03 2010

Wunder in Moskau

Boris Buden

Stell dir vor: In Moskau ist ein Wunder passiert. Lenin ist auferstanden. Jeder, der noch von einer radikalen Veränderung des Bestehenden träumt, eilt hin, um von Wladimir Iljitsch die Antwort auf eine alte, bekannte Frage zu hören: Was tun? Doch seine Worte, die ersten nach mehr als achtzig Jahren im Sarg, hinterlassen alle sprachlos: Ich habe Hunger.

Jetzt schlägt die Stunde der Zagreber StudentInnen. Sie haben nämlich ein Kochbuch parat, genauer gesagt, das Besetzungskochbuch – eine praktische Anleitung zur Vorbereitung und Durchführung von Fakultätsbesetzungen im historischen Kontext des Kampfes gegen die neoliberale Transformation des Bildungswesens. Zugleich erzählt die Broschüre die Geschichte der tatsächlichen Besetzung der Philosophischen Fakultät in Zagreb, als im Frühjahr 2009 die StudentInnen eine der größten und angesehensten Bildungsinstitutionen in Kroatien fünf Wochen lang unter ihrer Kontrolle gehalten haben. Der Text berichtet also von einem wahren Ereignis und fasst die reflektierten Erfahrungen seiner Akteure zusammen. Das heißt, hier kann etwas gelernt werden. Die Erfahrung der Revolte ist die Lehre der Lernenden.

Doch Vorsicht! Wirklich lernen, heißt sich selbst in Frage zu stellen. Das gilt vor allem für jene, die ihren Blick auf die politische Realität, mit dem der Weltgeschichte verwechseln. An sich gibt es kein Zentrum und keine Peripherie. Ein Blick, der sich eingebildet hat, es gebe dort draußen eine Peripherie, auf welche er herabschaut, ist der Blick der aktuellen Hegemonie, nicht der des Zentrums, oder vielmehr, er ist ein Machtverhältnis. Wer also zum Zagreber Besetzungskochbuch greift und sich dabei denkt: Schauen wir mal, ob sie da unten im postkommunistischen Südosten inzwischen schon etwas von der Welt kapiert haben, hat selbst nichts kapiert. Der Studierendenprotest in Zagreb konnte überhaupt stattfinden, weil er sich zugleich als Protest gegen die globale Hegemonie artikulierte, die alleine den lokalen Machtverhältnissen ihre historische Legitimation verleiht. Die Rede ist von der Teleologie der so genannten postkommunistischen Transformation, die seit 1989/90 das ganze politische Leben in Osteuropa bestimmt. Im konkreten Fall: Die Einführung der Studiengebühren, die den Studierendenprotest direkt provoziert hat, wird in Kroatien als ein auf dem Weg des Landes in die Europäische Union notwendiger Modernisierungsprozess gerechtfertigt. Es geht lediglich um eine Anpassung an die „europäischen Standards“, heißt es im Jargon der postkommunistischen Transformation. Die lokalen Eliten unterstützen, in den Worten der StudentInnen, „den Mythos der EU als Zone allgemeinen Wohlstands“ um dadurch „die Abschaffung der erworbenen sozialen Rechte zu rechtfertigen“. Damit wird auch klar, worin der wahre ideologische Effekt der europäischen Integration besteht – nicht nämlich in einer räumlichen, sondern vielmehr in einer zeitlichen Exklusion. Sie teilt uns nicht so sehr in die einen, die drinnen und die anderen, die draußen sind, sondern in diejenigen, welche immer schon im Schritt mit der Zeit sind und diejenigen, welche sich verspätet haben und die versäumte Entwicklung erst nachholen müssen. „Der verspätete Modernismus“, so nannte man vor zwanzig Jahren den postkommunistischen Osten. Doch heute markiert diese Differenz nicht mehr die Außengrenze der EU. Vielmehr ist sie dem Projekt der europäischen Integrationen, soweit es sich den neoliberalen Reformen verpflichtet hat, immanent. Wo auch immer im heutigen Europa sich Menschen im Namen der alten sozialen Rechte zur Wehr setzen, werden sie zu Feinden des Fortschritts und Wohlstands, der Freiheit und Demokratie; kurz: sie werden zu Feinden Europas und ihre erworbenen sozialen Rechte, wie etwa jenes auf Bildung, werden zu Privilegien der Sozialschmarotzer, die auf dem Weg zum Wohlstand abgeschafft gehören. So ist es voriges Jahr in Zagreb gewesen, so war es und ist es in Wien und überall dort, wo man sich traut, die existierende Hegemonie herauszufordern. Doch das, was die Welt, gegen die die StudentInnen aufgestanden sind, spaltet, einigt sie, wo auch immer sie ihre Proteste erheben. So kämpfen sie heute weder in Zentrum, noch in der Peripherie des neoliberalen Kapitalismus – sie bekämpfen diese Differenz selbst bzw. jene Hegemonie, die uns zwingt, die Welt auf diese Weise zu differenzieren. Solidarität ist weder die Voraussetzung noch das Produkt dieses Kampfes, sondern seine eigentliche Form.

Daher auch ein Kochbuch und nicht etwa ein Manifest, oder eine Proklamation, ein offener Brief oder auch Thesen, zum Beispiel die „April-“ oder die „Maithesen“ bzw. die „sechs“ oder, warum nicht, „21 Thesen“. Man lädt einen in die Küche ein und nicht auf die Bühne der Weltgeschichte. In der Tat war die Besetzung der Philosophischen Fakultät in Zagreb weder ein theatralisches acting out, das für den Blick des Anderen inszeniert worden war, noch ein passage à l'acte, der heroische Sprung in den Abgrund radikaler Negation. Man nannte sie auch viel bescheidener: „Kontrollübernahme der Fakultät durch StudentInnen“. Ganz untypisch für eine klassische Jugendrevolte, redet man im Besetzungskochbuch immer wieder von Kontrolle und dabei denkt man vor allem an die Selbstkontrolle: Ordnung, Disziplin, Pünktlichkeit, Planmäßigkeit, Koordination, Sauberkeit, .... Der Zagreber StudentInnenprotest war völlig posthysterisch, also kein ödipales Drama, kein Autoritätensturz, keine kollektive Hormonausschüttung, kein Generationskrieg. Übrigens, an diesen Merkmalen erkennt man heute eher die Vorgangsweise einer neoliberalen Machtergreifung und Machtsicherung. Umso nützlicher sind die Erfahrungen der Zagreber StudentInnen. Sie sind gemacht und im Besetzungskochbuch präsentiert worden, um „anderen StudentInnen (auch den Mitgliedern anderer Kollektive, z.B. ArbeiterInnen in Fabriken), im In- und Ausland, dabei zu helfen, das Gleiche zu machen,“ etwa ein direktdemokratisches, kollektives Organ – das Plenum – zu gründen und organisieren. In Zagreb hat es fünf Wochen lang perfekt geklappt. Trotzdem wurde das Ziel – die völlige Abschaffung der Studiengebühren bzw. der kostenlosen Bildung für alle – nicht erreicht. Doch man kocht weiter. Diesmal aber nicht ohne Kochbuch.

Und Lenin? Dem bringen wir auch eine Köstlichkeit aus der Zagreber Wunderküche, damit er satt wieder einschlafen kann.


Vorwort zur Broschüre "Das Besetzungskochbuch: wie die Blockade der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb aussah"


http://eipcp.net/projects/creatingworlds/buden1/de
Wunder in Moskau