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02 2013

Was wir den „Sans-Papiers“ verdanken

Eine Rede aus dem Jahr 1997, gefolgt von einer aktuellen Stellungnahme

Etienne Balibar

Übersetzt von Stefan Nowotny

Redaktionelle Vorbemerkung:

Die folgende kurze Rede von Etienne Balibar geht auf eine von der französischen Filmemachervereinigung organisierte Veranstaltung zurück, die im März 1997 in Paris stattfand. Die Veranstaltung war nur einer von vielen Akten der Solidarisierung mit den „Sans-Papiers von Saint-Bernard“, einer Gruppe von etwa 300 Personen, die im Juni 1996 die Pariser Saint-Bernard-Kirche besetzt hatten und dort zum Teil in Hungerstreik getreten waren, um der Forderung nach Legalisierung ihres Aufenthalts Nachdruck zu verleihen. Gegen Ende August 1996 war die Kirche mit erheblicher Brutalität polizeilich geräumt worden, in weiterer Folge wurden seitens der französischen Regierung selbst die bereits gegebenen Versprechen gebrochen. Balibars Rede ist somit einerseits in den Zusammenhang anhaltender Solidarisierungen zu stellen, fällt jedoch andererseits auf einen Zeitpunkt, zu dem viele der Sans-Papiers von Saint-Bernard bereits ausgewiesen bzw. abgeschoben worden waren.

Die Situation der Sans-Papiers von Saint-Bernard ist mit jener der gegenwärtig in Wien und anderen europäischen Städten protestierenden Flüchtlinge nicht in allem identisch: So hatten in Frankreich seit Mitte der 1980er eine Reihe von Gesetzesverschärfungen (insbesondere die „Pasqua-Gesetze“ von 1986 und 1993) dazu geführt, dass Menschen, die seit vielen Jahren in Frankreich gearbeitet und Familien gegründet hatten, ihre bestehenden Aufenthaltstitel verloren: mit dem Effekt, dass zum Teil Familienväter und -mütter abgeschoben wurden, deren Kinder ihrerseits längst französische Staatsbürger_innen waren. Dagegen betrifft eine der zentralen Forderungen der aktuellen Wiener Flüchtlingsproteste gerade den Zugang zu regulärer Arbeit, um einer Existenz zu entrinnen, in der sich eine oft auf Dauer gestellte Aufenthaltsunsicherheit mit Arbeits- und Beschäftigungslosigkeit (bzw. allenfalls dem Zugang zu informeller oder hochgradig prekarisierter Arbeit) verbindet.

In der Differenz der Erfahrungen, aus denen sich die konkreten Artikulationen des Protests nähren, dokumentieren sich zweifellos auch einige jüngere Transformationen der ineinandergreifenden Regime von globalen Arbeitsverhältnissen und politisch-zivilen Rechten. Balibars Rede erscheint allerdings auch deshalb von durchaus gegenwärtigem Interesse, weil sie eine damals noch junge Selbstbezeichnung der Protestierenden – „Sans-Papiers“ – ernst nimmt, die dominante Zuschreibungen und Kategorisierungen unterläuft und auf ein geteiltes politisch-existenzielles Terrain verweist: nämlich eine Situation der fundamentalen Rechts- und Aufenthaltsunsicherheit, die daraus entsteht, dass in gegenwärtigen Verhältnissen, allen Menschenrechtserklärungen zum Trotz, oft selbst grundlegende Rechte nur hat, wer sie in Form von entsprechenden Papieren „verbrieft“ hat. Und sie insistiert zudem darauf, dass, worin auch immer das „Wir“ der jeweils Verbrieften bestehen mag, eine wirklich demokratische Bürger_innenschaft heute nur mit Sans-Papiers erschaffen werden kann.


Was wir den „Sans-Papiers“ verdanken

Wir, französische Bürger_innen aller Geschlechter, Herkünfte, Berufe, schulden den „Sans-Papiers“ großen Dank dafür, dass sie sich der „Klandestinität“, die ihnen zugeschrieben wurde, verweigert und mit aller Kraft die Frage des Aufenthaltsrechts aufgeworfen haben. Wir verdanken ihnen eine dreifache Demonstration, die uns einige Verantwortlichkeiten überträgt.

Wir verdanken es ihnen, die Kommunikationsbarrieren durchbrochen und sich für das, was sie sind, Sichtbarkeit und Gehör verschafft zu haben: nicht Phantasmen von Delinquenz und Invasion, sondern Arbeiter_innen, Familien von hier und anderswo, mit ihren Partikularismen und der Universalität ihrer Situation als moderne Proletarier_innen. Sie haben Fakten, Fragen, ja Widerstände bezüglich der wirklichen Probleme der Migration in der Öffentlichkeit verbreitet, anstelle der von den herrschenden Informationsmonopolen unterhaltenen Stereotype. Wir verstehen so besser, was eine Demokratie ist: eine Institution der kollektiven Debatte, deren Bedingungen indessen nie von oben gegeben sind. Das Recht zu sprechen, Sichtbarkeit, Glaubwürdigkeit müssen immer erobert werden, und zwar durch die Beteiligten und Betroffenen, die sich damit der Gefahr der Repression aussetzen. Und sie haben das mit besonnenem Mut getan, haben medienwirksame Gewalt und Opfer als Optionen abgelehnt – obwohl ihre Situation oft verzweifelt ist.

Wir verdanken es ihnen, dass sie das überhebliche Doppelspiel der aufeinanderfolgenden Regierungen zerschlagen haben: einerseits „Realismus“, administrative Kompetenz, politische Verantwortlichkeit (man müsse doch die Bevölkerungsströme regulieren, die öffentliche Ordnung aufrechterhalten, die „Integration“ legaler Zuwander_innen sicherstellen etc.), andererseits nationalistische und wahltaktische Propaganda (Bestimmung von Sündenböcken für die Unsicherheit, Projektion der Angst vor Massenarmut in den phantasmatischen Raum identitärer Konflikte). Die Sans-Papiers haben gezeigt, dass das Regime der Illegalität, dem sie unterworfen sind, vom Staat nicht reformiert, sondern vielmehr geschaffen worden war. Sie haben deutlich gemacht, dass eine solche Produktion von Illegalität – dazu bestimmt, zum Spielball politischer Manipulationen zu werden –, nicht ohne ständige Beeinträchtigungen der bürgerlichen Rechte (besonders die persönliche Rechtssicherheit betreffend, von der fehlenden Rückwirkungskraft der Gesetze bis hin zur Achtung von Würde und körperlicher Unversehrtheit) sowie nicht ohne ständige Zugeständnisse an den Neofaschismus und seine Wortführer vor sich gehen konnte. Sie haben damit einen der zentralen Mechanismen des sich ausweitenden institutionellen Rassismus ans Licht gebracht, der auf eine Art europäischer Apartheid hintendiert, in der sich Ausnahmegesetzgebung und die Verbreitung diskriminierender Ideologien verbinden. Aber sie haben ebenfalls gezeigt, wie man sich diesem Teufelskreis widersetzen kann: durch die Wiederherstellung der Wahrheit über die Geschichte und die Situation der Menschen, durch die Einbringung ihrer Interessen in Vermittlungs- und Verhandlungsprozesse, durch die Freisetzung der Universalität ihrer Rechte und des Beitrags ihrer Kulturen.

Wir verdanken wir es Ihnen schließlich (gemeinsam mit anderen, wie etwa den Streikenden vom Dezember 1995), Bürger_innenschaft unter uns neuerschaffen zu haben, insofern es sich dabei nicht um eine Institution oder einen Status, sondern um eine kollektive Praxis handelt. Sie haben das für sich selbst getan und gezeigt, dass man nicht Inländer sein oder der Nation angehören muss, um zum politischen Leben, zum Leben der „Cité“, verantwortlich beizutragen; aber sie haben auch neue Formen von Aktivismus und politischem Engagement auf den Plan gerufen und alte erneuert. Aktivismus und politisches Engagement aber sind, wenn nicht das Um und Auf von aktiver Bürger_innenschaft überhaupt, so doch mit Sicherheit eine ihrer unverzichtbaren Komponenten. Man kann nicht Demokratieverdrossenheit beklagen und sich zugleich über die Bedeutung hinwegsetzen, die den jüngsten Mobilisierungen rund um die Rechte von Ausländer_innen auf französischem (und allgemeiner: europäischem) Boden zukommt. Die Sans-Papiers haben somit dazu beigetragen, dem politischen Handeln jene transnationale Dimension zu verleihen, die wir für die Entwicklung von Perspektiven sozialen Wandels und eines neuen politischen Zusammenlebens in Zeiten der Globalisierung so sehr brauchen. Beginnend, zum Beispiel, mit einer Demokratisierung der Polizei- und Grenzinstitutionen.

Die Sans-Papiers, „Ausgeschlossene“ unter den „Ausgeschlossenen“ (und sie sind sicherlich nicht die einzigen), sind nicht länger bloße Opfer, sie sind zu demokratiepolitischen Akteur_innen geworden. Durch ihren Widerstand und ihre Erfindungskraft helfen sie uns mit Macht, der Demokratie neues Leben zu verleihen. Wir schulden ihnen also diese Anerkennung, und wir schulden es ihnen, das auszusprechen und uns in immer größerer Zahl an ihrer Seite zu engagieren, bis ihnen Recht und Gerechtigkeit widerfahren ist.


Nachbemerkung von Etienne Balibar, Februar 2013:

Ich fühle mich sehr geehrt, dass dieser kurze Text, den ich 1997 in Paris geschrieben habe, um meine Solidarität mit der Bewegung der „Sans-Papiers von Saint-Bernard“ auszudrücken und ihre Bedeutung zu unterstreichen, heute im Rahmen der Unterstützungskampagne für die Refugees im Sigmund-Freud-Park und in der Votivkirche in Wien übersetzt wird und Verbreitung findet. Ohne mir die Rolle eines Protagonisten zuzuschreiben – die ich damals nicht hatte und die ich auch heute nicht habe –, kann ich dennoch sagen, dass sich in diesem Umstand auch die Kontinuität der Kämpfe von Migrant_innen in Europa manifestiert und die Dringlichkeit der Solidarität, nach der sie ruft.

Jeder Ort, jeder Augenblick hat seine Besonderheit. Es sind konkrete Subjekte mit ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Bedürfnissen, die diese Kämpfe führen und die ebenso friedlich wie mutig in den Raum der Öffentlichkeit eindringen. Aber hier wie dort vermittelt sich ein und dieselbe allgemeine Frage, sie insistiert im Herzen des politischen Raums, der „cité“, und es ist nicht länger möglich, ihr auszuweichen.

Es wird notwendig sein, dass die Gesellschaften der Gegenwart, mit ihrem Anspruch, alle Vorteile aus der Globalisierung der Kommunikations- und Geschäftsbeziehungen zu ziehen, sich dazu durchringen, ein neues Recht einsetzen: ein Recht, das die Bewegung der Menschen, ihren Aufenthalt, ihre Arbeit, ihren sozialen Schutz betrifft und das es über die Grenzen hinweg zu etablieren gilt.

Wenn dieses Recht demokratisch sein soll (und ein solches Recht wird es in Wahrheit nur als eine Fortentwicklung der Demokratie geben können), dann muss es die Migrant_innen und Flüchtlinge nicht nur vor staatlicher Willkür und fremdenfeindlichen Haltungen schützen, sondern es muss sich auf ihre eigenen Erfahrungen und Kompetenzen gründen, die in ihren legitimen Forderungen nach Freiheit und Sicherheit Ausdruck finden.

Je mehr diese Forderungen von den Bürger_innen unserer Länder verstanden und weitergetragen werden, umso mehr werden Sprache und Praxis der Politik, die sich heute gefährlich auf korporative und nationale Interessen zusammenziehen, eine Chance haben, zu jener Universalität und jenem Erfindungsreichtum zurückzufinden, der ihnen eine emanzipatorische Tragweite für alle verleiht.

Ich grüße die Refugees in Wien und die Aktivist_innen, die sie unterstützen, in aller Verbundenheit, Bewunderung und Hoffnung.