Die Krise besetzen

Zu den aktuellen Bildungs-Protesten und der Perspektive einer radikalen Veränderung

Lina Dokuzović, Eduard Freudmann

„Wir zahlen nicht für eure Krise!“ – hallt es weltweit durch die Universitäten. Die Signifikanz dieser Aussage liegt darin, dass sich ihre Schwungkraft nicht bloß auf Bildungsinstitutionen beschränkt, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen präsent ist und Aufmerksamkeit auf das grundsätzliche Scheitern des neoliberalen Kapitalismus und seiner Appropriation aller Lebensbereiche lenkt.

Der Bologna-Prozess bezeichnet eine Flut an homogenisierenden Reformen zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums (Higher Education Area – EHEA) und eines einheitlichen europäischen Forschungsraums (European Research Area – ERA). In der Einführung regulativer Normen zur Vergleichbarkeit von Bildungsstandards sieht EUropa die Voraussetzung zur Teilnahme am internationalen bildungsökonomischen Wettbewerb und zur Erhöhung forschungsabhängiger Profite. In Österreich brachte der Bologna-Prozess eine systematische Beseitigung demokratischer Strukturen an den Universitäten mit sich. Diese werden nunmehr nicht nur WIE Unternehmen geführt, sondern sukzessive so umgeformt, dass sie auch VON Unternehmen geleitet werden können – eine Entwicklung, die den Prinzipien der alles umfassenden Privatisierung und Kommodifizierung des neoliberalen Kapitalismus entspricht.

 
Die Akademie der bildenden Künste ist besetzt!

Auf Grund der Unzufriedenheit, die aus den jahrelangen Versuchen resultierte, die Zukunft der Institution demokratisch zu verhandeln, wurde am 20. Oktober 2009 eine öffentliche Versammlung von Akademieangehörigen vor dem Hauptgebäude einberufen. Die Teilnehmer_innen verlangten die Wiedereinführung demokratischer Strukturen und richteten diesbezügliche Forderungen an das Rektorat. Darüber hinaus bekundeten sie ihre Solidarität mit den weltweiten Bildungs-Protesten. Im Anschluss betraten rund 250 Personen das Gebäude, um die Aula der Akademie zu besetzen. Es wurde ein basisdemokratisches Plenum abgehalten, das entschied, die Besetzung des Raumes so lange aufrecht zu erhalten, bis die Forderungen erfüllt sind.

Zwei Tage danach zog eine Gruppe Demonstrant_innen von der Akademie durch verschiedene Universitätshörsäle der Stadt, wobei die jeweils Anwesenden zum Mitkommen aufgefordert wurden. Zu beachtlicher Größe angewachsen gelangte der Protestzug schließlich ins Audimax der Universität Wien, wo ein unmittelbar abgehaltenes Plenum den Raum für besetzt erklärte. Im Laufe der folgenden Tage breiteten sich die Proteste rasch auf andere Universitäten in Österreich und Europa aus und brachten hunderttausende Protestierende auf die Straßen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es 76 besetzte Universitäten in neun Ländern Europas – täglich kommen neue hinzu[1].

 
Emanzipatorische Sprechakte und Dezentralisierung

Die politischen Prozesse innerhalb der Proteste basieren auf kollektiver und konsensualer Entscheidungsfindung im Rahmen regelmäßiger Plena und offener Arbeitsgruppen, bestehend aus fluktuierenden Teilnehmer_innen. Wesentlich ist hierbei, dass keine fixen Sprecher_innen ausgewählt werden, sondern diese nicht-hierarchisch rotieren. Das Resultat ist eine direkte Art der Kommunikation und ein geringer Anteil neurolinguistisch-programmierter Reden (NLP); die Forderungen und Äußerungen der Gruppe werden in einer Art und Weise präsentiert, die nicht trainiert oder konditioniert ist. Ein Umstand, der als emanzipatorischer Sprechakt bezeichnet werden kann, da die bestehenden Codes kommodifizierter Sprache und deren Ausverkauf durch die Mechanismen des Sprechaktes selbst zurückgewiesen werden.

Ein weiteres signifikantes Element, das auf allen Ebenen der Proteste mitschwingt, ist Dezentralisierung. Diese resultiert aus der De-Demokratisierung der Universitäten, innerhalb derer alle demokratisch legitimierten Gremien zu pseudo-demokratischen Feigenblättern  degradiert und dadurch gänzlich ausgehebelt worden waren. Die Tatsache, dass die Sprecher_innen der Proteste weder durch Prozeduren der repräsentativen Demokratie ernannt werden, noch den österreichischen Parlamentsparteien zuordenbar sind, stellt Politiker_innen wie beispielsweise die Rektoren oder den Wissenschaftsminister vor das Problem, nicht zu wissen, wie mit den Protesten umzugehen ist.

 
Es geht um die Übernahme der ganzen verdammten Bäckerei

Insgesamt dominieren in den Protesten Kritik und Forderungen, die weit über den unmittelbaren Kontext von Bildung und Universitäten hinausreichen, da sie die Erkenntnis darüber beinhalten, wie sehr die neoliberale kapitalistische Marktlogik alle Bereiche des Lebens infiltriert, kommodifiziert, durch rassistische und sexistische Ausschlusspolitiken isoliert und jegliche Kollektivität, die durch die Proteste ein Stück weit etabliert wurde, zunichte macht. Die Authentizität der Proteste zeigt sich im Bewusstsein, Verbesserungen im Bildungssystem nicht erkämpfen zu können, ohne die Struktur und das System zu verändern, das ebendieses erschaffen hat – und dass solche Veränderungen nicht mittels homogenisierter Top-Down-Reformen sondern nur durch basisdemokratische Prozesse herbeigeführt werden können. Es geht nicht darum, ein größeres Stück vom Kuchen zu fordern oder einen eigenen Kuchen für sich zu reklamieren –, es geht um die Übernahme der ganzen verdammten Bäckerei.

Nach zwei Wochen Protesten begannen die ersten Aneignungsstrategien seitens etablierter politischer Kräfte. Viele ihrer Protagonist_innen waren selbst in der 68er-Bewegung (die in Österreich mit mehrjähriger Verspätung stattfand) aktiv und wissen, dass repressive Maßnahmen kontraproduktiv bei der Eindämmung von Protesten sein können, während Instrumentalisierung die Neutralisierung jeglicher Subversion ermöglicht. Darüber hinaus waren auch wohlmeinende Infantilisierungsstrategien zu erkennen, die die Umkehrung der Bildungsproteste in eine Art Erziehungsprotest[2] markieren: Beruhend auf ihren eigenen Marx-to-market-Biographien billigen die Repräsentant_innen des Systems nicht nur ein gewisses Quantum an Rebellion, sie betrachten ein solches sogar als lohnenden Bestandteil des Ausbildungsprozesses ihrer voraussichtlichen Nachfolger_innen, indem politische Fähigkeiten und Strategien erlernt werden, die zur erfolgreichen Ausübung künftiger Funktionen erforderlich sind.

 
Kunst und Kunstschulen als Paradigmen des neoliberalen Kapitalismus

Die Tatsache, dass die Proteste in Österreich von einer Kunstinstitution ausgingen, ist insofern beachtlich, als die Logik des Neoliberalismus auf einer Freiheit des Individuums beruht, der Künstler_innen und deren künstlerische Freiheit ziemlich genau entsprechen. Tatsächlich existieren nicht nur Bestrebungen und Tendenzen, Kunstinstitutionen näher an die marktfähige Kreativindustrien heranzuführen, Kunst und Kunstschulen können vielmehr als Paradigmen des neoliberalen Kapitalismus angesehen werden, in denen Künstler_innen und Kulturproduzent_innen zu Vorbildern eines zunehmend neoliberalisierteren Arbeitsmarkts ausgebildet werden[3].

Ein Beruf, der zum großen Teil auf Individualisierung, Image und Einzigartigkeit beruht, ist in seine Krise geschlittert, als die streikenden Studierenden und Lehrenden aufhörten, ich selbst und einander darin zu schulen, wie sie sich besser individualisieren sollen und stattdessen beschlossen, den bestehenden Strukturen kollektiven Widerstand entgegenzusetzen. Nachdem die Protagonist_innen jahrelang und unter veritabler Kollapsgefahr im Kreis gehetzt waren, markiert dieser Moment den Punkt, an dem die Katze durch den Biss in den eigenen Schwanz endlich realisiert, dass sie es selbst war, hinter der sie so lange herjagte. Allerdings dürfen wir nicht im Behagen dieses Moments verharren, sondern müssen damit fortfahren, ihn als Übergang zu begreifen und ihn dabei ständig in Frage zu stellen, anstatt Kollektivismus als Übungsfeld für unsere künftigen Karrieren als einzigartige, innovative Individuen zu benutzen. Tatsächlich liegt die große Ironie der Situation nicht darin, dass sich die gegenwärtige Welle internationaler Proteste am von sozialpartnerschaftlicher Tradition dominierten Österreich entzündet hat. Sie liegt vielmehr in der Tatsache, dass es mit einer Kunsthochschule ausgerechnet eine jener Maschinerien zur Produktion neoliberalisierter Individuen war, anhand derer das Paradox des gesamten Systems, welches um diese herum aufgebaut worden war, offenbart wurde.

 
„Bildungskrise“ und die Krise des Kapitalismus

Einige Protestierende haben sich auf ein „Endlosszenario“ als Protestmodell berufen, in dem die besetzten und angeeigneten Räume ohne Kompromisse selbstorganisiert bleiben. Womöglich markieren die weltweiten Proteste eine beginnende Repolitisierung und damit das Überschreiten der Talsohle, einer schier nicht enden wollenden Phase der Depolitisierung infolge neoliberaler Reformen. Insofern ist es notwendig, die derzeitige „Krise“ in der Bildung in direktem Zusammenhang mit der ökonomischen Krise zu sehen. Diese Verzahnung zeigt deutlich, dass alle Versuche der letzten Jahre, Bildung als wachstumsorientierten Zukunftsmarkt zu präsentieren, fehlgeschlagen sind. Daher wiederholen wir:  WIR ZAHLEN NICHT FÜR EURE KRISE!

Eine Wirtschaftskrise, die in Wirklichkeit das Scheitern des Kapitalismus höchstselbst widerspiegelt – eines Systems das fundamental auf Ungleichheit, Ausschluss und Konstruktion des „Anderen“ basiert und faktisch zum Tod des „Anderen“ um des Profit willen führt[4] –, zeigt an, welch extreme Stufe einer generellen gesellschaftlichen Krise erreicht worden ist. Sollte dies nicht berücksichtigt werden, würde daraus eine unleugbare Wiederholung und Reproduktion der alles umfassenden kapitalistischen Realität resultieren.

 
Bleiberecht und Bewegungsfreiheit für alle!

Die Einbeziehung jener, die nicht gut sprechen können und die Chance bekommen, zu sprechen, ist ein Anfang. Was aber beachtet werden muss, ist der Unterschied zu jenen, die überhaupt nicht sprechen können, weil ihnen dies verwehrt wird (Frauen, die sexistisch beschimpft und beleidigt werden, Muslim_innen, die von der Bühne gebuht werden, Migrant_innen, die ignoriert werden etc.) und der Unterschied zu jenen, die es sich nicht leisten können, anwesend zu sein. Es ist die Rede von jenen, die gezwungen sind, Tag und Nacht in prekären, illegalisierten oder halb-legalen Jobs zu arbeiten, weil sie der rassistischen Aufenthaltsgesetzgebung[5] und dem rassistischen Universitätsgesetz[6] unterliegen, von jenen, die vorzügliche Noten und ein Maximum an Produktivität in ihren Studien vorweisen müssen, um legal im gegebenen Land zu bleiben. Um zur Metapher der sich selbst beißenden Katze zurückzukehren: Jene, die ihre Zeit dafür aufwenden, nach Essen zu suchen, können es sich schlicht nicht leisten, mit ihrem Schwanz zu spielen. Die zentrale Forderung der Protestierenden „Freie Bildung für Alle!“ kann nur umgesetzt werden, wenn Bleiberecht und Bewegungsfreiheit für alle jenseits nationaler oder supranationaler Grenzen gewährleistet sind.

Daher schlagen wir vor, als ersten Schritt jene 34 Millionen Euro, die den Universitäten kürzlich vom Ministerium als Notfallmaßnahme „gewährt“ wurden[7], dafür zu verwenden, eine finanzielle Plattform zu schaffen, die es ALLEN ermöglicht – unter Berücksichtigung jener, die der rassistischen Politik unterliegen –, an den Protesten teilzunehmen, sodass die wirklichen Proteste beginnen können. Nur dann können wir fortfahren, unsere Forderungen zu artikulieren, unsere Aufmerksamkeit auf die Änderung der Universitätsstrukturen zu richten und den Einsatz etwaiger künftiger Gelder dementsprechend zu planen. Ein erfolgreiches Vorankommen, das keine diskriminierenden Bevorteilungen und Benachteiligungen reproduziert, ist nur möglich, wenn genau jene Strukturen der Unterdrückung direkt und vorrangig bekämpft werden, die bewusst in den Protesten angesprochen wurden. Verschiedene soziale Kämpfe, die – sofern sie isoliert geführt werden – zwangsläufig Teil der kapitalistischen Appropriation aller Lebensbereiche werden, miteinander zu verbinden, ist der einzige Weg, radikale Veränderungen zu erreichen.

 
Diese gekürzte deutsche Version erscheint in kulturrisse 04/2009.

 



[1] www.tinyurl.com/squatted-universities

[2] Im englischen Original: „turning the education protests into educationalized protests“. „Educationalization of Capital“ ist ein Begriff von Stewart Martin in „Pedagogy of Human Capital“, siehe: www.metamute.org/en/Pedagogy-of-Human-Capital

[3] Siehe: Isabell Lorey, „Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung, Zur Normalisierung von KulturproduzentInnen“. Unter: http://eipcp.net/transversal/1106/lorey/de  

[4] Siehe: Subhabrata Bobby Banarjee, „Live and Let Die: Colonial Sovereignties and the Death Worlds of Necrocapitalism“, Borderlands ejournal, Volume 5, Number 1, 2006.

[5] Um eine Aufenthaltsgenehmigung in Form eines Student_innenvisums zu erhalten müssen alle Nicht-EU/EWR-Bürger_innen in Österreich jährlich Bestätigungen über ein erfolgreiches Studium, eine gewisse Anzahl an absolvierten Lehrveranstaltungen, einen einwandfreien Leumund, den Besitz von mindestens 6.210 Euro u. Ä. vorweisen. Allerdings kann diese Summe nicht durch legale Arbeit verdient werden, weil jegliches Einkommen strikt geregelt und auf rund 300 Euro monatlich beschränkt ist.

[6] Obwohl oft von ihrer Abschaffung gesprochen wird, existieren Studiengebühren in Österreich weiterhin. Die Novellierung des Universitätsgesetzes 2008 befreit nur ausgewählte Gruppen von Studierenden, die größte davon sind Staatsbürger_innen Österreichs oder anderer EU-Länder, die in Mindestzeit studieren. Nicht-EU Bürger_innen müssen weiterhin zahlen als wäre nichts geschehen.

[7] Die Summe ist für die österreichischen Universitäten nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie ist Teil eines Budgets das ihnen kraft der letzten Gesetzesänderungen abgezwackt und dem Ministerium, als „Reserve“ tituliert, für Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber den Universitäten zugeschanzt wurde.


http://eipcp.net/projects/creatingworlds/dokuzovic-freudmann/de
Die Krise besetzen