitiken werden also nicht berücksichtigt. Der deskriptive Teil beschreibt die zögerliche Entwicklung einer Kulturpolitik der EG bis zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam, in denen erstmals die Kulturpolitik im europäischen Primärrecht verankert wurde. Der entsprechende Artikel (151) des Vertrags von Amsterdam wird einer eingehenden Lektüre unterzogen. Während positiv vermerkt wird, dass sich die EU gemäß diesem Artikel in erster Linie kulturellem Austausch und kultureller Kooperation verpflichtet fühlt, vermerken die AutorInnen das unhinterfragte Konzept einer europäischen Identität kritisch, das implizit in Artikel 151 enthalten ist. Eine weitere Absage wird einem kontextblinden Subsidiaritätsgedanken erteilt - in vielen Fällen lässt sich ein europäisches (statt einem nationalen) Engagement in kulturellen Angelegenheiten aufgrund der grenzüberschreitenden Qualität kultureller Initiativen rechtfertigen. Schließlich werden auch Probleme in der Implementierung der Kulturpolitiken der EU angemerkt; insbesondere der Forderung, Kultur und kulturelle Vielfalt in allen Politiken der Union mitzuberücksichtigen, wird kaum Rechnung getragen. In Hinblick auf gegenwärtige Entwicklungen und Erwartungen auf die Zukunft wird ein Stillstand der Bemühungen in diesem Feld konstatiert. Im zweiten Teil "Towards New Concepts of Cultural Politics"
werden neue Angelpunkte für Kulturpolitik vorgeschlagen:
Es ist wichtig und erfreulich, dass es im Kontext des Konvents zur Zukunft Europas nun eine kulturpolitische Stellungnahme gibt. Denn es handelt sich bei diesem Thema um ein gröblich vernachlässigtes und unpopuläres. Es haftet ihm der Ruch des Unerfreulichen und/oder Unplausiblen an: Erstens gibt es keine europäische Kulturpolitik, da die EU ein ökonomisches Projekt und Kultur Sache der Mitgliedstaaten ist. Und zweitens soll es keine europäische Kulturpolitik geben, da die EU ein ökonomisches Projekt und Kultur Sache der Mitgliedstaaten ist. Nun ist es allerdings so, dass es eine europäische Kulturpolitik gibt und dass ihre Bedeutung kontinuierlich zunimmt (auch wenn sie nach wie vor deutlich weniger relevant ist als die nationalen Kulturpolitiken). Und vielleicht ermöglicht diese europäische Kulturpolitik auch neue, spannende Dinge. Dieser Hoffnung geben zumindest Kaufmann und Raunig Ausdruck, und sie sollten es wissen, ist es ihnen doch gelungen, für ein vielversprechendes theoretisches/künstlerisches/politisches Projekt eine EU-Finanzierung zu finden (siehe http://www.republicart.net/). Allerdings geht aus den Aufzeichnungen von Kaufmann und Raunig nicht wirklich schlüssig hervor, warum mensch Hoffnungen in die Kulturpolitik der EU setzen sollte, oder noch allgemeiner formuliert, warum es eine Kulturpolitik der EU überhaupt gibt. Dieses wesentlichste Defizit des Textes erklärt sich m. E. daraus, dass die AutorInnen nicht ernsthaft an den Strukturen und Entwicklungen der EU interessiert sind. Daher werden nationale Kulturpolitiken in die Betrachtung nicht einbezogen, obwohl Politikfelder in der EU aufgrund ihrer verschränkten Struktur sinnvollerweise stets im Zusammenspiel von europäischer und nationaler Ebene betrachtet werden müssen. Daher wird im deskriptiven Teil das erste Stadium der Kulturpolitik der EG vor dem Vertrag von Maastricht in einen kursorischen Überblick über diverse europäische und internationale kulturpolitische Aktivitäten miteinbezogen (UNESCO, Europarat, Erklärung der Menschenrechte), während etwa die frühen medienpolitischen Aktivitäten der EG überhaupt ausgeklammert werden. Das ist bedauerlich, zeigt sich doch gerade in der Medienpolitik der Widerstreit unterschiedlicher kulturpolitisch relevanter Positionen in der EG. Die medienpolitischen Vorstöße, die vor Maastricht rechtlich umgesetzt wurden, reduzieren die Medien auf ein wirtschaftliches Gut. Dies wird insbesondere an der Richtlinie "Fernsehen ohne Grenzen" deutlich, deren ausschließliches Ziel die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen und von nationalem Protektionismus ist. Hingegen findet sich in einem Protokoll zum Vertrag von Amsterdam der Passus, dass die Mitgliedstaaten öffentlich-rechtliches Fernsehen betreiben dürfen, sofern dies nicht wettbewerbsverzerrend wirkt. Die Entwicklung von "Fernsehen ohne Grenzen" zum Protokoll von Amsterdam markiert eine Entwicklung des europäischen Projektes zu einem - auch - politischen Vorhaben. Die Entwicklung der Medien- und Kulturpolitik der EU ist ein Symptom für die Wandlungen der Identitätskonzepte dieses Konstrukts. Leider wird diese erklärende Variable von den AutorInnen von "Anticipating Cultural Policies" nicht zugelassen. Dies mag normativ richtig sein, verstellt jedoch den Blick auf das Selbstverständnis der EU und führt vermutlich zu unrealistischen Schlussfolgerungen. Denn nur aus der Entwicklung der Identitätskonzepte der EU sind ihre Kulturpolitiken verständlich - so ist etwa die Finanzierung zahlreicher Kulturprojekte durch die Strukturfonds weniger ein Zeichen für die transversale Qualität kultureller Aktivitäten als für das Bemühen der Europäischen Kommission, die identitätsrelevante Materie "Kultur" durch die Hintertür ökonomischer Relevanz in ihren Einflussbereich zu bringen. Vergegenwärtigt mensch sich die Identitätskonflikte zwischen EU und Mitgliedstaaten, wird auch deutlich, dass das - von Kaufmann und Raunig geforderte - Abrücken vom Einstimmigkeitsprinzip im Rat der EU bei Kulturangelegenheiten, außerordentlich unwahrscheinlich ist. Kulturpolitik ist - nicht nur, aber zu einem wesentlichen
Teil - Identitätspolitik. Dies gilt für die nationale
Ebene ebenso wie für die supranationale. Die Vertiefung
und Erweiterung des europäischen Projektes, seine Politisierung
und die geplante Aufnahme bisher ausgeschlossener Staaten,
macht die Identitätsfrage virulent. In diesem Kontext
entwickelt sich europäische Kulturpolitik. Produktiver
als das Leugnen oder Ablehnen der Identitätsfrage wäre
es daher, bewusst mit ihr umzugehen, Möglichkeiten auszuloten,
wie politische Identität dynamischer und weniger exklusiv
als im nationalstaatlichen Rahmen gedacht werden kann. Dies
bleiben Kaufmann und Raunig schuldig. Daher verbleiben auch
die anspruchsvollen und spannenden Konzepte für eine
neuartige Kulturpolitik ohne erkennbaren Zusammenhang zu dem
politischen System, das diese Konzepte implementieren soll.
Nur wenn es aber gelingt, die strukturellen und ideologischen
Voraussetzungen der EU bei der Entwicklung neuer kulturpolitischer
Konzepte mitzudenken, kann der selbstgestellte Anspruch des
Textes erfüllt werden, zum Konstitutionalisierungsprozess
der Union beizutragen. |