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02 2012
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(Post)koloniale Sexualitäten, queere Aktionen

Assemblagen visueller und diskursiver (Wissens-)Produktionen im Prozess der Europäisierung

Ana Hoffner

Ana Hoffner

biography

Dieser Text beschäftigt sich mit visuellen und diskursiven Darstellungen, die Sexualitäten im (post)kolonialen Europa repräsentieren, herstellen und organisieren. Anhand eines Zeitungsartikels, einer Plakatkampagne, einer Initiative und der fotografischen Dokumentation einer Aktion im öffentlichen Raum soll der Versuch unternommen werden, unterschiedliche Sexualitäten (unterschiedliche Repräsentationen von Sexualitäten) in ihren räumlichen und zeitlichen Bezugspunkten zu beschreiben und gleichzeitig diese Verortungen, diese Zeitlichkeiten zu destabilisieren und einen Prozess, den ich den Prozess der Europäisierung von Sexualitäten nenne, in Frage zu stellen.

Europäisierung meint an dieser Stelle eine kontinuierliche Affirmation des Diskurses der europäischen Vereinigung. Durch Prozesse der Reinigung, des Weiß-Machens und Abtrennens des Unerwünschten, aber auch durch Prozesse der Einverleibung, der Integration und Anerkennung findet seit 1989 die Konstruktion eines einheitlichen geografischen, politischen und kulturellen Raumes als EU-Raum statt. Die Bekräftigung dieses Raumes durch die Osterweiterung der EU in den Jahren 2004 und 2007 sowie die andauernden Beitrittsverhandlungen für weitere Länder unterstreichen Europäisierung als hegemonialen Diskurs, der auf sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Ebenen gleichzeitig stattfindet und auch die Konstruktion und Organisation von Sexualitäten betrifft.[1]

Eine Infragestellung von Europäisierung muss am Diskurs der europäischen Vereinigung ansetzen und dadurch bedingt ihren Ausgangspunkt in der Auflösung geopolitischer und ideologischer binärer Verhältnisse des Kalten Krieges nehmen, also inmitten einer über zwanzigjährigen Geschichte queerer Politik, die als Kritik jener binären Verhältnisse begonnen hat. Um präziser zu werden, gilt es zu fragen, wie werden Sexualitäten im Diskurs der europäischen Vereinigung und den seit den 90er Jahren gewachsenen/ausgelöschten Alternativen hervorgebracht, gefördert und stabilisiert - oder schlichtweg unmöglich gemacht. Gleichzeitig gilt es zu fragen, welche Bedeutung queere/(post)koloniale Kritik im Prozess der Europäisierung gegenwärtig angenommen hat. Ist es möglich durch queerness in den Diskurs der europäischen Vereinigung einzugreifen bzw. sich in der bestehenden queerness von Sexualitäten, Diskursen, Visualitäten, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten zu bewegen?

In den folgenden Beschreibungen beziehe ich mich auf Arbeiten von Jasbir Puar und Robert Kulpa/Joanna Mizielinska, um zu zeigen, wie die gegenwärtige Idee von Europa als eine, die von einer Geschichte der europäischen imperialistischen und kolonialistischen Ordnungen geprägt ist, problematisiert werden kann.

Jasbir Puar entwickelt einen Begriff von queerness als assemblage, die weder eine Identität noch eine Anti-Identität darstellt, sondern einen „politischen und theoretischen Rahmen innerhalb von Kontrollgesellschaften“[2]. Puar arbeitet das Konzept der assemblage anhand der Figur des Selbstmordattentäters (als Spezifikation der Figur des Terroristen) heraus. Sie beschreibt diesen als einen Körper, der durch Elemente des Organischen wie des Anorganischen, des biologischen Körpers und technologischer Artefakte zusammengehalten wird, als eine temporäre Formation, die sich einer dialektischen Aufteilung durch die gleichzeitige Zerstörung des Selbst und des Anderen entzieht.[3] In diesem Sinne betrachtet Puar queerness als konstitutiven Bestandteil einer „terrorist assemblage“. Sie sieht in den Entgrenzungen der Körper durch Selbstmordattentäter einen Versuch, queerness als sexueller Identität eine Exklusivität zu entziehen, die sie im Rahmen gegenwärtiger Sexualpolitiken zu widerständiger und alternativer Praxis erklärt. Stattdessen schlägt sie vor auf einer Komplizenschaft queerer Praktiken mit dominanten Formationen zu bestehen.[4]

Aus der Figur des Terroristen wird  jedoch erneut eine identitäre, widerständige Position geschaffen, wenn Jasbir Puar sich zum Israel-Palästina-Konflikt äußert und Israel eine „gay propaganda“[5]  zuschreibt. Mit diesem Begriff versucht sie eine israelische Darstellung der eigenen Toleranz gegenüber Lesben und Schwulen zu kritisieren, die, so Puar, benutzt wird um Palästina als homophob, rückständig, terroristisch etc. zu stigmatisieren. Dabei entsteht jedoch erneut jene Opfer-Täter-Konstellation, die Puar zuvor kritisieren wollte. Die queere Lesbarkeit der Figur des Terroristen als assemblage wird erneut simplifiziert und fördert dadurch nicht nur eine antiimperialistischen Heroisierung, sondern auch eine anti-zionistische Politik, die Israel (an der Seite US-amerikanischer Außenpolitik) als imperialistischen Aggressor einstuft. Es ist daher notwendig das Konzept der assemblage weiterzuentwickeln und das Geflecht von Sexualitäten inmitten der Kontinuitäten und Brüche imperialistischer und kolonialistischer Herrschaft erneut zu diskutieren.

Im Folgenden möchte ich einer Konstruktion von sexuellen (Anti)Identitäten eine assemblage entgegensetzen, die gemeinhin nicht Bestandteil einer Diskussion um Sexualisierung ist, d.h. gar nicht als sexualisierte wahrgenommen wird. Ich werde zeigen, wie Elemente des neoliberalen Konservativismus, Nationalismus, einer sexuellen Rettungsmission, queerer Solidaritäten und (post)kolonialer Widerstandsbewegungen, die ich in den ersten drei Beispielen untersuchen werde, in einer Aktion von Lëvizja VETËVENDOSJE! (Movement for Self-Determination!) aus Kosova vermengt und neu zusammengesetzt werden. Ich möchte im Gegensatz zu Jasbir Puar nicht die durch Politik, Aktivismus und mediale Darstellung instrumentalisierten Identitäten selbst als assemblage herausarbeiten, sondern ihre Handlungen und ihren Umgang mit den sie umgebenden Diskursen, Materialien und Symbolen betonen, denen dabei eine ebenso wichtige Rolle zukommt wie den Akteuren selbst. Diese performative Dimension zu betrachten, bedeutet eine chronopolitische Verschiebung zu berücksichtigen wie Robert Kulpa und Joanna Mizielinska sie vorschlagen. 

Robert Kulpa und Joanna Mizielinska halten einer linearen, vereinheitlichenden europäischen Geschichtsschreibung, einer „Western ‚time of sequence’ “ eine „Eastern ‚time of coincidence’ “[6] entgegen. Während nach 1989 für den Westen die Fortsetzung einer geschichtlichen Kontinuität sichergestellt wurde, stellt diese Zeit für Mittel- und Osteuropa einen Bruch, aber auch die Koexistenz unterschiedlicher Zeiten aus der westeuropäischen linearen Zeitachse dar. In Anlehnung an einen Knoten (inspiriert von Diana Fuss’s Buchcover von Inside/Out) entwickeln sie eine Figur, die die Verknotung unterschiedlicher Zeiten, unterschiedlicher sexueller Politiken darstellen soll. Auf diese Weise können Kulpa und Mizielinska die Gleichzeitigkeit von Homophilie, lesbischwuler Identitätspolitik und queerem Aktivismus in Mittel- und Osteuropa nach 1989 als Zusammenstellung von Strategien aus unterschiedlichen Zeiten lesbar machen. Die verknotete Zeit bezeichnet eine queere Erfahrung[7] in Mittel- und Osteuropa und könnte in Anlehnung an Jasbir Puar auch als eine queere assemblage betrachtet werden.

Anhand des ersten Falls, eines Zeitungsartikels aus der Süddeutschen Zeitung, möchte ich zunächst auf die gegenwärtige Europakonstruktion aus neoliberal-konservativer Sicht eingehen. Es wird sich im Laufe der Analyse erweisen, auf welche Art und Weise diese Konstruktion nicht nur mit LesBiSchwuler Identitätspolitik sondern auch mit progressiver queerer antirassistischer Berichterstattung zusammenfallen kann. Der Artikel aus dem Jahr 2008 beginnt mit der Schlagzeile: „Homosexuelle in Osteuropa: Homosexualität ist in vielen osteuropäischen Ländern keinesfalls eine akzeptierte Angelegenheit. Im Gegenteil: Immer wieder greifen Rechtsextreme Paraden an.“[8]

Scheinbar tritt ein Ereignis in Erscheinung, das es notwendig macht von einer Teilung Europas zu sprechen. Nicht von Europa, sondern von OSTeuropa ist hier die Rede. Eine solche Benennung findet also weiterhin statt, obwohl unzählige Stimmen und Bilder seit Jahren auf einem einheitlichen, geeinten Europa bestehen. Insbesondere ein Jahr später, 2009, sollte eine Reihe von Feiern an das 20jährige Jubiläum des Falls des eisernen Vorhangs erinnern. Wie lassen sich die Zweifel an einem so mühsam stabilisierten Begriff der Einheit, vor allem aber die Darstellung eines Aufeinanderprallens verschiedener politischer Kräfte, die hier mitschwingen - Vereinigung versus Teilung – erklären?

Die Schlagzeile macht darauf aufmerksam, dass im beschriebenen Raum „immer wieder“ Ereignisse stattfinden, die die Idee europäischer Zusammengehörigkeit gefährden. Wenn von Osteuropa die Rede ist, dann wird eine Spezifikation dieses Raumes eingeführt. Bezeichnenderweise wird genau entlang von Sexualität erneut eine Grenzziehung versucht: „Die Grenze zwischen Westeuropa und vielen neuen EU-Mitgliedern zeigt kaum ein Thema so deutlich wie der Umgang mit Homosexualität.“[9] Im weiteren Verlauf der Artikels wird deutlich, warum es notwendig ist, diese Unterscheidung vorzunehmen und den Diskurs der Vereinigung durch einen Diskurs der Teilung zu verunsichern. „Männer mit Steinen, Glasflaschen und Molotowcocktails“ stören „die bunte Parade“[10], es sei zu Beschimpfungen und Übergriffen gekommen. Das beschriebene Gewaltszenario kennzeichnet auf keinen Fall das Europa der sexuellen Vielfalt und Toleranz, sondern den unspezifischen, peripheren Raum Osteuropas und der neuen EU-Mitglieder. Dieser Raum ist nicht Teil des Ganzen, es kann sich nicht um einen Teil der europäischen Einheit handeln, was die Androhung einer erneuten Abspaltung und die Konstruktion des „anderen“ Raumes rechtfertigen soll. In der Schilderung der Ausschreitungen wird  an bereits vorhandene Bilder blutiger Auseinandersetzungen angeknüpft, etwa während der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren, auf die direkt Bezug genommen wird: „Der erste Schwulenmarsch Serbiens im Jahr 2001 endete in einem Blutbad .“[11]

Was zu tradierten orientalistischen Imaginationen über den blutigen Balkan und das unzivilisierte Osteuropa hinzutritt, ist der gefährdete bzw. verwundete homosexuelle Körper. Darin lässt sich ein Diskurswechsel erkennen, der nationale Überlegenheit nicht mehr durch Heteronormativität definiert, sondern durch Einschluss des sexuell Anderen.  Hier manifestiert sich eine Politik, die in den meisten westeuropäischen Staaten in jüngster Vergangenheit vollzogen wurde, nämlich eine Politik der selektiven Integration und Normalisierung von sexueller Differenz. An die Stelle von Verbot und Stigmatisierung treten nun Staatsbürgerrechte in Form von Homo-Ehe, Teilhabe am Militär und kapitalistischem Konsum.[12] Dass dieser Einschluss auf der Basis eines massiven rassistischen Rückschritts, und dadurch nur für ausgewählte Schwule und ein paar Lesben stattfinden kann, möchte ich anhand der

Plakatkampagne „Liebe verdient Respekt“[13] verdeutlichen.

Es handelt sich dabei um eine Kampagne gegen Homophobie, die 2009 von der Beratungsstelle Courage für gleichgeschlechtliche und transGender Lebensweisen des LSVD (Lesben- und Schwulenverband Berlin Brandenburg) übernommen und im öffentlichen Raum sowie in Schulen, Jugendzentren und Jugendeinrichtungen umgesetzt wurde. Die Kampagne wurde in Wien von MA 17, zuständig für Integrations- und Diversitätsangelegenheiten mitfinanziert und sollte dazu beitragen Strategien gegen Homophobie und Intoleranz zu entwickeln – vor allem in migrantischen Communities. Dass Liebe Respekt verdient, war auf Serbisch/Kroatisch/Bosnisch und Türkisch vor dem Hintergrund sich küssender Paare zu lesen, deren geschlechtliche und ethnische Zugehörigkeit mehr als sorgfältig ausgesucht worden war, um ein liebevolles (sprich christliches) Miteinander trotz/wegen Differenzen zu suggerieren.

Die Plakatkampagne steht für die Interessenpolitik von LGBT-Einrichtungen, die aus den identitätspolitischen Kämpfen lesbischwuler Bewegungen der 1970er und -80er Jahre hervorgegangen sind und für den Einschluss und die Anerkennung in bereits vorhandene gesellschaftliche Strukturen gekämpft haben. In der Gegenwart sind manche dieser Ziele tatsächlich erreicht worden (siehe Eingetragene Partnerschaft). Aus einem Zuwachs an Staatsbürgerrechten folgen nun auch Anforderungen, dazugehörige Pflichten zu erfüllen. Die genannte Beratungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen ist dazu eingeladen, einen Gutachter für das österreichische Asylamt zu stellen und durch Feststellung einer wahren/falschen sexuellen Orientierung an der staatlich geregelten Abschiebepraxis mitzuwirken. Zwar gilt Homosexualität  in Österreich nicht als expliziter Asylgrund – Asylsuchende, die sich outen, werden aber trotzdem auf der Grundlage einer essentialistischen Zuschreibung „betreut“. (Oder auch nicht, wie die Abschiebung von Cletus B., dem Trainer des österreichisch-afrikanischen Fußballvereins Sans Papier, zeigt.)[14] Es zeigt sich, dass im Prozess der Europäisierung von Sexualitäten insbesondere jenen sexualpolitischen Kontexten, die noch bis vor kurzem in ihrer Selbstbezeichnung als aktivistisch, widerständig oder kritisch auftraten, eine besondere Rolle zugewiesen wird.

 „Transsexuelle aus der Türkei von der Abschiebung bedroht! Trans sein ist in der Türkei lebensgefährlich. Wir erfahren fast jeden Monat von einem Mord oder Hass-Verbrechen an einer Trans-Frau in der Türkei. Yasar darf nicht abgeschoben werden – es würde sie töten !“[15] Mit diesen Worten wurde zu einer Kundgebung am 8. Juni 2011 aufgerufen, die sich gegen homonormative Politiken wie die oben beschriebene abgrenzen wollte. Auch hier gibt es einen expliziten Einschluss, diesmal einer transsexuellen ethnisierten Person. Im Gegensatz zur positiven Darstellung einer kulturellen und sexuellen Vielfalt wie in der Plakatkampagne, wird hier auf eine dramatische Realität rassistischer Praxis verwiesen. In wenigen Sätzen erfolgt eine rasante Zuspitzung, die den dramatischen Effekt erzeugt: Bedrohung – Mord – Hass-Verbrechen – Abschiebung – Tod. Dieser Eindeutigkeit kann keine andere, weniger verabsolutierende Antwort entgegengesetzt werden, es gibt nur noch eine mögliche Positionierung und die umfasst eine Solidarität mit dem Opfer, dessen ausweglose, von lebensbedrohenden Umständen definierte Situation an keinem Punkt in Zweifel gezogen werden darf. Zu dieser Solidarität aufgerufen ist ein „Wir“ (und ich würde behaupten, dass es ein ähnliches kollektives „Wir“ ist, dass auch im Artikel der Süddeutschen Zeitung aufgerufen wird), das sich einerseits durch die Eindeutigkeit der Unterstützung und Hilfestellung definieren soll, andererseits durch seine Positioniertheit in einem „hier“, zum Unterschied zu einem „dort“. Diese bedarf außerdem keiner Darstellung, sie drückt sich aus in der Negation des außereuropäischen Raumes, in dem es lebensbedrohlich sein soll, transsexuell zu sein und folglich regelmäßige Morde und Hass-Verbrechen passieren.

 „Yasar hat in der Türkei vollständig als Frau gelebt. Ihr Personenstand ist allerdings noch männlich. In der Pubertät hat sie weibliche Formen entwickelt und es besteht der starke Verdacht, dass sie eigentlich intersexuell ist.“[16] Offensichtlich besteht die Notwendigkeit, auf den Aspekt der Trans/Intersexualität genauer einzugehen. Die Beschreibung einer geschlechtlichen Grenzüberschreibung ist notwendig, weil sie auf einer Einzigartigkeit[17] insistiert und damit erneut auf einer absoluten Setzung. Über die Beschreibung des zu untersuchenden Objektes kommt ein unsichtbarer Sprecher zu Wort, der vorgibt über ein Wissen über sexuelle Exklusivität und Transgressivität zu verfügen und sich durch das Näheverhältnis zu einer queeren Person konstituieren will. Queerness wird dabei als Anti-Identität begriffen, als Freiheit von allen regulierenden Normen eines heterosexistischen, transphoben und rassistischen Nationalstaates und erscheint für eine Position, die sich als widerständig gegenüber diesen Strukturen begreift als erstrebenswert.  Dabei wird jedoch übersehen, dass aus dem Pochen auf Eindeutigkeit einer politischen Position (als widerständig, exklusiv und anti-identitär) durchaus ein weiterer moderner Individualismus entstehen kann, der von denselben Strukturen durchzogen ist, die er bekämpfen will. So wird in einem wohlgemeinten Aufruf zur Solidarität eine koloniale Spaltung rekonstruiert, die Homophobie zuerst in anderen Gesellschaften verortet.

Wie könnte hingegen eine Praxis aussehen, die queerness nicht als (Anti)Identität, sondern als assemblage begreift und anstatt auf Figuren, die sich auffälligerweise immer an Schnittstellen unterschiedlicher Kategorien bewegen (Homosexuelle aus Osteuropa, Transsexuelle aus der Türkei etc.) den performativen Charakter einer Aktion, eines Prozesses, einer Handlung herausstreicht? Wie könnte eine Verknotung unterschiedlicher sexueller Politiken als queere Erfahrung dargestellt werden?

In einer Aktion von Lëvizja VETËVENDOSJE! (Movement for Self-Determination!) vom 25. August 2009 wurden 25 Jeeps der EULEX Mission im Kosovo umgedreht.[18] Die Dokumentation der Aktion zeigt eine Reihe von Männern, die an Seilen ziehen, um einen Jeep umzustürzen. Das Werk ihrer Arbeit ist in einem Triptychon auf dem Foto davor und danach zu sehen. (Ich erwähne das, um das Prozesshafte und in Bewegung Befindliche der Aktion herauszustreichen, das auf diese Weise ausgezeichnet dokumentiert wurde.) Ich möchte, gerade weil es den Anschein hat, dass diese Aktion keinem der oben beschriebenen sexuellen Felder zuzuordnen ist, versuchen, sie als sexualisierte zu lesen. Als Kosova als neuer Staat anerkannt wurde entstand seitens der internationalen Gemeinschaft die Behauptung, dass es sich um einen Fall sui generis handelt, also um eine einzigartige Situation, die nicht mit anderen, ähnlichen Beispielen von Staatengründung verglichen werden kann.[19] Dieser Versuch der Herauslösung aus der Geschichtsschreibung und Abspaltung aus dem räumlichen Gefüge zum Zwecke einer Isolierung macht es notwendig, Aktionen des Verdrehens, Aufwühlens und Umwälzens lesbar zu machen.

In der Aktion von Lëvizja VETËVENDOSJE! (Movement for Self-Determination!) ist eine queerness zu sehen, die zunächst darin besteht, alle Elemente der vorherigen Darstellungen zu vereinen: es handelt sich zweifelsohne um eine gewaltsame Aktion, einen Angriff, die phallische Aneinanderreihung der Männer ist ein homosoziales Ereignis und auch eines, das von Gemeinschaftsbildung und Solidarität durchzogen ist. Die Aktion ist sehr präzise in der Auswahl ihres phallischen Zentrums: Agon Hamza beschreibt den Jeep als Symptom des Neokolonialismus, der gebraucht wird, weil Kosova seitens der 1800 Richter, Diplomaten, Polizisten und Beamten, die die EULEX Mission bilden, als Dschungel oder als Wüste aufgefasst wird.[20] Das Aufwühlen dieser symbolischen Ordnung passiert durch die Konstruktion einer assemblage, in der Körper, Technologie und symbolische Ordnung verknotet werden.

Um die sexuelle Dimension dieses Ereignisses zu verstehen, möchte ich einen Rückgriff auf Gilles Deleuze’s Verwendung von assemblage, in diesem Fall im Deutschen mit Verkettung übersetzt, machen. Im Dialog mit Claire Parnet verwendet Deleuze den von ihm und Felix Guattari in Tausend Plateaus entwickelten Begriff assemblage, um Sexualität zu beschreiben, wie folgt: „Die Sexualität ist ein Strom unter weiteren, der sich mit anderen Strömen vereinigt, der Partikel in Umlauf bringt, die selbst wieder unter einem spezifischen Verhältnis von Schnelligkeit und Langsamkeit in die Nachbarschaft anderer Partikel eintreten. Keine Verkettung, die ausschliesslich nach einem Strom bestimmt werden könnte.“[21] Die Betonung liegt hier eindeutig auf Prozessen, Bewegungen, Handlungen, Abläufen... also auf einer zeitlichen Komponente, durch die sich Verkettungen herstellen und nicht von Akteuren hergestellt werden. Ein solches komplexes und nicht einfach identitäres Involvieren der Beteiligten zeigt sich in der Aktion von Lëvizja VETËVENDOSJE! (Movement for Self-Determination!), die unterschiedlichen Ströme leugnen die eigene Verwickeltheit nicht, sondern stellen sie heraus, sie versuchen eine Verdrehung bzw. eine Neuordnung und halten sich dabei nicht in Eindeutigkeiten auf. Inmitten des neokolonialen Raumes, der in der Absolutheit der politischen Entrechtung, ökonomischen Abhängigkeit und kulturellen Enteignung gehalten werden soll, entsteht eine assemblage, eine Verknotung, eine Verkettung, die auf einen Bereich jenseits der kolonialen Aufteilungen verweist. Es ist eine Artikulation, die nicht einfach gegen Gewalt und Ausschreitungen und für Liebe und Solidarität kämpft. Körper verbinden sich mit den sie umgebenden Symbolen, Materialien, Diskursen und Praktiken und verschieben sie, ohne sie zu vernichten. Es ist entscheidend, dass der Jeep nicht zerstört, angezündet oder geklaut wird, was seinen Wert bestätigen und seine Rolle nicht verändern würde. Stattdessen findet eine Auflösung der Zeichen statt, Elemente von Aufbau und Zerstörung, Staatengründung, queerer Solidaritäten, Fahrzeuge, Geschwindigkeiten und (post)koloniale Widerstandsbewegungen stoßen aufeinander. Statt einer dialektischen Aufteilung in Selbst und Anderer, die danach strebt ein Machtverhältnis aufrechtzuerhalten, befinden wir uns hier in einer queeren Entgrenzung von (anti)identitären Sexualitäten und damit einer radikalen Infragestellung des Prozesses der Europäisierung.

 



[1] Als nur eines von vielen Beispielen möchte ich auf die Definition von Europäisierung durch den Fond Open Society hinweisen. Dieser versteht unter Europäisierung einen Prozess, der die Integration europäischer Werte, Standards und Normen in nationale politische Öffentlichkeit, Rechtnormen und Verhaltensweisen umfasst. http://www.fosserbia.org/projects/project.php?id=675 (20.09.2011, Übersetzung: Ana Hoffner).

[2] Jasbir K. Puar, Terrorist assemblages: Homonationalism in Queer Times, Durham und London 2007,  S. 205.

[3] Ebd., S. 216.

[4] Ebd., S. 204.

[5] Vgl. Jasbir K. Puar, Israel’s gay propaganda warhttp://www.guardian.co.uk/commentisfree/2010/jul/01/israels-gay-propaganda-war (19.12.2009).

[6] Robert Kulpa und Joanna Mizielinska, “Contemporary Peripheries: Queer studies, Circulation of Knowledge and East/West Divide”, in: diess.: De-Centring Western Sexualitites: Central and Eastern European Perspective, Burlington 2011, S.15.

[7] Ebd., S.16.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Vgl. Antke Engel, „Bilder der Verführung in die privatisierte Verantwortung“, in: Sexuell arbeiten – eine queere Perspektive auf Arbeit und prekäres Leben, Hg.: Renate Lorenz und Brigitta Kuster, Berlin 2007, S. 271 - 288. Antke Engel untersucht wie Normalisierungsprozesse mit neoliberaler Umstrukturierung zusammenhängen und insbesondere Schwule und Lesben durch eine Analogisierung von Marktfreiheit und sexueller Freiheit eine Rolle im Neoliberalismus zugesprochen wird.

[14]  Cletus B. wurde am 5.Mai 2010 abgeschoben, nachdem sein Asylantrag, der das Argument der Verfolgung aufgrund von Homosexualität inkludiert hatte, abgewiesen wurde.

[16] Ebd., der letzte Satz wurde in der Aussendung über queere, feministische, antirassistische Mailinglisten verwendet und in der Online Publikation weggestrichen.

[17] Puar, Terrorist assemblages: Homonationalism in Queer Times, S.3.

[18] Lëvizja VETËVENDOSJE!, “Damage to a big damage: Overturning 25 EULEX jeeps on 25 august 2009”, in: Reartikulacija: Artistic – Political – Theoretical – Discursive Platform, Ljubljana 2009, Nr. 8, S. 1.

[19] Vgl. Marina Grzinic, “Art, Activism and Theory“, in: Playing by the Rules: Alternative Thinking/Alternative Spaces, Hg.: Steven Rand und Heather Kouris, New York 2010.

[20] Lëvizja VETËVENDOSJE!, S. 1.

[21] Gilles Deleuze und Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt a. Main 1980, S. 109.