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01 2003
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Kultureuropapolitik

Einige allgemeine Überlegungen zum Positionspapier "Anticipating European Cultural Policies" von Th. Kaufmann und G. Raunig

Stefan Nowotny

Stefan Nowotny

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Kultur ist ein feierliches Wort, zumal dann, wenn es in politischen Kontexten gebraucht wird. Mag auch das emphatische Pathos seltener geworden sein, mit dem Alfred Weber, Großvater der Kultursoziologie, Kultur 1912 als etwas "für die Fortexistenz des Lebens Überflüssiges" beschrieben hat, "was wir doch gerade als (…) dasjenige, wofür es da ist, fühlen" [1]: Der eigentümliche Wert, ja Mehr-als-Wert der Kultur bleibt im Allgemeinen unbestritten. Kultur als solche steht gleichsam über den Differenzen; gestritten wird allenfalls - noch dort, wo ihre Politisierung eingefordert wird - im Namen einer anderen Vorstellung von ihr.

Feierlich ist auch die Manier, in der der europapolitische Diskurs auf die Kultur gekommen ist. Wenig belegt dies deutlicher als der nahezu kontextfrei überlieferte (und gerade deshalb wahrscheinlich ständig wiedergegebene) Satz Jean Monnets, der bei irgendeiner Gelegenheit gesagt haben soll, er würde, wäre die europäische Integration noch einmal anzufangen, mit der Kultur beginnen. Die Kultur, so gibt das Zitat zu verstehen, steht am Ausgangspunkt Europas, selbst wenn Letzteres noch nicht so recht davon weiß, weil die Gründerväter der EU unglücklicherweise andere Dinge im Kopf hatten. Umso wichtiger ist es, den vergessenen Ursprung des europäischen Einigungswerkes nachzuholen, am besten dadurch, dass ihm in der künftigen EU-Verfassung der gehörige Platz eingeräumt wird.

Ein Positionspapier zur europäischen Kulturpolitik, wie es Therese Kaufmann und Gerald Raunig unter dem Titel "Anticipating European Cultural Policies" vorgelegt haben, bewegt sich also auf beladenem Terrain. Dennoch bewegt es sich zugleich auf einem terrain vague, nicht nur des "traditionellen Kulturpolitikgeredes und seiner hohlen Phraseologie" (S. 3) wegen, sondern im Ausdruckssinn eines noch immer weitgehend unbebauten Geländes. Unbebaut jedenfalls insofern, als - trotz der Förderungsprogramme der letzten Jahre und trotz der Aufnahme des Kultur-Artikels 151 (ex-Art. 128) in das EU-Vertragswerk - kulturpolitische Agenden auf EU-Ebene ein nach wie vor marginales Dasein fristen und es zudem angesichts des durch den Konvent auf die Wege gebrachten Konstitutionalisierungsprozesses noch offen ist, ob und in welcher Form Kultur in den politischen Aufbau der künftigen EU als eine Art "Staatsstrukturbestimmung" (bzw. als EU-spezifische Entsprechung davon) eingehen wird. Der kultureuropapolitische Diskurs mag, wie wir noch genauer sehen werden, vor allem dieser letzten Frage weit voraus geeilt sein. Dennoch gibt die Situation relativer Offenheit Anlass, den Baugrund zu prüfen, auf dem sich ein künftiges Europa (mit) errichten soll.

Dies soll im Weiteren auf zweierlei Art geschehen: erstens auf dem Wege einer Reflexion des Kulturbegriffs selbst vor dem Hintergrund seiner, wie Raymond Williams es ausgedrückt hat, "komplexen und noch immer aktiven Geschichte" [2]; und zweitens durch einige Bruchstücke zu einer kritischen Analyse jener in den letzten Jahren verstärkt auftretenden Diskurse über eine "europäische Kultur" einerseits bzw. "die Rolle der Kultur in Europa" andererseits, die - bei aller Unterschiedenheit - dennoch einen unübersehbaren Zusammenhang bilden.

Meine Überlegungen verstehen sich dabei zum einen als Ergänzung zu dem von Kaufmann und Raunig vorgelegten Text, zum anderen als Versuch einer anderen Perspektivierung hinsichtlich der allgemeineren Frage einer Kulturpolitik. Sie nehmen gleichzeitig den, wie mir scheint, zentralen Impuls des Papiers von Kaufmann und Raunig auf: dass nämlich "Kulturpolitik ein Nukleus von Demokratiepolitik" (S. 17) werden müsse. Es ist nicht zuletzt dieser Impuls, der ihrem Text einen Tonfall gibt, der sich von den angesprochenen Feierlichkeiten ebenso unterscheidet wie von der bürokratischen Nüchternheit der "Brüsseler Korridore". Und es ist dieser Impuls, der Kaufmann und Raunig konsequent die emblematischen Instrumentalisierungen der "Kultur" im EU-politischen Kontext zurückweisen lässt, wie sie vor allem in der verstärkt sich Gehör verschaffenden Rede von einer "kulturellen Identität Europas" am Werk sind.

Dennoch scheint mir gerade diese Zurückweisung von "Instrumentalisierungen" näher erklärungsbedürftig zu sein. Sie scheint nämlich von der doppelten Annahme auszugehen, dass es so etwas wie "Kultur" unabhängig und außerhalb einer politisch-instrumentellen Logik gebe und es die selbstverständliche Aufgabe der Politik sei, diese Kultur zu fördern, im Übrigen aber sich selbst zu überlassen. Die Geste an sich wäre nicht neu. Sie würde sich etwa kaum von der Haltung des im 19. Jahrhundert entstehenden deutschen Bildungsbürgertums [3] unterscheiden, träte bei Kaufmann und Raunig nicht ein Katalog von auf eine politische Transformation des kulturellen Feldes selbst abzielenden Leitlinien an die Stelle einer die bürgerliche Einflusssphäre zugleich absichernden und ausweitenden Berufung auf den "Kulturstaat". Nichtsdestoweniger bleibt die Geste paradox, und diese Paradoxie hat mit dem Begriff der Kultur und seiner Geschichte selbst zu tun.

Deutlich machen lässt sich dies am besten an der Vorstellung einer "Autonomie" der Kultur, die Kaufmann und Raunig mit gutem Grund explizit zurückweisen, von der die beschriebene Geste jedoch nicht frei zu sein scheint. Die Idee einer solchen Autonomie zehrt zweifellos von romantischem Erbe, von der Emphase des Schöpferischen als Ausdruck ursprünglichsten Menschseins. Genauer: Sie zehrt von einer bestimmten Romantikrezeption, die unterschlägt, dass selbst im theoriegeschichtlichen Umfeld der Romantik der Kulturbegriff seine moderne Prägung weniger durch die Transzendentalpoetologien eines Novalis oder Friedrich Schlegel als in den geschichtsphilosophischen Entwürfen Herders oder den Kulturstaatsreflexionen Fichtes erlangt hat. Die Abblendung ist folgenreich, mündet sie doch in eine notorische Kurzschließung der Semantik des Kulturbegriffs mit Kategorien der Ästhetik sowie einer auf die menschliche Existenz als solche bezogenen "Bildung", ohne den politischen und geschichtstheoretischen Implikationen des Begriffs konkret Rechnung zu tragen. In Spuren bleibt diese Abblendung - vermittelt durch einen verallgemeinerten Begriff der symbolischen Produktion - noch in der Überschätzung der politischen Potenziale "kultureller" Transformationen lesbar, die für eine Reihe von jüngeren Kulturanalysen kennzeichnend ist.

Die Vorstellung von einer Autonomie der Kultur übersieht aber noch ein Zweites: dass nämlich der Kulturbegriff, dort wo er eigens konzeptualisiert wurde, seinerseits gerade die Autonomien etwa der künstlerischen oder wissenschaftlichen Produktion, die er zu unterstreichen und verteidigen scheint, auflöst und sich unterordnet. So konnte beispielsweise Georg Simmel das Wesentliche des "Kulturideals" eben darin erblicken, "dass es die Eigenwertigkeit der ästhetischen, wissenschaftlichen, sittlichen, eudämonistischen, ja der religiösen Leistung aufhebt, um sie alle als Elemente oder Bausteine in die Entwicklung des menschlichen Wesens über seinen Naturzustand hinaus einzufügen" [4]. "Kultur" fungiert hier als Integrationsbegriff, der - auch hier unter signifikanter Auslassung des Politischen - die Bedeutung bestimmter menschlicher Tätigkeiten zusammenfasst, indem er diese auf einen einheitlichen Entwicklungsprozess des "menschlichen Wesens" bezieht.

Es gibt jedoch Gründe dafür, in einer solchen Konstruktion eines "Kulturideals" selbst die Spuren der politischen Funktion von "Kultur" auszumachen. So hat etwa Adorno die integrative Eigenschaft des Kulturbegriffs, anstatt sie auf den vagen Gegensatz zur Natur sowie auf ein abstraktes menschliches Wesen zurückzuführen, ausdrücklich auf die Bedingungen des modernen Verwaltungsstaats bezogen: "Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht. Die Zusammenfassung von so viel Ungleichnamigem wie Philosophie und Religion, Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten, schließlich dem objektiven Geist eines Zeitalters unter dem einzigen Wort Kultur verrät vorweg den administrativen Blick, der all das, von oben her, sammelt, einteilt, abwägt, organisiert." [5] Adornos Urteil ist nicht nur historisch plausibel (schon deshalb, weil es im Gegensatz zu Simmels Übergeneralisierungen die konkreten Realisierungsbedingungen exklusivistisch-identitärer Formulierungen des "Kulturideals" zu verstehen erlaubt). Es lenkt den Blick auch auf die politisch-institutionellen Konstitutionsbedingungen eines "kulturellen Feldes" innerhalb der Gesamtheit gesellschaftlicher Organisationsleistungen, dessen distinkte (und insofern quasi-autonome) Funktionslogik nicht mit der Konstruktion einer wirklichen Autonomie "der Kultur" zu verwechseln ist.

Vor allem die Arbeiten Tony Bennetts [6] haben die politische Funktion dieses kulturellen Feldes in den Kontext jener spezifisch modernen Regierungstechniken gestellt, für die Foucault den Begriff der "Gouvernementalität" geprägt hat und die auf eine möglichst kapillare soziale und politische Integration des Gegenstands dieser Techniken zielen, nämlich der Bevölkerung. Der institutionelle und symbolische Apparat der "Kultur" fügt sich Bennett zufolge jenen drei Elementen hinzu, in deren Konstellation Foucault das besondere Gepräge der modernen Regierungskunst gesehen hat: der Bevölkerung "als Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, aber ebenso auch als Objekt in den Händen der Regierung" [7] (als Hauptzielscheibe), der politischen Ökonomie (als Hauptwissensform) und der Sicherheitsdispositive (als wesentliches technisches Instrument). "Kultur" erweist sich in diesem Zusammenhang also in einem zweiten Sinn als Integrationsbegriff, insofern es in ihr nicht allein um die Subsumption und Einordnung verschiedener Tätigkeitsfelder unter ein auf die Menschheit insgesamt bezogenes "Kulturideal" geht, sondern um die Verknüpfung dieser ersten Integration mit einer politisch-sozialen Integration, die auf die "Denk- und Verhaltensformen ausgedehnter Bevölkerungen" [8] abzielt. Diese wiederum bedient sich der ersten - auf konzeptueller Ebene gehaltenen - Integrationsleistung, indem sie die Totalität der Bevölkerung mit der Totalität bestimmter Lebensformen und Hervorbringungen in eins setzt.

Als Konsequenz aus dieser Analyse ergibt sich nicht nur die Feststellung der offensichtlichen Unangemessenheit der Rede von einer Autonomie (oder auch von einem in sich feststehenden "Wert") der Kultur, sondern, im hier in Frage stehenden Kontext, vor allem die Notwendigkeit, die Diskussion um eine "europäische Kultur" bzw. eine "europäische Kulturpolitik" nicht von ihrem Zusammenhang mit anderen Regierungstechniken sowie insbesondere nicht von ihrem Zusammenhang mit der politischen Konzeption einer "europäischen" Bevölkerung abzusondern. Erst in dieser Perspektive lassen sich - abseits der zweifellos wünschenswerten Überwindung der eifersüchtigen Enge nationalstaatlicher Kulturpolitiken sowie der ebenso wünschenswerten Förderung nicht-kommerzieller Austauschformen - die demokratiepolitischen Potenziale einer politischen Gestaltung des kulturellen Feldes auf EU-Ebene wirklich abschätzen. Und erst in dieser Perspektive ließe sich auch die Frage entscheiden, ob und in welcher Form ein Kulturartikel Bestandteil einer künftigen europäischen Verfassung sein solle.

Tatsächlich wird die öffentliche Debatte um eine "europäische Kultur", soweit sie die Frage der Bevölkerung unübersehbar berührt, zumeist auf zwei Ebenen ausgetragen: zum einen unter Verweis auf die "identitätsstiftende" Qualität der "Kultur" und zum anderen im Kontext der Diskussionen um die künftigen - "endgültigen" - Grenzen der EU. Ich werde mich im Folgenden vor allem auf die erste Ebene beziehen, da auf der zweiten Ebene, wie etwa die jüngsten Debatten um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei gezeigt haben, die Bezugnahme auf eine europäische Bevölkerung vorrangig entlang territorialer Grenzziehungen verläuft (nebst vagen Behauptungen und Gegenbehauptungen darüber, welche Länder nun "kulturell" zu Europa gehören und welche nicht). So sehr dies auch der grundsätzlichen Logik des Diskurses über eine "europäische Kultur" entspricht, so sehr verkürzt es doch die hier aufgeworfene Frage.

Der Verweis auf die identitätsstiftende Qualität der Kultur hingegen betrifft, jedenfalls im Rahmen des dominanten Diskurses, unmittelbar die Funktion der Kultur als Instrument sozialer und politischer Integration. So stellt der Beschluss des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rats über "Kultur 2000" in seinem Begründungsteil unter Punkt 2 fest: "Kunst und Kultur sind sowohl ein Wirtschaftsfaktor als auch ein Faktor der sozialen und staatsbürgerlichen Integration." Ich habe in einem früheren Text [9] einige Implikationen der Art und Weise analysiert, wie diese Integration näherhin vorgestellt wird, und beschränke mich hier daher auf eine kursorische Auflistung:

1. bezieht derselbe Text die Integration europäischer BürgerInnen auf die Notwendigkeit einer "stärkeren Hervorhebung ihrer gemeinsamen kulturellen Werte und Wurzeln als Schlüsselelement ihrer Identität und ihrer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die sich auf Freiheit, Demokratie, Toleranz und Solidarität gründet" (Pkt. 5);
2. bezieht er diese Identität auf einen "den Europäern gemeinsamen Kulturraum" (7, 8), auf den es "hinzuwirken" gelte, und konstruiert damit einen direkten Nexus zwischen einem politisch zu schaffenden Raum und einer vorausgesetzten kulturellen Identität der EuropäerInnen;
3. betont er zwar, dass dieser Kulturraum "offen" und "diversifiziert" (7) sein solle, schränkt diese Offenheit aber, da er zugleich als "den Europäern gemeinsam" bestimmt wird, auf die "Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt" (6; vgl. auch Art. 151, 1 des Amsterdamer Vertrags) ein;
4. bestimmt er die solcherart in sich diversifizierte Identität durch den Bezug auf ein "gemeinsames kulturelles Erbe", das es "hervorzuheben" (6; vgl. auch Art. 151, 1) bzw. zu "erschließen" (8) gelte.

Es ist hier nicht der Ort, die komplexe und in einer Reihe von Punkten zirkuläre Struktur dieser Momente (im Einzelnen wie auch in ihrem Zusammenhang) zu analysieren, die sich nicht zuletzt aus der Verflechtung der politischen Begründung eines Kulturprogramms einerseits und einer auf Kultur abhebenden Begründung einer politischen Gemeinschaft andererseits erklärt. Hervorzuheben ist jedoch, dass der Begründungsteil des Beschlusses über "Kultur 2000" gegenüber dem Kulturartikel des Amsterdamer Vertrages nicht nur ausdrücklich auf die Integrationsleistung der Kultur Bezug nimmt, sondern auch die beiden zentralen Begriffe der "Identität" und des "den Europäern gemeinsamen Kulturraums" einführt. Dies verstärkt nicht nur die funktionelle Verknüpfung des Kulturdiskurses mit der Diskussion um die "Grenzen der Erweiterung" (die im Übrigen erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs virulent wird, Ereignis, das die zentrale Vorbedingung für die mögliche diskursive Verknüpfung der EU mit "Europa" bzw. einer "europäischen kulturellen Identität" bildet); es schreibt vor allem auch die "kulturelle" Diversität in Europa explizit einer gemeinsamen zugrunde gelegten Identität ein und legt sie so verstärkt auf die nationale und regionale Vielfalt ihrer Mitgliedstaaten fest. In symptomatischer Weise die allgemeine politische Verweigerungshaltung gegenüber Migrationsrealitäten widerspiegelnd, erstreckt sich die Integrationsleistung, die diesen Kulturraum zu einer "lebendigen Realität" (8) werden lassen soll, also etwa nicht auf jene, die dieser Identität, sofern sie sich überdies in "Wurzeln" und "Erbe" mitteilen soll, schwerlich zuzurechnen sind. Wenn Art. 1 f des Beschlusses dennoch von einer "Förderung des interkulturellen Dialogs" spricht, dann nur, indem er ein zweites Modell der kulturellen Differenz ins Spiel bringt, das als Alterität bezeichnet werden könnte: jenes der Differenz zwischen "den europäischen und nichteuropäischen Kulturen".

Die Konkretion sozialer Integration durch das Instrument der "Kultur" weist hier direkt in den allgemeineren Zusammenhang jener Regierungstechniken, die auf eine Modellierung der Bevölkerung zielen, wie weit Imagination dieser Bevölkerung und soziale Realität auch auseinander klaffen mögen. Eine europäische Kulturpolitik, die sich in nationalstaatlicher Manier den Leitbegriffen der Identität und des gemeinsamen Kulturraums anvertraut, erscheint in dieser Perspektive als zumindest mittelbare Komplizin eines Migrationsregimes, das dem Faktum gesellschaftlicher Neuzusammensetzungen nicht anders zu begegnen weiß als durch Assimilationsdruck, polizeiliche Kontrolle, Grenzmilitarisierung und volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnungen. Das Problem betrifft jedoch nicht allein migrationspolitische Fragen. Es betrifft jene allgemeinere Frage, die das von Kaufmann und Raunig an den Anfang ihres Papiers gesetzte Deleuze-Zitat anspricht, nämlich "das Werden der Menschen": ihr Werden und Europäisch-Werden diesseits jeder Reduzierbarkeit auf ein "ererbtes" oder auch auf ein künftiges Europäisch-Sein. Der Akzent, den die Unionspapiere auf das gemeinsame kulturelle Erbe legen, zeigt am deutlichsten, wie weit gegenwärtige kulturpolitische Vorstellungen von dieser Frage entfernt sind. Er belegt am klarsten jenen Zug des Kulturbegriffs, den Walter Benjamin als "fetischistisch" beschrieben hat und der sich in abgewandelter Form auch an der Vorstellung der Bevölkerung zeigt, auf die dieser Begriff bezogen wird: "als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nicht von dem Produktionsprozess, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden". [10]

Ich schließe mit zwei kurzen Bemerkungen. Die erste bezieht sich auf eine These, die Monika Mokre in ihrem Kommentar zu dem Text von Kaufmann und Raunig formuliert hat: "Kulturpolitik", heißt es da, "ist - nicht nur, aber zu einem wesentlichen Teil - Identitätspolitik. Dies gilt für die nationale Ebene genauso wie für die supranationale." Daher gelte es (anstatt die im Zuge der "Vertiefung und Erweiterung des europäischen Projektes" virulent werdende "Identitätsfrage" auszublenden) "Möglichkeiten auszuloten, wie politische Identität positiver, dynamischer und weniger exklusiv als im nationalstaatlichen Rahmen gedacht werden kann". Der erste Teil von Mokres These mag, soweit er sich auf die historische Genese der "Kulturpolitik" unter den nationalstaatlich geprägten Bedingungen der politischen Moderne bezieht, zutreffend sein. Ebenso zutreffend ist es, wie wir gesehen haben, dass die "supranationale" Kulturpolitik der Europäischen Union identitätspolitische Züge trägt. Daraus jedoch eine Vorgabe für jegliche kulturpolitische Diskussion abzuleiten ist umso weniger einsehbar, als die "politische Identität" der EU, seit die Diskussion um sie "virulent" wurde, nicht "weniger exklusiv" geworden ist, sondern im Gegenteil exklusiver (wenn auch "erweitert" exklusiv). Die bloße Überschreitung des nationalstaatlichen Rahmens auf einen supranationalen Rahmen hin, dessen politische Bestimmung sich gleichwohl nach nationalstaatlichen Muster vollzieht, bedeutet per se nur eine Retablierung des Letzteren auf anderer Ebene. Zu den wesentlichen Konstitutionsbedingungen des "europäischen Projekts" gehört es aber, sowohl hinsichtlich seiner Gegenwart als auch (aus guten Gründen) seinem Gründungsimpuls nach, sich in Differenz zum politischen Projekt des Nationalstaats zu vollziehen. Auszuloten wären daher weniger die Möglichkeiten der Reformulierung von politischer "Identität", als die Möglichkeiten dieser Differenz, und dies konkret in den einzelnen Politikfeldern.

Meine zweite und damit zusammenhängende Bemerkung betrifft noch einmal die "Autonomie der Kultur" und zugleich die Form, die die eingangs beschriebene paradoxe Geste, die von einer Kulturpolitik Förderung und zugleich Nicht-Instrumentalisierung fordert, bei Kaufmann und Raunig annimmt. Die AutorInnen von "Anticipating European Cultural Policies" sprechen von einer "temporären Autonomie", die sie ausdrücklich als "politisches Konzept von Autonomie" ausweisen und nicht auf die "Kultur", sondern auf die Initiativen, Institutionen und Projekte im kulturellen Feld beziehen (S. 18). Der Sinn einer solchen temporären Autonomie kann nicht in der Zurückweisung der Instrumentalisierung liegen, sondern in der Forderung und im Ringen um ihre temporäre Aussetzung - um der Möglichkeit einer politischen Transformation willen, die demokratiepolitisch immer notwendig bleibt. Einer politischen Transformation, die zunächst das kulturelle Feld selbst betrifft, sowie die von Kaufmann und Raunig beschriebenen pluralen Öffentlichkeiten, Subjektivierungsformen und transversalen Überschreitungen, die in ihm entstehen und die es aufbrechen können. Eine politische Transformation, die eben darum aber auch die Beziehungen betrifft, die die AkteurInnen des kulturellen Feldes zu anderen gesellschaftlichen Feldern unterhalten, und damit letztlich die Distinktionslogik selbst.

Eine mögliche Konkretisierung einer solchen Aussetzung könnte etwa darin bestehen, im Rahmen des für 2004 vorgesehenen Förderungsschwerpunkts "Erhalt des kulturellen Erbes" eine Projektschiene einzurichten, die der kritischen Bearbeitung des Erbes des Kulturbegriffs gewidmet ist, mehr noch: einer vor diesem Hintergrund erfolgenden kritisch-experimentellen Auseinandersetzung mit den sozialen Funktionen des kulturellen Feldes als eines Erbes der politischen Moderne. Denn die Kulturgeschichte, so Walter Benjamin, "vermehrt wohl die Last der Schätze, die sich auf dem Rücken der Menschheit anhäufen. Aber sie gibt ihr die Kraft nicht, diese abzuschütteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen." [11]

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[1] Zit. nach: W. Benjamin, "Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker", in: Gesammelte Schriften II, 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, 476.

[2] R. Williams, Keywords. A Vocabulary of Culture and Society, London: Fontana 1976.

[3] Vgl. G. Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne. 1880-1945, Frankfurt/M.: S. Fischer 1999, 16.

[4] G. Simmel, Philosophie des Geldes, Leipzig: Duncker & Humblot 1900, 476 f.

[5] Th. W. Adorno, "Kultur und Verwaltung", in: Soziologische Schriften I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, 122.

[6] Vgl. bes. T. Bennett, Culture. A Reformer's Science, London / Thousand Oaks / New Delhi: Sage 1998.

[7] M. Foucault, "Die ‚Gouvernementalität'", in: U. Bröckling / S. Krasmann / Th. Lemke, Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, 61.

[8] T. Bennett, "Putting Policy into Cultural Studies", in: L. Grossberg / C. Nelson / P. Treichler, Cultural Studies, New York / London: Routledge 1992, 26.

[9] S. Nowotny, "Ethnos oder Demos? Ideologische Implikationen im Diskurs der ‚europäischen Kultur'", http://www.eipcp.net/diskurs/d01/text/sn01.html.

[10] W. Benjamin, "Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker", a. a. O., 477.

[11] Ebd., 478.