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02 2008

Auf dem Weg zum „Gipfel der soziologischen Kunst“

Pierre Bourdieus selbstreflexive Praxis im Licht des fotografischen Archivs

Beatrice von Bismarck

Die in Algerien entstandenen Fotografien Pierre Bourdieus nach 40 Jahren in umfassender Weise zu veröffentlichen bedeutet im Benjamin’schen Sinne, ein Archiv „auszupacken“: Jede einzelne Aufnahme gilt es in die Hand zu nehmen, ihre Geschichte zu erzählen – Motiv, Entstehungszeit und -ort, die Umstände der Aufnahme – und sie in unterschiedlichen diskursiven Zusammenhängen innerhalb der Praxis ihres Besitzers zu begutachten.[1] Mit dieser Archivlogik ordnen die Fotografien die verschiedenen Praxisformen Bourdieus in neuen, bedeutungsverschiebenden Konstellationen an.[2] In diesen illustrieren, belegen und unterstützen sie die in den wissenschaftlichen Schriften entwickelten Theorien, generieren sie nicht selten überhaupt erst; sie gehen gleichzeitig aber auch über diese einseitige Indienstnahme hinaus, fungieren sie doch als (Zerr-)Spiegel der Theorien, der einzelne Partien überdeutlich vergrößert, transformiert oder andersartig verknüpft. Die hier anschließenden Überlegungen verfolgen diesen Effekt. Den Rahmen bilden die unterschiedlichen Gebrauchsweisen der Algerienbilder seit Bourdieus Rückkehr nach Frankreich 1961: ihre fast völlige Vernachlässigung innerhalb seiner wissenschaftlichen Arbeit in den darauf folgenden 40 Jahren einerseits und die Rückbesinnung auf sie in zeitlicher Nähe zu seiner seit 2000 betriebenen Arbeit an einem „soziologischen Selbstversuch“ andererseits.[3]

Grundlegend für die Bedeutung, die die Fotografien für die Praxis Bourdieus besitzen, erscheint, dass sie, obwohl sie nur mehr einen Ausschnitt des ehemals erstellten Konvoluts repräsentieren, Auskunft geben über einen spezifischen fotografischen Blick. Aus ihm leuchtet ein für Bourdieus Praxis bestimmender Habitus ebenso hervor wie eine durch diesen Habitus geprägte Position. In mehrfacher Hinsicht manifestiert sich in ihnen eine Form der Ambivalenz und Zerrissenheit Bourdieus – gegenüber seinem Gegenstand, seiner wissenschaftlichen Disziplin und seinem intellektuellen Umfeld –, die sich sowohl als Antriebsfeder seiner Arbeit als auch als Begründung für deren politische Bedeutung verstehen lässt.

So ist zunächst motivisch vielen der Fotografien die Auseinandersetzung mit „verschiedenen, dissonanten Realitäten“[4] gemein: die Überschneidung unterschiedlicher Zeit- und Raumstrukturen, die durch das Aufeinanderprallen agrar- und industriegesellschaftlicher Kulturen in der historischen Umbruchphase der 1950er und 1960er Jahre zustande kam. Die sozioökonomischen, religiösen, urbanistischen oder technischen Implikationen schlagen sich in Aufnahmen der Gegensätze zwischen traditionellen und neuen Bauten und Bildern der ländlichen Motorisierung ebenso nieder wie in solchen von Angeboten an Zeitungskiosken, Exponaten und BesucherInnen einer Messe oder der Arbeit im Weinanbau. Während sie sich in ihrer Gesamtheit zum Porträt einer gesellschaftlichen Entwicklungsphase Algeriens zusammenfügen, exemplifizieren die ins Bild gesetzten Kontraste zugleich ein Moment jener Unvereinbarkeit, die sich wie ein roter Faden auch durch den Werdegang Bourdieus hindurch verfolgen lässt. Wiederholt spricht er rückblickend in Ein soziologischer Selbstversuch von seinem „gespaltenen“ Habitus, der das Ergebnis einer „Versöhnung von Gegensätzen“ sei.[5] In diesen Habitus hinein spielten sowohl seine eigene soziale Herkunft, die ihn in Differenz zu den vorherrschenden Provenienzen des wissenschaftlichen und intellektuellen Feldes setzte, als auch seine selbstreflexive wissenschaftliche Methode, brachte sie ihn doch in Konflikt mit den Disziplinen, in denen er sich bewegte, zuerst mit der Philosophie und dann vor allem der Soziologie. Vor allem aber befand er sich im Feld der Intellektuellen mit seiner Forderung, den „scholastischen Bias“, mit dem die Welt als Schauspiel von außen betrachtet wird, aufzubrechen und ihn durch eine engagierte, mitfühlende Teilnahme zu ergänzen, in einer ambivalenten Position.[6] So wenig angesichts dieses empfundenen „Doppellebens“ seine Sympathie für die Gestalt des ahmabul verwundert – einer Persönlichkeit, entrückt, unberechenbar und von scharfem Verstand, die „zwischen allen Stühlen, zwischen verschiedenen Lebensweisen, verschiedenen Kulturen, manchmal sogar zwischen den Religionen“ steht, aber „dennoch in hohem Maße gehört und geachtet wird“ –, so wenig erstaunt auch die fotografische Wahl von Motiven, in denen sich das Aufeinandertreffen von kulturellen, sozialen oder ökonomischen Diskrepanzen manifestiert.[7]

Darüber hinaus besitzen Formen des unvereinbar Scheinenden in den Fotografien auch eine strukturelle Dimension, insofern diese in Form der variierenden Wiederholung in Erscheinung treten. Selbst aus dem reduziert erhalten gebliebenen Korpus wird deutlich, dass sich Bourdieu nicht mit Einzelaufnahmen begnügte, sondern von bestimmten Orten oder Situationen eine Vielzahl von Aufnahmen machte, für die er Zeitpunkte oder Standorte jeweils leicht variierte. Erst die umfassende Ausstellung der Fotografien erlaubte den Blick auf solche Werkgruppen, wie sie etwa die Aufnahmen auf der Straße von Aïn Aghbel, Collo[8], an der Kreuzung oder am Zeitungskiosk in Blida[9], des Umsiedlungslagers von Djebabra, Chélif[10] oder der Schwefelung der Weinstöcke in der Ebene von Mitidja[11] darstellen. Die Serien entkräften die dokumentarische Macht des Einzelbildes, verbinden den Bildgegenstand erst in der Zusammenschau und verzeitlichen ihn. Nicht zuletzt geben sie den fotografischen Akt zudem als einen Repräsentationsakt zu erkennen, stellen damit dem vermeintlichen Objektivismus des Fotografischen einen Subjektivismus gegenüber. Die Vermittlung zwischen objektivem und subjektivem Zugang, die Bourdieu in Un art moyen wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Algerien unternommen hat,[12] ist ein erster Ausdruck seines Anspruchs, wissenschaftliche Objektivierungsprozesse stets erneut selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Objektivierungen zu machen. Er wurde in den Folgejahren in unterschiedlichen Zusammenhängen weiter ausgebaut.[13] Darüber hinaus manifestiert sich in der mehrfachen Annäherung an gleiche oder ähnliche Bildgegenstände der Zweifel an der Autorität wissenschaftlicher Aussagen und Resultate der Forschung, mit dem er sich selbst auch auf Distanz zu seiner Disziplin brachte. Anstatt zu behaupten, „ so ist es“[14], steht das, was sich im Foto zeigt, für eine von mehreren möglichen Erscheinungsformen. Das Präsentierte wird eingestellt in ein veränderbares Bezugssystem von Positionen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eingenommen werden. Übertragen auf seine gesamte Praxis hatte diese „Flatterhaftigkeit“, mit der er sich einer „Verengung des Gegenstandsbereichs“ verweigerte, dieser „radikale Zweifel“, der die wissenschaftliche Doxa und ihre Regeln zum Gegenstand erklärt, für Bourdieu selbst eine „unmögliche Position“ innerhalb des Mikrokosmos des soziologischen Feldes zur Folge und machte ihn zum „Vogelfreien“.[15]

Die Zerrissenheit, die sich motivisch und strukturell in den Fotografien niederschlägt, setzt sich sowohl in der Position fort, die Bourdieu als Fotograf seinen Objekten gegenüber einnahm, als auch in der Art und Weise, wie er von den entstandenen Aufnahmen Gebrauch machte. Einerseits ist für seine Bilder der respektvolle Abstand kennzeichnend, mit dem er seinem fotografierten Gegenüber begegnete. Zu sehen sind weder entlarvende Schnappschüsse, konfrontative Nahaufnahmen oder arrangierte Gruppenporträts. Stattdessen halten die Bilder die Personen häufig aus einem schrägen Aufnahmewinkel, in der Rückenansicht oder im verlorenen Profil fest, bannen sie weniger ins unbewegte Standbild, als dass sie die Menschen an sich vorüberziehen lassen. Auf einer Straße in Collo streifen die Wasser tragenden Frauen einzeln und in Gruppen an der Kamera vorbei[16]; auf einer Straßenkreuzung in Blida verfängt sich im Bildausschnitt mit kaum merklicher Standortverschiebung ein breites Spektrum vorbeilaufender PassantInnen[17]; Wege, Straßen und Häuserzeilen lassen – wie die Reihenanordnung der Personen und Gegenstände auch – in ihren Fluchten den Ausweg in die seitliche Bildtiefe[18]. Selbst dort, wo sich die Fotografierten, wie etwa in den Aufnahmen aus Aïn Aghbel[19], dem Fotografen zuwenden und direkt in die Kamera blicken, bleibt diese selbst auf Abstand und belässt den Personen ihren eigenen Bild- und Bewegungsraum.

Andererseits zielte Bourdieus Einsatz des Mediums Fotografie darauf, zu „verstehen“, damit Distanz zu verringern und Nähe zu den Aufgenommenen herzustellen. Für Bourdieu veranschaulichen die Aufnahmen nicht nur seine „Liebe für das Land“, sondern sie sollten den algerischen Bauern und Bäuerinnen ebenso wie den StadtbewohnerInnen auch ein Beweis sein für ein „Ich interessiere mich für Euch, ich stehe auf Eurer Seite“[20]. Sie sind für ihn Ausweis seines an sich selbst gerichteten Anspruchs, das Gegenüber nicht „als Gegenstand zu denken“, sondern „mit ihm zu tun zu haben[21]. Dass er die Partei nehmende, politische Dimension dieser frühen fotografischen Praxis in seiner nachfolgenden Arbeit, wie er selbst urteilt, „verraten“ habe, begründet er bedauernd mit „scholastischer Verantwortungslosigkeit“[22]. Von dieser akademisch perspektivierten Selbstbezichtigung abgesehen findet sein Vorgehen auch in der medialen Bedingtheit der Fotografie einen adäquaten Spiegel. Als ein zwischen Distanz und Nähe oszillierendes mediales Verfahren entspricht die Fotografie Bourdieus eigener sozialer, wissenschaftlicher und intellektueller Gespaltenheit. Die Ambivalenz zwischen Solidarität mit den Opfern einerseits und Mittäterschaft andererseits, zwischen der Achtung gegenüber dem individuellen Subjekt und dessen Verwandlung in einen soziologischen und ethnografischen Untersuchungsgegenstand oder auch zwischen wissenschaftlicher Beobachtung und politischer Einsatzbereitschaft verfängt und reflektiert sich in den Eigenheiten des fotografischen Mediums.

Mit den der Fotografie immanenten Eigenschaften von Absenz und Nachträglichkeit kann außerdem deren dokumentarische, auf zeitliche wie physische Distanz angelegte Qualität an Gewicht gewinnen. Entsprechend dienten Bourdieus Aufnahmen nach ihrer Erstellung vor allem der Erinnerung an – im Prozess des Umbruchs – bereits nahezu Vergangenes.[23] Sie wandelten sich damit von sozialen Annäherungsakten zu materiellen Erinnerungsspeichern. Als „Stock“, ein auf spätere Nutzung wartender und sich gleichsam auch erst durch diese legitimierender Bilderfundus, entfernten sie sich von ihrer ursprünglichen funktionalen Direktheit und Präsenz. In Algerien noch ein symbolisches Unterpfand im Tausch von mitfühlendem gegen beobachtendes Interesse, konzentrierte sich der Gebrauch der Fotografien nach Bourdieus Rückkehr nach Frankreich auf die wissenschaftliche Objektivierung.

Hand in Hand mit dieser Vereinnahmung seiner Fotografien durch die eigene soziologische Forschung fand das fotografische Medium mit der im direkten Anschluss beginnenden Arbeit an Un art moyen zwar einerseits als Untersuchungsgegenstand Eingang in Bourdieus wissenschaftliche Arbeit, verschwand dafür aber andererseits nahezu gänzlich als Anschauungsmaterial. Bis zur aktuellen Veröffentlichung des Archivbestands tauchten die Aufnahmen nur vereinzelt als Cover der französischen Ausgaben mancher seiner Bücher oder als Illustrationen auf; die überwiegende Zahl blieb unsichtbar und ungenutzt. In dieser Gebrauchsweise zeigt sich eine Selbstbeschränkung, die sowohl hinter Bourdieus fotografiebezogener Forschung als auch hinter seiner disziplinären Unabhängigkeit, die ihn von der Philosophie zur selbst erlernten Soziologie und Anthropologie gebracht hatte, zurückbleibt. Im Jahre 2001 begründet er dies im Rückblick damit, dass die Fotografien nicht hinreichend „seriös“ und „wissenschaftlich“ waren, sondern ihm eher „narzisstisch“ und „selbstgefällig“ erschienen, hielten sie doch seinen Blick fest, den er selbst als „liebevoll, oft auch gerührt“ bezeichnet.[24] Für den Ausschluss der fotografischen Bilder sind damit offenbar gerade solche Eigenschaften verantwortlich, um deretwillen er sich ihrer in erster Instanz bedient hatte. Dass er sich der wissenschaftlichen Regulierung damals freiwillig unterwarf und erst im Nachhinein in der Orientierung an den fotografischen Aufnahmen ein ungenutztes Potenzial sah, klingt in dem Interview von 2001 vorsichtig an.[25] Solche Formulierungen legen es nahe, den Verzicht auf die eigenen Fotografien seit den 1960er Jahren als eine Selbstpositionierungsstrategie im wissenschaftlichen Feld zu begreifen. Er opferte sie im Prozess seines disziplinären Wechsels vermutlich Anerkennungsanforderungen, war das fotografische Bild doch aus der Soziologie früh verbannt worden, nachdem es zunächst in einer eher journalistischen Weise genutzt worden war.[26]

Dennoch erstaunt die Rigidität dieser Unterwerfung unter die Regeln der Disziplin. Bourdieu unterdrückte mit dem Medium nicht nur ein Ausdrucksmittel, das in besonderem Maße in seiner eigenen Gespaltenheit den Anspruch der „teilnehmenden Beobachtung“ verkörperte und das außerdem in prägnanter Weise seine eigene „unmögliche Position“ motivisch und strukturell zur Anschauung bringen konnte. Er verzichtete zudem auch auf ein Medium, das sich – diese beiden Aspekte verbindend – als Mittel „teilnehmender Objektivierung“ angeboten hätte, wie sie für Bourdieus Forschung und Theoriebildung zunehmend an Bedeutung gewinnen sollte. Umso mehr rückt dieser gegen sich selbst gerichtete Kraftakt die späte Kehrtwendung in den Blick, die man in der Bereitschaft sehen muss, die Fotografien nach 40 Jahren doch noch zu veröffentlichen. Denn bleibt die eigene Fotografie auch bis zu seinem Tod weitgehend aus der selbstreflexiven Analyse ausgespart, so erfolgt die Entscheidung zu ihrer Veröffentlichung doch im historischen Kontext einer bestimmten Entwicklung seiner Praxis, die gerade die Bedeutung des dissonanten Habitus und des Konzepts der „teilnehmenden Objektivierung“ nochmals untermauerte.

Das betrifft zuerst die Nähe zum Gegenstand, die „libido sciendi[27]. Sie verbindet Bourdieus fotografisches Forschungsverfahren mit bestimmten Techniken des Interviews. Beide Formen der Datensammlung zeichnen aus seiner Sicht die EthnologInnen im Vergleich zu den SoziologInnen positiv aus, seien sie doch bereit, „sich selbst mit der Realität zu konfrontieren, sie eigenhändig zu photographieren, in eigener Person zu befragen“, anstatt InterviewerInnen samt Fragebogen dazwischenzuschalten und aus abgehobener Warte mit abstrakter Begrifflichkeit auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu blicken.[28] In den 1990er Jahren unterzog er im Zusammenhang mit der Arbeit an La misère du monde (1993) die Interviewtechnik einer eingehenden kritischen Reflexion. Den in diese Konstellation teilnehmender Objektivierung eingeschriebenen sozialen Problemen kultureller und sozialer Asymmetrie sowie den daran geknüpften Effekten symbolischer Macht begegnet er mit einer Haltung, die eine „Art intellektueller Liebe“ mit der ständigen Kontrolle des eigenen Standpunkts verbindet.[29] Die darin definierte Offenheit, „die bewirkt, dass man die Probleme des Befragten zu seinen eigenen macht“, und ihn „zu nehmen und zu verstehen, wie er ist, mit seiner ganzen Bedingtheit“, zeichnet auch Bourdieus Gebrauchsweise der Fotografie aus.[30] Es fehlt bei ihm jedoch das selbstanalytische Resümee der eigenen Position als Fotograf, mit dem er für die Technik des Interviews auf ein Selbstverständnis des/der InterviewerIn im Sinne eines „Standpunkt[s] im Hinblick auf einen Standpunkt“ dringt.[31] Insofern vermisst man eine Stellungnahme zu seiner eigenen z. B. bildungs- und professionsspezifisch machtdurchzogenen Stellung gegenüber den Personen, die er in Algerien fotografierte. Etwas Ähnliches gilt auch für die ausgebliebene Problematisierung bildgebender Verfahren sowie des „Marktes“, auf dem sie gehandelt werden – Aspekte, die zwar Eingang in die Untersuchung zu den Gebrauchsweisen der Fotografie aus dem Jahre 1965 fanden, ohne dass jedoch die eigene fotografische Praxis mit einbezogen worden wäre. Ausgespart bleiben schließlich auch sämtliche Perspektiven, mit denen die Fotografien in Stellung zu anderen Äußerungen oder Methoden Bourdieus hätten gebracht werden können, etwa die Frage nach dem Einsatz und der Funktion des symbolischen Kapitals, das im Rahmen der Veröffentlichung der Bilder zum Tragen kommt.

 

Diese Leerstelle in den Schriften Bourdieus wird im Lichte der Herausbildung solcher Wissenschaftsgebiete wie der Visuellen Ethnografie, der Bildwissenschaft und der neuen Kulturwissenschaft, wie sie sich seit den späten 1980er Jahren abzuzeichnen beginnt, aber auch der Entwicklung der bildenden Kunst um so offensichtlicher. Die Aufwertung des Visuellen im Rahmen von wissenschaftlicher Analyse und Theoriebildung einerseits und die selbstkritische Auseinandersetzung mit deren Voraussetzungen und Bedingungen durch die künstlerische Institutionskritik andererseits blieben für Bourdieus Arbeit zunächst folgenlos, obwohl in den 1990er Jahren Kontakte zu Hans Haacke und Andrea Fraser bestanden, also zu HauptvertreterInnen dieser künstlerischen Richtung. Gerade sie jedoch erlauben eine Lesart der späten Einwilligung Bourdieus in die Veröffentlichung seiner Fotografien im Sinne einer selbstentwerfenden archivarischen Praxis. Aus „institutionskritisch“ verfahrender Warte überführt die Ausstellung der Algerienbilder den Speicherzustand seiner fotografischen Sammlung in eine Zeitlichkeit, die eine Nutzung des Bestands als einen „Standpunkt im Hinblick auf einen Standpunkt“ zulässt. Im Zuge dieser Verwandlung kann die Fotografie als eine Praxisform Bourdieus in Funktion treten, die aus einer gleichberechtigten Position heraus bedeutungsstiftend auf seine anderen Praxisformen einwirkt.[32] Zunächst stärkt sie nochmals nachdrücklich die Bedeutung teilnehmender Objektivierung und unterstreicht – wie die Interviewtechnik – eine Form des „Verstehens“, die eine affektive und gedankliche Nähe zu einem Gegenüber mit dem Bewusstsein für die unüberbrückbare gesellschaftliche Distanz paart. Des Weiteren gerät Bourdieu infolge dieser Stärkung des Aspekts der Anteilnahme, aufgrund dessen er die Fotografien ursprünglich nicht für nutzungswürdig gehalten hatte und daher zur wissenschaftlichen Selbstzensur griff, in den 1990ern zum selbstbewusst vorgetragenen Außenseiterkriterium innerhalb seines hauptsächlichen disziplinären Feldes. Trug das „commitment[33], das sich in den Fotografien abzeichnet, in seiner eigenen Einschätzung in den 1960ern und 1970ern noch zu einer potenziellen Schwächung seiner Position im soziologischen Feld bei, so stärkt es 30 Jahre später bei den Interviews, im performativen Verlass auf seinen bereits etablierten akademischen Status, eher seine mit den Besonderheiten einer Zwischenposition ausgezeichnete Stellung als Wissenschaftler.

Aus dieser Perspektive bindet die Rückbesinnung auf die Fotografie, auf eine Informationssammlung aus seiner frühesten Forschungstätigkeit im Feld der Soziologie und Ethnologie, seine gesamte wissenschaftliche Praxis zusammen und subsumiert sie unter dem methodischen Signet teilnehmender Objektivierung. Zwischen Empathie und Distanz, Engagement und Beobachtung lassen die ausgestellten Fotografien in dem für Bourdieu relevanten wissenschaftlichen Feld die um Deutungshoheit ausgetragenen Kämpfe mit ihren temporären GewinnerInnen und VerliererInnen, ihren Opfern, Strategien und Positionierungen sichtbar werden. Der Balanceakt zwischen den kontrastierenden Werten weist Bourdieus Position zudem immer schon als eine Stellung aus, die an den Überschneidungsflächen unterschiedlicher Felder – mit ihren jeweiligen Medien, Haltungen und Strategien – angesiedelt ist. Die Ausstellung seiner in Algerien hergestellten Bilder revidiert schließlich die 40-jährige Aussparung der Fotografie, legt die Voraussetzungen und Annahmen bloß, die diese Auslassung bedingten, lässt die Objektivierung der eigenen objektivierenden Arbeit zu, die er als Schritt hin zum „Gipfel der soziologischen Kunst“ versteht.[34] Insofern stellt die Bereitschaft, die Fotografien am Ende seines Lebens zu veröffentlichen, eine Form des selbstkritischen und umdeutenden Rückblicks dar, der in Parallele und Ergänzung zu seinem textuellen „Selbstversuch“ zu sehen ist.[35] Er ermöglicht den Blick auf die Gesetze, die die Diskursproduktion in dem Verhältnis seines Habitus zu seinem „Markt“ regulieren, wie ihn die Entwicklungen der auf das Visuelle bezogenen Wissenschaften sowie der bildenden Kunst konstituieren; er macht verschiedene Platzierungen und Platzwechsel Bourdieus im Ablauf seiner Lebensgeschichte nachvollziehbar; und er vermeidet die Falle der Autobiografie, gegen die Bourdieu sich in seinen Schriften so ausdrücklich wandte, indem er das eigene wissenschaftliche Feld durch dessen Neukontextualisierung im Verhältnis zum Visuellen zum Subjekt und Objekt der selbstreflexiven Analyse werden lässt.



[1] Vgl. Walter Benjamin, „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“ (1931), in: Ders., Medienästhetische Schriften, Frankfurt a. M. 2002, S. 175–182.

[2] Zur Politik der Bedeutungsstiftung und -verschiebung innerhalb archivarischer Praktiken vgl. Allan Sekula, „Reading an Archive“, in: Brian Wallis (Hg.), Blasted Allegories. An Anthology of Writings by Contemporary Artists, New York / Cambridge, Mass. / London 1987 (1993), S. 114–127 (Auszug aus Allan Sekula, „Photography between Labour and Capital“, in: Benjamin H. D. Buchloh / Robert Wilkie (Hg.), Mining Photographs and Other Pictures. A Selection from the Negative Archives of Shedden Studio, Glace Bay, Cape Breton, 1948-1968. Photographs by Leslie Shedden, Halifax 1983).

[3] Vgl. Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt a. M. 2002. Zur Vorgeschichte dieser Publikation vgl. Franz Schultheis, „Nachwort“, in: Ibid., S. 133–151. Zur Entstehungsgeschichte der Ausstellung von Bourdieus Fotografien vgl. Franz Schultheis, „Pierre Bourdieu und Algerien. Eine Wahlverwandtschaft“, in: Franz Schultheis / Christine Frisinghelli (Hg.), Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz 2003, S. 9–20, bes. S. 18 ff.

[4] Pierre Bourdieu in „Bilder aus Algerien. Ein Gespräch mit Pierre Bourdieu von Franz Schultheis. Collège de France, Paris, 26. Juni 2001“, in: Schultheis / Frisinghelli 2003, op. cit., S. 21–51, hier S. 28.

[5] Zu seinem gespaltenen Verhältnis zum intellektuellen Feld vgl. Bourdieu 2002, op. cit., S. 66. Zu seiner eigenen Schilderung des dissonanten Habitus vgl. ferner auch ibid., S. 81 und S. 116 f.

[6] Loïc Wacquant unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Formen des Bias, die nach Ansicht Bourdieus den soziologischen Blick beeinträchtigen können: den herkunftsgebundenen „sozialen“ Bias, den durch die soziologische Disziplin geprägten „akademischen“ und den „intellektualistischen“, der das Verhältnis zur Welt bestimmt. Vgl. Loïc J. D. Wacquant, „Auf dem Weg zu einer Sozialpraxeologie. Struktur und Logik der Soziologie Pierre Bourdieus“, in: Pierre Bourdieu / Loïc J. D. Wacquant (Hg.), Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 17–93, hier S. 66 f. Die beiden letztgenannten Formen spielen gleichermaßen in die scholastische Voreingenommenheit hinein, gegen die Bourdieu in verschiedenen Zusammenhängen vorgeht. Vgl. etwa Pierre Bourdieu, „Narzisstische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität“, in: Eberhard Berg / Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M. 1993, S. 365–374, bes. S. 371, sowie Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001.

[7] Zur Figur des ahmabul (oder auch in veränderter Schreibweise amahbul) vgl. Bourdieu 2002, op. cit., S. 63 ff.

[8] Vgl. Abb., in: Schultheis / Frisinghelli 2003, op. cit., S. 122 f.

[9] Vgl. Abb, in: ibid., S. 220–228, S. 200, S. 203 sowie Installationsaufnahme Ausstellung Hamburger Deichtorhallen Nr. 47.

[10] Vgl. Abb., in: ibid., S. 87-90.

[11] Vgl. Abb., in: ibid., S. 153.

[12] Die französische Originalausgabe erschien 1965 unter dem Titel Un art moyen. Essais sur les usages sociaux de la photographie. In deutscher Übersetzung kam die Untersuchung als Pierre Bourdieu / Luc Boltanski / Robert Castel / Jean Claude Chamberon / Gérard Lagneau / Dominique Schnapper, Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a. M. 1981, heraus.

[13] Vgl. etwa Pierre Bourdieu, „Die Praxis der reflexiven Anthropologie. Einleitung zum Seminar an der École des hautes études en sciences sociales, Paris, Oktober 1987“, in: Bourdieu / Wacquant 1996, op. cit., S. 251–294, hier S. 294: „Die teilnehmende Objektivierung, die der Gipfel der soziologischen Kunst sein dürfte, ist, in wie geringem Grade auch immer, nur dann realisierbar, wenn sie auf einer möglichst vollständigen Objektivierung des zu objektivierenden Interesses beruht, das im Tatbestand der Teilnahme zum Ausdruck kommt; und auf einer Suspendierung dieses Interesses und der Darstellung, die es induziert.“

[14] Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen“, Frankfurt a. M. 1985, S. 56.

[15] Vgl. Bourdieu 2002, op. cit., S. 77 f., sowie Bourdieu 2001, op. cit., S. 116.

[16] Vgl. Abb., in: Schultheis / Frisinghelli 2003, op. cit., S. 122 f.

[17] Vgl. Abb., in: ibid., S. 220-228.

[18] Vgl. Abb., in: ibid., S. 153, zusätzlich: S. 157, 164, 166 f. und 175.

[19] Vgl. Abb., in: ibid., S. 109 ff.

[20] Bourdieu in: Schultheis / Frisinghelli 2003, op. cit., S. 32. Vgl. ibid. auch S. 24: „Das Fotografieren war ein Weg, zu den Menschen Zugang zu finden und gerne gesehen zu sein.“

[21] Bourdieu in: Berg / Fuchs (Hg.) 1993, op. cit., S. 371.

[22] Bourdieu in: Schultheis / Frisinghelli 2003, op. cit., S. 36.

[23] Vgl. ibid., S. 25.

[24] Ibid., S. 48 und S. 49.

[25] Vgl. ibid.

[26] Zur Diskussion der Nutzung von Fotografie in der Soziologie vgl. etwa Clarice Stasz, „The Early History of Visual Sociology“, in: Jon Wagner (Hg.), Images of Information, Beverly Hills 1979, S. 119–136, sowie Ulf Wuggenig, „Die Photobefragung als projektives Verfahren“, in: Henrik Kreutz (Hg.), Pragmatische Analyse von Texten, Bildern und Ereignissen, Opladen 1991, S. 109–130.

[27] Bourdieu 2002, op. cit., S. 55.

[28] Pierre Bourdieu, „Mit den Waffen der Kritik …“ (1983), in: Ders., Satz und Gegensatz, Frankfurt a. M. 1993, S. 30.

[29] Vgl. Pierre Bourdieu: „Verstehen“, in: Pierre Bourdieu et al., Das Elend der Welt, (gekürzte Studienausgabe), Konstanz 2005, S. 393–410, bes. S. 400 und S. 410.

[30] Ibid., S. 400.

[31] Ibid., S. 410.

[32] Die Fotografien treten damit als Teile eines „System[s] von Informationen“ auf, als das Susan Sontag Fotografien grundsätzlich begreift und das sich seinerseits aus den verschiedenen Praxisformen Bourdieus zusammensetzt. Vgl. Susan Sonntag, Über die Fotografie, Frankfurt a. M. 1980, S. 149. In dieser relationalen Konstellation wird die Ausstellung der Fotografien im Zusammenhang mit Bourdieus Lebenswerk zur „archivarischen Praxis“, die das Gespeicherte in ein aktualisiertes, neue Konstellationen und damit gewandelte Bedeutungen herstellendes Gedächtnis überführt. Zu diesem generativen Verständnis des Verhältnisses von Archiv und Gedächtnis vgl. etwa Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, sowie zuletzt Wolfgang Ernst, Das Gesetz des Gedächtnisses, Berlin 2007.

[33] Den Anforderungen entsprechend, die er an die eigene Arbeit stellt, hebt Bourdieu die gelungene Versöhnung von „scholarship“ und „commitment“ ausdrücklich in seiner Auseinandersetzung mit Michel Foucault hervor. Vgl. Bourdieu 2002, op. cit., S. 91 f.

[34] Bourdieu (1987) in: Bourdieu / Wacquant 1996, op. cit., S. 294.

[35] Zu dem selbst gestellten Anspruch an den „soziologischen Selbstversuch“ in Abgrenzung zu einer Autobiografie vgl. Bourdieu 2002, op. cit., S. 9.