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03 2008

Der Habitus des Kritischen

Über die Grenzen reflexiver Praxis

Helmut Draxler

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Kritik gehört heute zu den grundlegenden Anforderungen an künstlerische, akademische und popkulturelle Artikulationen. Ein Mainstream des Kritischen reicht von den Anforderungsprofilen für Master-Lehrgänge über Michael Moore und Herbert Grönemeyer bis hin zu den meisten Documenta-Künstler/innen. Die Frage drängt sich daher auf, ob kritische und reflexive Praktiken als bloß feldspezifische Positionierungen gelesen werden müssen, die es erlauben, sich möglichst clever von anderen abzugrenzen, oder ob sich Kriterien hierfür nennen lassen, welche Formen von Kritik die Ordnung der Felder selbst und die hegemoniale Ordnung des Feldes der Macht adressieren. Als Ausgangpunkt für eine solche Unterscheidung können die verschiedenen theoretischen Konzeptionen über den Stellenwert des Kritischen dienen, nämlich auf der einen Seite der ideologiekritische Anspruch der Kritik, eine Art ‚archimedische’ Position zu beziehen, von der aus sie die Welt aus den Angeln zu heben versucht, und auf der anderen Seite jener Vorwurf an die Kritik, nur ein notwendiges Ventil innerhalb der Prozesse funktionaler systemischer Differenzierung zu sein, ein Argument - von Niklas Luhmann in den 1980er Jahren vorgebracht - das gerade der ideologiekritischen Variante die fundamentale Verkennung ihrer Position vorhält. Meine Frage wird zum einen sein, ob sich jenseits dieser strikt oppositionellen Positionierungen ein Verständnis von Kritik entwickeln lässt, das die blinden Flecken dieser beiden Argumentationsformen ebenso reflektiert wie die kulturellen Formierungen von Kritik, ohne sich deshalb als Kritik selbst abzuschaffen, zum anderen, inwiefern Piere Bourdieus Werk innerhalb dieser Konstellation zu verorten ist und welche Anregungen sich daraus für mein Anliegen, Kritik als besondere kulturelle Artikulationsform im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis zu begreifen, ziehen lassen.


Eine unmögliche Position

Zweifellos ist Pierre Bourdieus kritisches Unterfangen selbst ein historisches, d.h. es ist an bestimmte Bedingungen geknüpft und es hat sich auch nicht einfach entfaltet, sondern durch ständige Adaptionsarbeit verändert und entwickelt. So dominiert in den 1970er Jahren ein Modell von Ideologiekritik, bei dem die praktischen Effekte sich gewissermaßen unmittelbar aus der theoretischen Einsicht ergeben sollten. Wenn Bourdieu die „Illusionen der Leute“ vertreiben, die „sakralen Schranken“ der Institutionen niederreißen, generell die Distinktionsgewinne moralischer und ästhetischer Art skandalisieren will, dann stehen die Gegenbilder unmittelbar parat, etwa als „Ungezwungenes“ der Populärkultur gegenüber dem „Unverfrorenen“ der Hochkultur. Solche Unterscheidungen sind nicht ohne Idealisierungen und theoretische Unschärfen zu haben, wenn etwa zwischen Ästhetik und Distinktion kaum mehr unterschieden werden kann. Auch der praktische Anspruch der Theorie wird dabei ganz ungebrochen artikuliert, nämlich „noch den raffiniertesten Geschmack für erlesenste Objekte wieder mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen“[1] zu verknüpfen. Mit der Zeit ändert sich vor allem dieses Verhältnis zwischen Theorie und Praxis. Je mehr er selbst angesichts der konservativen Wende der europäischen Sozialdemokratien in den 1980er und 1990er Jahren sich zu einem politischen Aktivismus bekennt, der ihm erst über sein inzwischen über die engen Fachgrenzen hinaus angewachsenes Renommee als Sozialforscher und politischer Denker als Option sinnvoll erscheint, desto stärker wird die theoretische Betonung der Autonomie der in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern ausgefochtenen inhaltlichen Positionen. Theorie und Praxis scheinen also etwas auseinander zu driften, nicht mehr unmittelbar als theoretisches Postulat miteinander verschränkt zu sein. Die tatsächliche Praxis ist auf jene Unabhängigkeit angewiesen, die nur die Autonomie gewähren kann. Gleichzeitig spitzt sich das theoretische Problem zu zwischen einer Sozialtheorie, die ihren Akteuren nur sehr eng bemessene Spielräume zuerkennen will und einer Praxis, die gerade diese Spielräume erweitern will. Dabei wird die Unterscheidung wichtig zwischen den vielen Akteuren, die innerhalb der einzelnen Felder nur unbewusst die habituellen Vorgaben reproduzieren und damit deren „scholastische“, moralische und ästhetische Standards als Distinktionsgewinne etablieren und den wenigen, die eine eigentlich „unmögliche Position“[2] im Feld einnehmen und damit die Autonomie als gesellschaftliche Form zu adressieren und zu benutzen in der Lage sind, jene „Urheber großer symbolischer Revolutionen“ wie etwa Flaubert und Baudelaire, die gerade in ihrer Betonung von Form und Autonomie ein neues, das literarische Feld begründen konnten.

Mit der paradoxen Formulierung einer „unmöglichen Position“ gelingt es Bourdieu, den Gegensatz zwischen den ‚genialen’ Begründern neuer Diskurshorizonte und dem soziologischen Blick auf deren konkrete gesellschaftlichen Bedingtheiten nicht einseitig und reduktionistisch aufzulösen, sondern durchaus spannungsvoll auszutragen. Das heißt, er kann der ‚genialen’ Leistung Einzelner gerecht werden, ohne den gesellschaftlichen Bezugrahmen zu ignorieren; die ‚Genialität’ liegt sogar genau darin, in der literarischen Sprache diesen Bezugsrahmen gleichzeitig zu artikulieren und zu verhüllen, wobei die institutionalisierte Form der Autonomie der Künstler-Subjektivität mit der formalen Autonomie ihrer Werke konvergiert. Dennoch bleibt das theoretische Problem dahinter offen, wie überhaupt und unter welchen Bedingungen soziale Dynamiken - die Veränderungen bestehender sowie die Etablierung neuer Felder - innerhalb des auf eine weitgehend statische Reproduktion des jeweiligen Habitus angelegten Konzeptes erklärbar sein können.[3] Das betrifft schließlich auch den Status von Bourdieus eigenen kritischen Unterfangen: Wie kann dieses jenseits einer rein feldspezifischen Positionierung, d.h. sich habituell und kompetitiv von den Mitstreitenden im Feld der Gesellschaftstheorie abzugrenzen, verstanden werden? Auch hier muss eigentlich von einer „unmöglichen Position“ ausgegangen werden, aus der heraus Bourdieu eine Kritik entwickelt, die die Ordnung der Felder und die hegemoniale Ordnung des Feldes der Macht adressieren will. Es liegt nun nahe, nach den Bedingungen zu fragen, unter denen „unmögliche Positionen“ eingenommen werden können und ob die engagierte Position, die daraus erwächst mit der theoretischen überhaupt beschreibbar ist. Denn entweder sind die individuellen Spielräume doch größer als die Theorie erlaubt oder aber die eigene Haltung Bourdieus könnte selbst auf einer jener Illusionen beruhen, die er bei anderen immer wieder beschrieben hat, mithin auf einem Habitus des Kritischen.


Ein kritisches Feld

Diese Frage nach einem möglichen Habitus des Kritischen ist insofern von Interesse, als durchaus gesellschaftliche Phänomene beobachtbar sind, die darauf hindeuten, dass sich in einem bestimmten Gestus von Kritik gesellschaftliche Verhältnisse eher reproduzieren als verändern und vielleicht sogar soziale Ungleichheiten sich stärker festsetzen als auflösen. Dazu gehört die anhaltende Konjunktur einer vagen „criticality“ als kulturelles Kapital innerhalb weiter Teile der Popkultur und des Kunstfeldes, etwa die Anbiederung von Popstars an radikale politische Bewegungen, oder die grassierenden kulturkritischen Verlust- und Untergangsrhetoriken. Auch das akute Interesse an Verschwörungstheorien indiziert eher einen Überschuss an Kritik als einen Mangel, denn ihr Problem besteht gerade darin, ein „mehr“ an Kritik hervorzubringen als der rationalen Einsicht gut tut. Dennoch ließen sich zweifellos auch gegenteilige Beispiele anführen, die auf einen Rückzug kritischer Positionen in neoliberalen Zeiten hindeuten. Es geht mir hier jedoch nicht um eine eindeutige zeitdiagnostische Zuspitzung, auch nicht um die Bewertung von Bourdieus Engagement, sondern um die Frage, wie sich Kritik überhaupt begründen lässt, und ob, falls sie sich begründen lässt, dies unter Umständen habituelle Aspekte mit einschließen muss, da sie als reine Form gar nicht denkbar ist. Als spezifisches Moment von Theorie, das sich der Praxis intentional zuneigt, ohne bereits dort angekommen zu sein, artikuliert Kritik sich stets aus einem prekären, intermediären oder „undisziplinären“ [4] Zustand heraus, an dem die jeweiligen historischen Bedingtheiten: sozialer, kultureller oder unmittelbar politischer Natur, besonders deutlich sichtbar werden. Denn indem sie Werthorizonte einführt, Kontexte zum sprechen bringt oder praktische Konsequenzen nahe legt, überschreitet die Kritik die Logik der reinen Theorie. Kein Wunder, dass sie sich dabei leicht im Gestrüpp der Meinungen verheddert. Als kulturelle und/oder politische Form scheint sie mir jedenfalls nicht rein theoretisch begründbar, genauso wenig wie ihre praktischen Äquivalente – von der Nörgelei über die Empörung bis hin zum Engagement. Kritik selbst muss also mit einem Quantum an Widersprüchlichkeit und Ambivalenz leben; sie liegt nicht per se auf der richtigen Seite. Als kulturelle und politische Form bleibt sie notwendigerweise selbst bestreitbar. Doch vielleicht liegt genau darin auch ihre Chance.

Die Frage, die sich darin anschließt, lautet, ob sich überhaupt prinzipiell zwischen solchen kulturellen Formen des Kritischen und strenger theoretischer und wissenschaftlicher Kritik unterscheiden lässt, oder auch zwischen den „scholastischen“ Rhetoriken als der akademischen Form der Kritik, und einer praxisnahen, empirischen und reflexiven Forschung. Bourdieu scheint solche prinzipiellen Unterscheidungen sogar zuspitzen zu wollen, wenn er eine Art einheitliches Wahrheitsregime, eine „doxa“, hinter dem gesamten scholastisch-intellektuellen, moralisch-universalistischen und den ästhetischen Illusionen annimmt, dessen Entlarvung er sich mit seinem Programm einer „kritischen Soziologie“ immer wieder zuschreibt. So wichtig diese einzelnen Kritikpunkte auch sind, letztlich bleibt jedoch auf der theoretischen Ebene unklar, inwieweit sich ein solches Programm von einer rein feldspezifischen Positionierung unterscheiden soll. Wenn sich nun tatsächlich die kritischen oder politischen Positionierungen nie strikt und kategorisch von feldspezifischen Positionierungen unterscheiden lassen, dann läge als Konsequenz nahe, Kritik auch theoretisch nicht als eindeutiges Unterfangen zu konzipieren. Erst die Differenzierung in unterschiedliche, einander vielfach widersprechende kulturelle Formen, praktische Artikulationsweisen und Aussagepositionen aus den verschiedenen Feldern heraus ließe ein eigenes Feld der Kritik entstehen, das eingehender Untersuchung bedarf.


Eine Soziologie der Kritik?

Als Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung kann Luc Boltanskis Wendung gegen Bourdieu in den 1980er Jahren dienen. Jörg Potthast hat den Konflikt folgendermaßen zusammengefasst:

„Für die kritische Soziologie Bourdieus sei Sich-Täuschen Bedingung der Möglichkeit sozialer Ordnung, während die Soziologie der Kritik Prozesse der Kritik als ein internes Moment sozialer Ordnung begreife und sich darum bemühe, Möglichkeitsbedingungen der Kritik herauszuarbeiten. Boltanski empfiehlt, das Studium der „Illusion als solcher“ abzubrechen und die „Anschuldigung als solche“ zu untersuchen. Dies entspricht seiner Überzeugung, dass wir nicht in einer Illusionsgesellschaft leben, in der soziale Ordnung auf der aktiven Selbsttäuschung fast aller Mitglieder beruht, sondern in einer „kritischen Gesellschaft“.[5]

Boltanski hat, in seiner Untersuchung öffentlicher Anschuldigungen in Leserbriefen an die Zeitung Le Monde[6] gefordert, sowohl auf der theoretischen Ebene jene Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit zu explizieren, die der kritischen Soziologie ebenso wie jeder sozialen Empörung zu Grunde liegen, als auch das Augenmerk auf jene eher unheimlichen Formen des Kritischen wie das Querulantentum zu legen, in denen sich der Habitus des Kritischen von seiner eher unangenehmen Seite zeigt.

Beide Hinweise erscheinen mir tatsächlich als wichtig, wenn auch nicht hinreichend um eine Soziologie der Kritik zu begründen. Eine solche ist auch in der Zwischenzeit nicht wirklich vorgelegt worden.[7] Sie wäre jedoch notwendig, um Phänomene wie die oben beschriebenen einer ‚Mainstreamisierung’ von Kritik, generell ihre verschiedenen kulturellen Formen (wie etwa Literatur- und Kunstkritik, Künstlerkritik, Kultur- oder Gesellschaftskritik, aber auch die Alltagskritik in Form von Besserwisserei und Anschuldigungen) samt deren unterschiedlichen Werthorizonten zu adressieren. Hinzu kommen die sich in den letzten Jahren häufenden Probleme, die dem aufklärerischen Projekt selbst eingeschriebenen Widersprüchlichkeiten entwachsen, wenn soziale, geschlechtliche, ethnische oder sexuelle Differenzen nicht mehr in einer, minoritär einheitlichen und prinzipiell parallelisierbaren Perspektive erscheinen, sondern einzeln priorisiert oder gar gegenseitig in Stellung gebracht werden.[8] Das betrifft nicht nur jene fragwürdigen Erscheinungen wie den homophoben schwarzen Rapper oder den konservativen deutschen Politiker, der im Namen von Frauenrechten gegen Migrant/innen mit islamischem Hintergrund vorgeht, sondern auch die Frage, ob die Einheitlichkeit des ‚Kampfes’ aller Formen sozialer Diskriminierung nicht selbst auf einer Verallgemeinerung von Opferpositionen beruht, und damit die vielfachen Verstrickungen der sozialen Akteure in den jeweils anderen Formen der Diskriminierung außen vor bleibt.

Das Problem einer Soziologie der Kritik besteht allerdings darin, dass sie die kritischen Ansprüche tendenziell relativiert und sich damit kaum mehr als selbst kritisches Projekt ausweisen kann. Es bedarf also sicherlich eines guten Anteils der kritischen Soziologie auch innerhalb einer Soziologie der Kritik, um nicht in einer ‚scholastischen’ Form der reinen Kategorisierung zu enden. Umgekehrt erscheint allerdings auch eine kritische Soziologie kaum mehr vorstellbar ohne jene Differenzierungen vorzunehmen, die einer Soziologie der Kritik entstammen.

Bourdieus eigene Machttheorie wäre sogar hervorragend als Ausgangspunkt einer kritischen Soziologie der Kritik geeignet. Denn anders als andere Machttheorien erlaubt sie, die Akteure innerhalb der einzelnen Felder sowohl als Beherrschte als auch als Herrschende zu begreifen[9] und gleichzeitig, da die einzelnen Akteure auch verschiedenen Feldern angehören können, die Unterschiedlichkeit ihrer Aussagepositionen in Rechnung zu stellen. Das heißt, meine kritischen Artikulationen als Alltagsmensch, als professioneller Kunstkritiker und Akademiker, der versucht, in unterschiedlichen künstlerischen, kulturellen, oder politischen Feldern Fuß zu fassen, als männlich-weißer Staatsbürger der Europäischen Union mit bestimmten Alter, Einkommen und sexueller Identität, lassen sich keineswegs immer unter einen Hut bringen, schon gar nicht im Sinne eines universellen Wahrheitsanspruchs. Die Kritik kommt also immer aus einer bestimmten Richtung; sie ist selbst vorgeprägt durch den Standort, von dem aus sie geäußert wird, durch die Logik der feldspezifischen Regulationen, so dass ihr Blick niemals ‚rein’ oder ‚archimedisch’ sein wird. Ganz im Gegenteil steht sie als solche immer auch schon in Relation zum Feld der Macht, das nach Bourdieu die anderen Felder zum Teil überlappt. Kritik steht daher in einem äußerst ambivalenten Verhältnis zur Macht – sie lässt sich auch als inkorporiertes kulturelles Kapital verstehen und die noch so radikale Infragestellung des ‚Systems’ kann unter Umständen der präzise Ausdruck eben dieses Systems sein, etwa im Sinne akademischer Konkurrenz um die möglichst radikale Position. Daraus im Sinne Luhmanns den Schluss zu ziehen, dass jede Kritik nur Ausdruck systemischer Regulation sei, wäre jedoch zu einfach. Um hier differenzieren zu können wird es für jedes kritische Unterfangen wichtig sein, die historischen Bedingtheiten der Kritik selbst im Blickfeld zu behalten.

Der Anspruch, die eigenen Werthorizonte des Kritischen zu explizieren, wie es Boltanski fordert, kann also strukturell durchaus an Bourdieus feld- und habitustheoretische Konzeption anknüpfen. Dennoch bleibt das Problem bestehen, wie und welche Werte von den sozialen Akteuren  - und seien es die kritischsten - überhaupt verhandelt werden können. Bourdieus Ansatz geht von Ernst Cassirers Unterscheidung von substanziellen und funktionalen bzw. relationalen Erklärungsmethoden aus. Im konsequenten Verzicht auf den tendenziell substantialisierbaren Begriff der Gesellschaft spricht Bourdieu nur vom sozialen Raum, der wiederum aus verschiedenen Feldern besteht, die in Diagrammen jedoch auch bloß als Koordinatensystem unterschiedlicher Anordnungsweisen der sozialen Akteure veranschaulicht wird. Innerhalb dieser Felder kämpfen die einzelnen Akteure gegeneinander um Anerkennung. Dabei reproduzieren sie in durchaus offener Form jeweils einen bestimmten Habitus, in dem sich die gesellschaftlichen Überlieferungen und der Zusammenhalt als Familie, Klasse oder Nation ausdrückt. Trotz des stark determinierenden Moments des Habitus reproduziert er sich nicht als strenge Struktur, sondern lässt seinen Akteuren Spielräume in der jeweiligen Realisierung. Zunehmend steigt sogar das Moment an Autonomie der in den Auseinandersetzungen gefällten Entscheidungen gegenüber den bedingenden Kräften des Habituellen. Dennoch bleibt das Bild des Sozialen, das Bourdieu entwirft streng im klassisch-liberalen Sinn auf einzelne und deren Positionierungskämpfe untereinander bezogen. Darin liegt auch der konsequent relationale Ansatz begründet. Alle kollektiven Formen sind nichts als „Illusionen“, die bloß der Aufrechterhaltung bestimmter Privilegien dienen und als Vor- oder Nachteile in den Positionierungskämpfen zu verstehen sind. Rivalität ist die wesentliche Motivationsquelle. Die bindenden Gefühlsaspekte, die Kollektive mit sich bringen, seien es die positiven wie Sicherheit und Zusammengehörigkeit oder auch die negativen wie Abhängigkeit tauchen darin eben nur als Voraussetzungen dieser Kämpfe auf. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob es sich bei ihnen tatsächlich nur um Chimären handelt, auf die eine streng relationale Soziologie verzichten kann oder doch um konstitutive Realitäten, die zwar substanziell zu begründen abwegig wäre, die jedoch von den sozialen Akteuren zumeist genau als substanziell verstandene ihre historische und kulturelle Wirkmächtigkeit entfalten, und daher vielleicht auch auf dieser Ebene adressiert werden sollten. Denn aus ihnen stammen vielfach die Werthorizonte und Motivationsressourcen, nach denen soziale und kulturelle Phänomene geordnet werden und aus denen Orientierungshilfen gezogen werden. Vielleicht tragen sie sogar dazu bei, die „unmögliche Position“ der Kritik als außerhalb der rivalisierenden Kämpfe zu imaginieren.


Zwischen den Feldern

Der amerikanische, dem „Kommunitarismus“ nahe stehende Philosoph Michael Walzer hat nachdrücklich sowohl auf die historischen Bedingtheiten von Kritik als auch auf ihre impliziten Werthorizonte verwiesen. Für die archimedische oder externe Kritik macht er religionstypologische (das Prophetentum), psychologische (die Abwehr der eigenen Leidenschaften) und soziale Momente (die Distanz zu jener sozialen Gruppe, in deren Namen man möglichst radikale Umwälzungen propagiert) geltend.[10] Im Gegenzug propagiert er eine innere oder immanente Kritik, die an jenen Normen ansetzt, denen sich die Gesellschaft, an die sich die Kritik richtet, verpflichtet fühlt. Tatsächlich scheint die Verbindung zwischen gesellschaftlich akzeptierten und kritischen Auffassungen häufig enger als es die ideologiekritische Perspektive wahrhaben will, und eine immanente Kritik wäre hinsichtlich ihrer Werthorizonte wahrscheinlich tatsächlich transparenter als die externe. Dennoch bereitet eine rein immanent verstandene Kritik, die nur vom Konkreten oder Partikularen ausgeht, auch ein Unbehagen hinsichtlich dessen, was eine solche Kritik vom puren Reformismus unterscheiden sollte. Bourdieus feldtheoretische Begründung des sozialen Raums und seine darauf fußende Machttheorie lässt hier einen Ausweg aufscheinen, indem interne und externe Positionen – je nach ihrer Lokalisierung in den verschiedenen Feldern – immer schon vielfach aufeinander bezogen sind: Ein reines Außerhalb der Felder erscheint genauso wenig möglich wie ein reines Innerhalb, weil sich die Felder ja durch Bezugnahmen aufeinander ausdifferenzieren. Die Lösung kann nun keine einfache Aussageposition des Kritischen „zwischen den Feldern“ sein, weil sich jede Position immer schon mehreren Feldern zuordnen lässt. Ein eigenes kritisches Feld zwischen den sachbezogen ausdifferenzierten Feldern und dem Feld der Macht anzunehmen hat jedoch den Vorteil, diese Zwischenräume als besondere Sphäre der Kritik zu adressieren, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer eher bedenklichen kulturellen Formationen als auch ihrer Chancen, der jeweils eigenen, sachbezogenen Feldlogik doch immer wieder entschlüpfen zu können, Bezugnahmen zwischen den Feldern und zum Feld der Macht stiften zu können. Genau hier wäre auch die „unmögliche Position“ verortet, weil sie eben auch innerhalb eines kritischen Feldes höchst unwahrscheinlich ist, sich intentional ohnehin nur sehr schwer beanspruchen lässt und doch notwendigerweise jene Aktualisierung andeutet, in der die stumpfe Reproduktion des Habitus ausgesetzt ist und sich in der Realisierung seiner Spielräume etwas Unvorhergesehenes ereignet. Vielleicht liegt die „unmögliche Position“ Bourdieus selbst darin begründet, dass anhand seiner Arbeit dieses kritische Feld sichtbar werden konnte.

Das Unmögliche ist in dieser Sicht ein Unwahrscheinliches, das dennoch immer wieder möglich wird. Es bleibt in der Paradoxie gefangen, dass es intentional angestrebt wird – sonst wäre es keine Kritik – ohne dass sich daraus wirklich ein kritischer Effekt ergeben muss. Dieser hängt von den Unwägbarkeiten der historischen Situation ab, von der konkreten Bedeutung, die die Kritik den Konfliktlinien, die sie sichtbar macht, verleihen kann. Darin liegt auch die Stärke der archimedischen Kritik, dass sie wie notwendig auf die historischen Konstellationen zu reagieren scheint und - gleichzeitig „freischwebend“ und „organisch“ – die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Dennoch sind die Vorbehalte gegen diese Kritikform und den „totalen Intellektuellen“, der sie verkörpert, inzwischen Legion und auch von Bourdieu selbst vielfach vorgebracht worden.[11] Eines ihrer Probleme liegt darin, dass sie im wiederholten Auftreten tatsächlich vorhersagbar und damit wahrscheinlich wird und sich ihr kritischer Impuls damit verringert. Dem kann zumindest insofern begegnet werden, wenn der kritische Akt sich weniger ins „Totale“ und „Universelle“ steigert, sondern einerseits auf seine theoretische wie auf seine praktische Seite hin bezogen bleibt und andererseits ein selbstreflexives Moment einführt, hinsichtlich seiner feldspezifischen Lokalisierung ebenso wie hinsichtlich der individuell-habituellen Ausformungen als intentionale Autorschaft von Kritik.[12]

Selbstreflexivität bezieht sich jedoch bei Bourdieu in erster Linie auf die akademischen und kulturellen Milieus, in denen zwar auch die eigene Arbeit als Theorie verhandelt wird, nicht jedoch auf das ‚kritische Feld’, aus dem heraus erst der engagierte Anspruch entwachsen ist. Die Institutions- und Diskurskritik, wie sie im Homo Academicus so brillant vorgeführt wird, wäre dementsprechend auch auf das kritische Feld auszudehnen. Dahingehend finden sich auch viele Momente, die etwa gegen den „totalen“ Intellektuellen im Sinne Jean Paul Sartres argumentieren. Bourdieus eigenes Modell eines wissenschaftlich begründeten Expertenkollektivs[13] blendet jedoch die Unwägbarkeiten des kritischen Unterfangens ebenso aus. Gerade die Selbstreflexion des eigenen kritischen Habitus wäre jedoch als die positive Chance zu begreifen, die vielfältigen kulturellen Verstrickungen und widersprüchlichen politischen Konfliktlinien jedes kritischen Akts auch kritisch vergegenwärtigen zu können.

Ebenso scheint mir die kategoriale Trennung von scholastischem und praktischem Wissen das Beziehungsfeld zwischen Theorie und Praxis zu verstellen, das durch eine grundsätzliche Spannung gekennzeichnet ist, die auch durch eine noch so praxisnahe Theorie nicht aufgelöst werden sollte. Gegenüber einer tendenziellen Verschmelzung von Theorie, Kritik und Praxis scheint mir deren Differenzierung als unterschiedliche kulturelle und politische Formen entscheidend. Der Begriff der Autonomie zeigt tatsächlich den Weg dahin an, auch wenn er bei Bourdieu etwas undurchsichtig bleibt. Es reicht vielleicht nicht, ihn als institutionalisierte gesellschaftliche Autonomie zu verstehen, sondern eher im Sinne einer Unabhängigkeit oder eben Autonomie als Kategorien, die dann freilich vielfach aufeinander bezogen werden können. Denn wenn Theorie, Kritik und Praxis ihre Spielräume nicht bloß reproduzieren (und nur in Einzelfällen in Frage stellen oder neu begründen) dann wird das jeweilige Feld immer schon gleichzeitig reproduziert und in Frage gestellt, begründet und wieder aufgelöst. Das eine ist ohne das andere gar nicht zu haben und die Relativität der Unterschiede definiert erst den Möglichkeitsraum dessen, was wir das Politische nennen können. Die Autonomie als Kategorien ist dabei die Voraussetzung für die Vielfalt an Verhältnisformen. So entwirft und impliziert etwa die Theorie spezifische Vorstellungen des Sozialen und schließt andere aus. Aus diesen Vorstellungen werden wiederum die kritischen Einwände und Ansprüche abgeleitet. Theorie und Kritik entwerfen auch Formen von Praxis, zum Teil auch solche, die sich ihnen selbst entgegenstellen. Die Praxis kann auch Fragen anregen, wozu Theorie und Kritik überhaupt dienen sollen. Ein weites Feld kultureller Zwischenräume öffnet sich hier: es begründet die konkreten Möglichkeiten der Reflexion, die Austauschbeziehungen zwischen den Feldern zu explizieren und damit deren scheinbare Autonomie auch wieder in Frage zu stellen.

Das hat den Vorteil, dass sich die Fragen nach dem Verhältnis zwischen den verschiedenen kulturellen Formen von Kritik auch als Fragen ihrer jeweiligen Positionierung in den unterschiedlichen Feldern stellen lassen. Künstlerische, kulturelle, politische oder alltägliche Kritik erscheinen dann nicht mehr als parallelisierbares, an einheitlichen Zielvorstellungen ausgerichtetes Unterfangen, sondern als vielfach auf-, mit- oder auch gegeneinander bezogene Artikulationsweisen, deren konvergierende und konkurrierende Verhältnisformen von hier aus überhaupt erst sinnvoll reflektiert werden können. Denn politische Kritik kann als künstlerische Kritik unter Umständen etwas völlig anderes bedeuten - die Kontexte des jeweiligen Feldes konturieren zumindest die Bedeutungshorizonte. Derart kommen auch die Kritiker/innen als konkrete soziale Akteure überhaupt erst ins Blickfeld, als Akteure, die im selben Zug Macht angreifen und Macht ausüben. Die feldübergreifenden Bezugpunkte ihrer jeweiligen Kritik können dabei die Mechanismen des eigenen Feldes in Frage stellen, sie können diese jedoch als Projektionen auf andere Felder auch durchaus bestätigen. Deshalb ist auch die  Frage wichtig, wie mit den habituellen Momenten von Kritik umzugehen ist. Wie lässt sich etwa zwischen der Empörung angesichts unerträglicher sozialer Zustände und einer immer wiederkehrenden Empörungshaltung unterscheiden, für die die jeweiligen Zielobjekte weitgehend austauschbar erscheinen? Wie können politische Verhältnisformen in den Kategorien von Tätern und Opfern beschrieben werden ohne die gesamte politische Legitimation aus einer reinen, vielleicht imaginierten oder projektiv besetzten Opferposition zu beziehen? Die Verhältnismäßigkeiten, um die es hier geht, bestimmen die ‚zivile’ Qualität des Politischen und machen als Diskurshorizonte auch die unterschiedlichen Formate des Austauschs zwischen politischen und kulturellen Codes bewertbar. Das betrifft insbesondere die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zwecken. Wie sehr sind etwa politische Kampagnen bereits durch ihre Zielsetzungen legitimiert und wie resistent können sie sich daher gegenüber kritischer Beanstandung ausweisen? Denn Kritik bereitet die Praxis nicht einfach vor, sie muss sie auch begleiten, will sich die Praxis nicht an schierer Effizienz, sondern weiterhin an politischen Kategorien orientieren. Das betrifft sowohl die konkreten Verfahrensformen politischer Praxis als auch die Werthorizonte, nach denen wir diese ausrichten. Als Zielvorstellungen von Kritik und Praxis haben diese Werthorizonte wiederum mehr mit den kollektiven, habituellen Existenzweisen als mit den individuellen Kämpfen zu tun. Denn was macht uns überhaupt so empfindlich Ungerechtigkeiten gegenüber, was treibt zur Empörung, wenn nicht jene ‚geschwisterlichen’ Erfahrungen, die wir in den unterschiedlichen kollektiven Seinsweisen wahrnehmen und aneignen. Wenn wir alle tatsächlich nur konkurrierende, individualistische ‚Monster’ wären, dann wäre uns das „Elend der Welt“ wohl ziemlich gleichgültig. Nicht der extrem individualistische, in seiner Gier nicht zu stoppende und gleichzeitig ideologisch vollkommen verblendete Heuschrecken-Kapitalist scheint mir heute das Problem zu sein, sondern die Gleichzeitigkeit einer ungebrochenen Akkumulation unterschiedlicher Kapitalsorten bei den meisten Menschen mit jenem konstant schlechten Gewissen, das wiederum jene Charity- und Spendenökonomien antreibt, die sich in den letzten Jahrzehnten als fast schon dominante Form westlicher Wertschöpfung – im moralischen wie im ökonomischen Sinn – etabliert hat. Als kulturelle Artikulationen bestimmen auch solche, in sich höchst problematische, aber eben nicht eindimensional ideologische Formationen die Kontexte und damit den Möglichkeitsraum mit, in denen Kritik und politische Praxis sich heute entfalten können.

 



[1] Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987, S. 17

[2] Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, S. 116

[3] Hierzu siehe: Jörg Ebrecht, Die Kreativität der Praxis. Überlegungen zum Wandel von Habitusformationen, in: Jörg Ebrecht, Frank Hillebrandt (Hrsg.) Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft – Anwendung – Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 225 -241

[4] Ruth Sonderegger nennt die Stärke der Kritik ihr „Undisziplinäres“.

[5] Jörg Potthast, Soziologie und Kritik. Ein Theorievergleich zum Problem der Politisierung sozialer Ungleichheit, in: Jörg Ebrecht, Frank Hillebrandt (Hrsg.) Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft – Anwendung – Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 191

[6] Hierzu siehe: Jörg Potthast, Anmerkung 5, S. 182

[7] Soziologie der Kritik ist zwar im Anschluss an Boltanski und Bruno Latours Elend der Kritik zum vieldiskutierten Schlagwort geworden, dennoch scheint mir eine solche bis heute nicht richtig eingelöst. Das gilt auch für Luc Boltasnki/Eve Chaipello, Der neue Geist des Kapitalismus, in dem zwar ausführlich die Funktion der Kritik für die Erneuerung kapitalistischer Akkumulationsstrategien debattiert wird, was wiederum den aktuellen kulturellen Bedarf an Kritik mit erklären könnte, doch scheint mir die Unterscheidung in Sozialkritik und Künstlerkritik noch unzureichend, um gerade die unheimlichen Formen des Kritischen, insbesondere der schillernden Formen der Kulturkritik zwischen allen politischen Lagern zu erfassen.

[8] als Beispiele dieser Art seien die Konflikte Alice Schwarzers mit der multikulturell orientierten Migrationsforschung oder Slavoj Zizeks Polemik gegen jede Form minoritärer Politik genannt.

[9] Bourdieu schreibt dies vor allem den Intellektuellen zu. Dafür ließen sich jedoch zweifellos auch andere gesellschaftliche Gruppen nennen.

[10] Michael Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main 1993

[11] siehe: Ulf Wuggenig, Vom „Modell Sartre“ zum kollektiven Intellektuellen. Bourdieu, das intellektuelle Feld und der Algerienkrieg, in: Literatur (Beilage zum Mittelweg 36), Nr. 3, Juni/Juli 2006, Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 64 - 71

[12] zum Begriff einer Autorshaft von Kritik siehe: Helmut Draxler, Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin 2007, S. 127

[13] siehe Ulf Wuggenig, Vom „Modell Sartre“ zum kollektiven Intellektuellen. Bourdieu, das intellektuelle Feld und der Algerienkrieg, in: Literatur (Beilage zum Mittelweg 36), Nr. 3, Juni/Juli 2006, Hamburger Institut für Sozialforschung, S. 64 - 71