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01 2007

Spekulative Performance

Kunst und Finanzökonomie

Brian Holmes

Übersetzt von Karoline Feyertag

Seit der holländischen Tulpenmanie wird mit ästhetischen Werten spekuliert. Dieser Spekulationswahn aus den 1620er Jahren bestätigt eine Bemerkung von Cornelius Castoriadis über den nicht-funktionellen, aber dennoch die industrielle Produktionsweise bestimmenden Charakter der Börse. Die Finanzspekulation sei im Herzen des „instituierten Imaginären“ der westlichen Gesellschaften angesiedelt.[1]

Dennoch hätte man sich vor unserer Zeit nie träumen lassen, dass aus Börseninformationen künstlerisches Material werden würde. Der erste Schritt dazu wurde mit der Ausstellung Derivados, Nuevas visiones financieras gesetzt, die in der Casa Encendida in Madrid im Sommer 2006 stattgefunden hat. Das Organisationsteam, Derivart, hat eine Auswahl an Arbeiten des neuen Genres Finance Art getroffen – mit dem Ziel, „eine künstlerische Erkundung und eine kritische Analyse der Börsen und BankerInnen“[2] zu unternehmen.

Es handelt sich um eine Informationsästhetik: die Transformierung der Datenflüsse in visuelle oder akustische Repräsentationsformen anhand von Computeralgorithmen.[3] Die beeindruckendste Arbeit ist das Werk Black Shoals. Es zeigt ein Planetarium, in dem das Blinken der Sterne die Wertpapierschwankungen einiger zehntausend Unternehmen wiedergibt. Wie AktionärInnen erklären, ist die „Visualisierung heute charakteristisch für die Erfahrung von professionellen BörsengängerInnen. Eine originelle Repräsentation gestattet eine andere Interpretation der Daten und ermöglicht es, Kaufoptionen zu sehen, von denen die anderen nichts wissen.“

Einige Monate später haben die Mitglieder von Derivart selbst an die Börse zu gehen versucht – mit der Performance Tickerman. Ein Künstler schafft mit Pinseln und Farbtöpfen ein Gemälde, das an den abstrakten Expressionismus erinnert und bei dem die Pinselstriche direkt das rhythmische „Staccato der Börse“ übersetzen, welches von den Gewinnquoten der Unternehmen erzeugt wird. Die Finanzdaten werden von einem Toningenieur in akustische Töne transkodiert, die im Gemälde erneut greifbar werden und deren lächerlicher Charakter die eigentliche Frage aufwirft: Was bietet die höchsten Gewinnoptionen? Die Musik, die beiläufige Geste ihrer visuellen Umsetzung, das Bildobjekt, welches daraus entsteht, die dadurch hervorgerufene Parodie oder die Wiederholung der Performance auf YouTube? Das ist eine klassische Arbitrage: Was am meisten wert ist, hängt ab von denjenigen Aspekten des Werkes, in die investiert wird.

Profitgierig, aber ohne Risiken einzugehen, können die modernen Arbitrageure ihren Einsatz verdoppeln, indem sie an mehreren Tischen gleichzeitig spielen. Der Ökonom von Derivart, Daniel Buenza, beschreibt ihre Strategie folgendermaßen: „Immer abstrakter werdend, versuchen sie einzelne Qualitäten zu unterscheiden, wie etwa die Volatilität eines Wertpapiers, dessen Liquidität und Konvertierbarkeit, seine Indexfähigkeit etc. […]. Die davon abgeleiteten Produkte wie Swaps, Optionen und andere Finanzinstrumente spielen eine wichtige Rolle. […] Die Broker an der Börse verwenden sie, um ihre Risiken gering zu halten.“[4]

Derivart möchte nicht nur eine künstlerische Erforschung, sondern eine kritische Analyse betreiben. Wenn Kritik als eine rein dekonstruktive Handlung verstanden wird, dann ist die Performance von Tickerman kritisch, ebenso wie die Operationen der Arbitrage im zuvor zitierten Text zu „Kunst“ werden. Wenn aber Kritik ihrer Etymologie nach verstanden wird – als Versuch einer Intervention im Augenblick einer Lebenskrise –, dann muss nach einer kritischen Kunst gesucht werden, die sehr weit von einer einfachen Permutation der Daten, wie sie für die Informationsästhetik charakteristisch ist, entfernt ist.

Was ist das Imaginäre der Finanzwelt? Wie hat es sich aus der „gesellschaftlichen Funktionalität“, wie Castoriadis es nennt, gelöst, um zur dominierenden Institution des zeitgenössischen Kapitalismus zu werden? Kann die Kunst uns helfen, den Einfluss dieser Institution zu verstehen? Und kann sie uns vor allem helfen, ein anderes Imaginäres zu instituieren? Seit den Vorlesungen von Foucault über den Neoliberalismus weiß man, bis zu welchem Grad die Spekulation mit Humankapital ein Hauptvektor im Prozess der Subjektivierung geworden ist.[5] In der Folge des großen Börsenkrachs im Jahr 2000 und seit dem 11. September ist das Bedürfnis nach Intervention kritisch geworden, da diese Ereignisse das neoliberale Modell in eine Krise geführt haben, indem sie eine neue Kriegsordnung eingeleitet haben.[6]

Dieser Artikel wird zwei Performances untersuchen, die jeweils ihre UrheberInnen, deren Körper und Seelen, bei der Reflexion über Finanzmärkte implizieren. Der Anthropologe Victor Turner erklärt, was von dieser Art Performance erwartet werden kann: „Die performative Reflexivität ist eine Bedingung, unter der sich eine soziokulturelle Gruppe (oder deren erfahrenste Mitglieder, die repräsentativ agieren) dreht, wendet oder auf sich selbst zurückkommt, auf die Beziehungen, Handlungen, Symbole, Bedeutungen, Codes, Rollen, gesellschaftlichen Verträge, ethischen und gesetzlichen Verantwortungen und alle anderen soziokulturellen Komponenten, welche ihre öffentlichen Identitäten konstituieren.“[7]

 
Ein zweischneidiges Spiel

Im Oktober 2002 fällte der australische Künstler Michael Goldberg eine Reihe von Entscheidungen, die es ihm gestatteten, „sich als day trader zu verhalten“ und gleichzeitig das allgemeine Dispositiv der Finanzmärkte zu analysieren. Ausgestattet mit einem Kapital von 50.000 Dollar, die ihm ein „Konsortium“ aus drei erfahrenen BörsianerInnen, die er über ein Diskussionsforum im Internet für sein Projekt gewinnen konnte, geliehen hatte, begann er auf künstlerische Weise mit den Derivaten einer einzigen Aktie zu spekulieren – News Corp., das Medienimperium des Rupert Murdoch.

Die Performance dauerte drei Wochen und fand in der Artspace Gallery in Sidney statt. Sie verbreitete sich im Internet über eine Webseite mit Informationen über Kunst und Finanz, einer permanent aktualisierenten Geschäftsbilanz und einem virtuellen Diskussionsforum; zudem konnte der Künstler über eine eigene Telefonleitung jederzeit angerufen werden. Der Titel der Performance hieß Catching a Falling Knife („Ein fallendes Messer fangen“), was im Finanzjargon ein Risikogeschäft bezeichnet. Zur dieser Zeit beklagten die Märkte den Absturz von Giganten wie WorldCom, Vivendi-Universal oder Enron. Bei den stark rückgängigen Börsenkursen von 2002 ermöglichten die Derivate Wetten über den Anstieg oder Abfall einer Aktie. Nachfolgend eine Beschreibung der Anordnung:

 „Der/die ZuschauerIn betritt einen verdunkelten Saal. Zahlen werden an die Wände projiziert – in Realzeit angeführte Aktienpreise, Kurven, die mittlere Kurswerte darstellen, Finanznachrichten. Die Werte ändern sich und die Graphiken bewegen sich, entwickeln sich von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekunde in Sequenzen aus Arabesken und Parallelschritten. Sie antworten augenblicklich auf die mobilen Algorithmen, die live von den weltweiten Börsen geschickt werden. […] Auf einem Gerüst gegenüber sitzt der Künstler oben auf einer Plattform, sein Gesicht von einer Bürotischlampe erhellt, und beobachtet die Bildschirme seiner Computer. Er spricht am Telefon, eröffnet ein Geschäft oder schließt es ab. Unterhalb gibt ein mit Dioden ausgestatteter Fernschreiber Nachricht von Verlusten und Gewinnen. Ein Tonband wird bei einer Lautstärke von Hintergrundmusik abgespielt. Die Stimme des motivierten Sprechers  ermahnt Sie, sich ein klares mentales Bild von der genauen Geldmenge zu machen, die Sie sich wünschen – und zu entscheiden, wie Sie dieses Geld verdienen wollen, bis Sie so reich sind, wie Sie es zu sein wünschen‘“.[8]

Anhand der Zahlenprojektionen auf den Wänden versuchte Goldberg, den/die ZuschauerIn in die vor Informationen blinkende Welt einzuführen, mit welcher der/die BörsianerIn ständig auf den Bildschirmen konfrontiert ist. Die Entscheidung, ein Service telefonischer Courtage (Börsensteuer) in Anspruch zu nehmen, ermöglichte es, den Affekten der Angst und des Geizes, welche die Märkte bewegen, einen stimmlichen Ausdruck zu verleihen. Die täglich verfassten Berichte für das geldgebende Konsortium – welches zwar die Risiken in Kauf nehmen musste, jedoch auch Gewinnrechte hatte – vergrößerten den Druck der Selbstüberwachung, der analog zu den Zwängen ist, denen der professionelle Broker ausgesetzt ist. Indem Goldberg dies alles durchspielt, aber mit realem Geld, transformiert er die intime Interaktion zwischen spekulierendem Individuum und Markt, so wie sich Letzterer auf den Bildschirmen der Computer manifestiert, in ein öffentliches Ereignis.

Was geschieht, wenn man das Spiel der elektronischen Börse spielt? Urs Bruegger und Karin Knorr Cetina definieren die Weltfinanzmärkte als „Wissensartefakte“, die sich innerhalb von sorgfältig artikulierten, technologischen und institutionellen Rahmenbedingungen konstituieren und die immer prozesshaft bleiben, ständig neu formuliert werden und immer aufs Neue zu ergänzen sind. Die unendliche Wandelbarkeit dieser „epistemischen Objekte“ scheint ihnen eine Ähnlichkeit mit einer „Lebensform“ zu haben, die ausschließlich auf den Bildschirmen des Brokers sichtbar wird. Laut den beiden SoziologInnen ist „der Bildschirm […] eine Baustelle, auf der sich eine komplette ökonomische und epistemologische Welt errichtet“. Man kann in diese Welt eintauchen, sie manipulieren und siegreich aus ihr hervorgehen. Der Reaktionsfluss, der auf den Bildschirmen sichtbar wird, ermöglicht „post-soziale Beziehungen“[9].

Der Terminus „post-sozial“ ist eine Provokation – aber er deutet auf eine Aktualität hin, in der sich Bildschirme in privaten und öffentlichen Bereichen sowie im Handel vervielfachen. Bruegger und Knorr Cetina, die die ökonomische Anthropologie von Karl Polanyi perfekt kennen, unterschlagen keineswegs die Beziehungen von Hierarchie, Synchronisation und Reziprozität, welche die „Einbettung“ der Finanzoperateure in eine Sozialstruktur sicherstellen und die sie in diesem Fall eine „globale Mikrostruktur“ nennen. Dennoch vertreten sie die Meinung, dass die ursprünglichste Beziehung, die der Broker unterhält, jene ist, die ihn mit dem Datenfluss selbst verbindet bzw. mit dem, was die Cyberpunk-Theorie eine „konsensuale Halluzination“ genannt hat. Dies nennen sie eine post-soziale Beziehung: „Verbindungen mit anderen Nichtmenschen“ einzugehen. Im Finanzkontext ist die erste existenzbegründende Tatsache jene, „eine Position zu beziehen“, das heißt Geld in einen Aktivposten zu investieren, dessen Wert je nach Marktlaune schwankt. Ist erst einmal die Position bezogen, befinden Sie sich drinnen: Von nun an sind es die Marktschwankungen, die vor allem anderen zählen.

Die Performance von Goldberg hebt diese angsterfüllte Beziehung zu einem ungreifbaren Objekt hervor, zu so etwas wie einer Menge an brodelnden Informationen, deren Strudel sich manchmal in Verkaufszahlen aufklärt, bevor sie sich bei einem Panikausbruch auflösen. In einem Interview erklärt Goldberg, dass die day traders eigentlich nur die potenzielle Rentabilität der Unternehmen auszurechnen haben, sie aber hauptsächlich damit beschäftigt sind, die Positionsveränderungen ihrer KollegInnen zu evaluieren: „Sie ziehen es vor, die Graphiken zu beobachten, die von den Bewegungen der BörsenspekulantInnen auf den Märkten jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde berichten. Sich ein klares Bild von der Richtung zu machen, welche die große Masse einschlägt, und sich mit ihr in Bewegung zu setzen – egal ob aufwärts oder abwärts.“ Er spricht die Erfahrung an, sich auf eine Position zu stürzen, um schließlich um jeden Preis zu verkaufen, egal ob mit Profit oder Verlust: „Ich muss dabei an eine Szene aus dem Film Blow up von Antonioni denke, als sich die von David Hemmings gespielte Person unter Rockfans mischt, als diese sich gerade um die Reste einer Gitarre schlagen, welche am Ende des Konzerts zerstört und in die Menge geworfen wurde. Er geht siegreich aus diesem Kampf hervor, aber wirft die begehrte Reliquie einige Momente später wie ein Abfallstück fort – der Adrenalinanstieg während der Jagd nach ihr war die einzige wahre Befriedigung gewesen.“[10]

Auf ähnliche Art und Weise reflektieren SoziologInnen über die Intensitäten eines leeren Begehrens, indem sie postulieren, dass „das, was die Broker auf ihren Bildschirmen antreffen, Platzhalter für einen viel fundamentaleren Objektmangel sind“. Sie erinnern an das Lacan’sche Konzept des Spiegelstadiums, in dem das Kind in der vorsprachlichen Phase vom Anblick seines Körpers als Einheit fasziniert ist, obwohl seine Selbstwahrnehmung jene eines zerstückelten Körpers ohne mögliche Einheit ist. Laut ihnen resultiert „die Verbindung (das In-Beziehung-Stehen, die Gegenseitigkeit) […] aus der Schnittstelle eines Subjekts, das eine Reihe von Wünschen bekundet, mit einem in Entwicklung befindlichen Objekt, welches auf diese Wünsche antwortet, indem es den Mangel sichtbar macht“. Der Rhythmus der Märkte auf den Bildschirmen ist eines dieser in Entwicklung befindlichen Objekte, welche dazu dienen, das Begehren zu binden und zu formen. Die beiden SoziologInnen sprechen hingegen nie von Entfremdung. Sie entlehnen einen Begriff von Clifford Geertz, welcher das „tiefe Spiel“ [deep play] der BewohnerInnen von Bali beschreibt, bei dem diese während der traditionellen Hahnenkämpfe verrückte Summen verwetten. Mithilfe dieses Begriffes wird die ästhetische Unbestimmtheit in die Finanzwelt eingeführt.

Muss die Performance von Goldberg als ein einfaches Zelebrieren des „tiefen Spiels“ gesehen werden – als ein ästhetisierter Überblick über die Fakten und Gesten einer globalen Mikrostruktur, welcher der sie bedingenden Makrostruktur gegenüber indifferent bleibt? Die unheilvolle Präsenz des vergrößerten Porträts von Rupert Murdoch am Eingang zur Galerie stellt sich gegen eine solche Lesart. Die vorangegangenen Arbeiten von Goldberg drehten sich um Institutionen des Britischen Imperiums in Australien. Indem er dieses Mal ausschließlich mit News Corp. spekuliert, platziert er die Beziehungen eines kleinen lokalen Brokers im Inneren eines Machtbogens, der sich von Australien, dem Geburtsort von Murdoch, über Interessen in Italien und England bis hin in die USA erstreckt. Murdoch ist ein direkter Unterstützer der angloamerikanischen Kriegskoalition, dem es möglich ist, über die Informationen, die seine Medien verbreiten, den Aktienkurs – und politische Entscheidungen – zu beeinflussen. Als Schlüsselfigur im Bereich des Satellitenfernsehens stellt er eine wichtige Infrastruktur für die neue imperiale Politik zur Verfügung. Der milliardenschwere Magnat ist Herr über eine post-soziale Beziehung in weltweitem Maßstab: Herr über die Beziehung, die gesamte Bevölkerungen zu den überhand nehmenden Bildschirmen, die die öffentlichen Affekte strukturieren, unterhalten. Der Verweis auf Murdoch platziert die Mikrostruktur der Finanz innerhalb der Makrostruktur der Imperialmacht und fügt dem Militärvokabular, das der Künstler gebraucht, wenn er von den BörsenspekulantInnen spricht, einen tieferen Sinn bei. Seine Kritik kann noch so stillschweigend sein: Sie ist deutlich. Auf diese Weise zeigt die Performance, bis zu welchem Grad der elektronische Markt – mit seinen Beziehungen zwischen Gesicht und Bildschirm, zwischen begehrendem Körper und fluktuierender Information – ein grundlegendes Kontrollmittel innerhalb der Kriegsökonomie des in eine Krise geratenen Neoliberalismus geworden ist.

Die Performance von Goldberg ist kein einfaches Zelebrieren des „tiefen Spiels“ der Märkte. Aber es stellt sich eine andere Frage. Ist diese stillschweigende Kritik nicht auch ihrerseits eine Arbitrage, eine Art und Weise, dafür und dagegen gleichzeitig zu wetten? Schließlich kann sich eine kritische Arbeit in linken, universitären Milieus immer schon ihres Erfolges und der Wertschätzung gewiss sein, wie auch immer sich die monetäre Bilanz gestalten mag; währenddessen hätte eine Reihe von fantastischen Schachzügen auf den Märkten eine große Menge an BesucherInnen angezogen und eine starke Medienpräsenz nach sich gezogen, indem es einen weiteren Skandalerfolg gegeben hätte. Im besten Fall hätte der Künstler auf beiden Seiten gewinnen können. Ein australischer Kritiker beschrieb Catching a Falling Knife als „zweischneidige“ Angelegenheit, da sie den ethischen Widerspruch zwischen der Welt der Kunst und jener der Finanz thematisiert. Sie könnte aber genauso gut einen Versuch darstellen, zwei starke Positionen zu besetzen und diese auf zwei Welten aufzuteilen. Es stellt sich hier die Frage nach der politischen Rolle des/r Künstlers/in und nach der Art und Weise, wie seine/ihre Produktion das kollektive Begehren bestimmt. Wie kann eine kritische Beziehung, eine Rivalität und ein Ausstieg aus dem Inneren des Apparats heraus unternommen werden, dessen Faszination die fesselndste des zeitgenössischen Kapitalismus ist?

An diesem Punkt verstummt die Performance und zieht sich in ihre analytische Dimension zurück. Goldberg hatte vielleicht diese Herausforderung annehmen wollen. Es ist ebenso möglich, dass er sie nicht berücksichtigt hat. Wir werden es niemals wissen, denn die Wirklichkeit hat es nicht unter Beweis gestellt. Anstatt großartig zu „reüssieren“, verlor er Geld – und dies nur, weil die Aktie von News Corp. gestiegen ist, anstatt wie vorhergesehen zu sinken. Man wird daher nicht nach seinen Handlungen, sondern nur nach seinem Schlusswort seine ursprünglichen Intentionen beurteilen können. Es muss ihm hingegen angerechnet werden, dass er dieses Schlusswort noch vor Beginn der Performance ausgesprochen hat: „Ich glaube, dass der reale Wert des Projektes aus den Fragen, die aus den dunklen Winkeln seiner Unwahrscheinlichkeiten hervorkommen, aufscheinen wird – und nicht aus dem Spektakel einer Erfüllung seiner Erwartungen.“

 
Kartographien auf Abwegen

Castoriadis spricht von einem instituierten Imaginären. Aber wie instutiert es sich bis zu dem Grad, an dem es sogar die Wahrheit einer Gesellschaft bestimmt? Und wo ist die Unwahrscheinlichkeit (das heißt die Fiktion) dieser Institution anzusetzen? Die Fähigkeit zu künstlerischer Intervention hängt von den Antworten auf diese Fragen ab. Sie können jedoch nicht außerhalb der zeitgenössischen Bedingungen gestellt werden.

Dies scheint Castoriadis nicht bedacht zu haben, als er am Ende seines Textes „Macht, Politik, Autonomie“ den Akt des instituierenden Vermögens definierte: „Institutionen zu schaffen, die, von den Individuen verinnerlicht, das Erreichen ihrer individuellen Autonomie und ihre effektive Teilnahme an jeglicher Form expliziter Macht, die in der Gesellschaft existiert, in größtmöglichem Maße erleichtern.“[11] Man kann sich jedoch fragen, wer solche Institutionen erschaffen wird, wenn die Verinnerlichung als solche nicht mehr funktioniert. In einem Text, der ihre Reflexion über die post-soziale Beziehung weiterführt, geht Knorr Cetina so weit, von einem Verschwinden der „sozialen Einbildungskraft“ zu sprechen, welche als Fähigkeit zur Verinnerlichung einer Figur des Anderen als eines persönlichen Zensors verstanden wird, der als die zu erreichende Norm idealisiert wird oder als zu überschreitende Grenze abgelehnt wird.[12] Die Beziehung zu einer inneren Einheit wird durch eine endlose Suche nach Teilobjekten ersetzt, die äußerliche Aspekte einer von sich selbst immer abweichenden Identität sind. Die Soziologin dehnt den Begriff des in Entwicklung befindlichen Objekts auf alle Arten von Bildern und Massenkonsumprodukten aus, welche in der alltäglichen Umwelt die Funktion des Spiegels übernehmen, in dem sich das Kind selbst begehrt, ohne sich jemals zu erreichen. Das Lacan’sche Konzept des „Seinsmangels“ erweist sich als besonders aussagekräftig, wenn es darum geht, eine strukturale Kartographie der Subjektivierungsbeziehungen in den stark mediatisierten, kapitalistischen Gesellschaften zu entwerfen. Aber wäre nicht in einer derartigen Gesellschaft das instituierende Imaginäre, welches die aktuelle Kartographie umstoßen könnte, ebenfalls prozessual und ausgelagert?

Anstatt das Gesetz der Subjektivierungsbeziehungen festzulegen, um wahre Aussagen zu erhalten (von der Art „les noms du père / les non-dupes errent“ [„die Namen des Vaters / die Unbetrogenen irren“, die beiden Ausdrücke sind auf Französisch homophon; Anm. d. Übers.], um noch einmal Lacan zu zitieren), sind die schizoanalytischen Kartographien von Félix Guattari dazu angetan, Prozesse mit variablen Parametern darzustellen, die von jenen, die an ihnen teilnehmen, verändert werden können.[13] Die vier Register dieser Kartographien (existenzielle Territorien, Universen unkörperlicher Bezugspunkte, Phylen abstrakter Propositionen, Empfindungs- und Signalströme) haben weder einen eigenen Inhalt noch kennen sie im Vorhinein festgelegte Interaktionen, sondern sie dienen dazu, die Komponenten und Vektoren von komplexen Systemen, von wahren Subjektivierungsmaschinen, aufzuzeigen, die uns auf ein gegebenes Territorium festnageln oder im Gegenteil von dort wegbringen, uns deterritorialisieren. Das Interesse der Modellisierung besteht in der Steigerung des Bewusstseins all dessen, was ein komplexes und mobiles Milieu sich weiterentwickeln lässt, wobei dieses Milieu aus den Interaktionen zwischen Körpern, Orten, Bildern, Ideen, Energien und Werkzeugen entsteht. Aus dieser Perspektive bedeutet Intervention die Schöpfung eines beweglichen Spiegels mit vielen Facetten, in dem sich eine Subjektivität in Bewegung reflektiert – aber es bedeutet gleichzeitig, dass man sich den Risiken der Maschine aussetzt, welche die Risiken des In-Gesellschaft-Seins sind. Auf diese Weise bilden sich also Forschungskollektive oder vielmehr Vehikel zur Erforschung der Krise heraus, bei denen das Imaginäre so erzeugt wird wie angehängte Dateien, sogar in derselben maschinischen Exteriorität, mit der Absicht, die Möglichkeit einer Institution wieder herzustellen.

Ein spekulatives Projekt kann uns den Weg weisen. Es handelt sich um eine im Sommer 2005 ausgesprochene Einladung an KünstlerInnen, ForscherInnen aus den Sozialwissenschaften, PhilosophInnen, AktivistInnen und alternative MedienredakteurInnen, ihren Diskurs und ihre Praktiken einer Mobilitätsprüfung jenseits des Gewöhnlichen zu unterziehen, indem sie an einer Konferenz auf den Schienen der transsibirischen Eisenbahn teilnehmen. Das von dem Kollektiv des Webjournals ephemera organisierte Ereignis hatte den Titel Capturing the Moving Mind: Management and Movement in an Age of Permanently Temporary War. Der Partizipationsaufruf beginnt folgendermaßen:

 „Im September 2005 wird ein Treffen im transsibirischen Zug von Moskau über Nowosibirsk bis Peking stattfinden. Das Ziel dieses Treffens ist ‚kosmologisch‘. Wir wollen eine Gruppe von Personen zusammenbringen – PhilosophInnen, ForscherInnen, KünstlerInnen und andere, die sich für die Veränderungen der Gesellschaft interessieren und die diese Veränderung praktisch vollziehen wie die ihres eigenen Bildes in Bewegung, eines Bildes der Zeit.“[14]

Diese „Organisationserfahrung“ beginnt mit einem ontologischen Unruhezustand, der von der kompletten Suspendierung der Produktionsimperative hervorgerufen wird, die üblicherweise die Hypermobilität von flexiblen Individuen kanalisieren. Was geschieht mit dem verlangsamten Geist einer Gruppe in Bewegung, im Inneren eines engen Raums, auf lange Zeit, in den Abteilen eines Zuges, der sich durch die sibirische Steppe schlängelt? Das ist die Frage, welche die OrganisatorInnen der Reise stellen wollten – als Gegengewicht zur „neuen Kontroll- und Organisationsform“, welche in ihren Augen auf den kognitiven ArbeiterInnen von heute lastet: „Sie operiert ohne institutionelle Legitimierung und ihre Logik und ihre Begründungen scheinen sich von einem Tag auf den anderen zu ändern: Es handelt sich um eine Macht ohne logos, also um eine willkürliche Macht im Rohzustand und ohne gefestigten Bezug zu Gesetzen, Normen oder irgendeiner speziellen Aufgabe.“ Diese zeitgenössische Machtfigur ist in direktem Bezug auf die monetären Fluktuationen konzipiert: „Während Disziplin immer an geprägtes Geld mit Gold als Messwert gebunden war, basiert Kontrolle auf schwankenden Quoten, Modulationen und den Organisationen der Beweglichkeit von Geldern. Kurzum, es wird versucht, den Bewegungen und Wechseln als solchen zu folgen oder sie zu initiieren, ohne ihre jeweiligen Inhalte zu berücksichtigen. Die Ökonomie des Wissens ist die Fortsetzung des Kapitalismus ohne Fundament, und die willkürliche Macht ist seine logische Organisationsform.“[15] Das „Einfangen des Geistes in Bewegung“ findet im Kontext eines „zeitgenössischen permanenten Krieges“ statt, in dem die neokonservative Doktrin des Präventivschlags wie ein extremer Versuch wirkt, sich gegen jegliches menschliche Risiko zu wappnen.

Im Angesicht des gnadenlos logischen Charakters dieser Doktrin wird die Reise zu einer gelebten Spekulation, übertragen und reflektiert durch unterwegs entstehende Gesten, Bilder und Konzepte von ungefähr vierzig TeilnehmerInnen. Es werden Konferenzen im Speisewagen des Zuges abgehalten; ein eigenes Radio wird in den Waggons gesendet; es werden Werke anhand verschiedener partizipativer Vorgehensweisen geschaffen; die telematische Plattform „Mobicasting“ entfaltet sich und schickt Texte und Bilder an einen Webserver in Finnland; es kommt zu Treffen mit russischen und chinesischen AkademikerInnen in Moskau, Nowosibirsk und Peking. Der unübliche Charakter des Unternehmens gibt einigen spontanen Performances Raum, bei denen die TeilnehmerInnen einen Sinn zu verinnerlichen versuchen, der in alle Richtungen davonläuft: Eine schweigende Demonstration findet an der russisch-mongolischen Grenze statt; ein kollektives Psychodrama in einer Galerie in China. Das Schlagen der Metallräder auf den Schienen stand ohne Zweifel für die unermesslich weiter reichenden maschinischen Beziehungen, die das Unbewusste der Globalisierung konstituieren.

Es ist schwer, die Ergebnisse einer solchen Erfahrung zu evaluieren. Es scheint, als würde sie einen Versuch darstellen, die Strategien einer punktuellen Konvergenz an einem Ort X zu modellieren und neu durchzuspielen. Diese Strategien haben es in der Phase der Gegengipfeltreffen ermöglicht, dass sehr weit verstreute Netze zur Antiglobalisierungsbewegung werden konnten. Man hat es hier mit so etwas wie einer reinen Recherche im ethisch-praktischen Bereich der Mobilisierung zu tun. Was auf jeden Fall deutlich wird, ist der Wunsch, die ausgelagerten Elemente eines Imaginären in Bewegung auf die Probe zu stellen. Wird dies institutionelle Folgen haben?

Der finnische Kern des Projektes hat gerade ein Kollektiv mit dem Namen „Research Station General Intellect“ in der Absicht gegründet, Untersuchungen von der Wirtschaftsfakultät der Universität Helsinki aus durchzuführen. Die Arbeiten des Verlagshauses Polemos werden auf die gleiche Weise weiterverfolgt, ebenso wie die Konferenzreihen und ein Multimediaexperiment, welche sich mit den Anfängen politischer Organisation auseinander setzen. Hier scheinen die Listen der Arbitrage unmöglich: Niemand weiß, was daraus werden wird. Es handelt sich um nach wie vor unsichtbare Kartographien von noch nie vermessenen Territorien.



[1] C. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 212. Auch wenn Castoriadis die Börse nur nebenbei erwähnt, wird der Sinn seiner Bemerkung auf Seite 220 klarer: „Warum muss eine Gesellschaft die notwendige Ergänzung ihrer Ordnung gerade im Imaginären suchen? Warum findet sich im Zentrum dieses Imaginären und in allen seinen Äußerungen etwas, das funktional nicht zu erklären ist: eine Art ursprünglicher Besetzung der Welt und des Selbst mit einem Sinn, der der Gesellschaft nicht von realen Faktoren ‚diktiert‘ worden ist, weil es ja eher umgekehrt gerade dieser Sinn ist, der jenen realen Faktoren ihre Wichtigkeit und ihren bevorzugten Platz im Universum dieser Gesellschaft zuweist […]?“

[2] Siehe dazu den Katalog: www.derivart.info/material/derivados/DERIVADOS_final.pdf. Das Projekt Tickerman befindet sich auch auf dieser Seite.

[3] Zahlreiche Beispiele finden sich auf http://infosthetics.com

[4] D. Buenza und D. Stark, „Tools of the Trade: The socio-technology of arbitrage in a Wall Street trading room“, in: Industrial and Corporate Change, 13/2, 2004, S. 369–400. Webversion: www.stern.nyu.edu/mgt/seminars/downloads/tools_of_the_trade.pdf

[5] M. Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006.

[6] P. Zarifian, „Pourquoi ce nouveau régime de guerre?“, in: Multitudes 11, Winter 2003.

[7] V. Turner, The Anthropology of Performance, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1987, S. 24.

[8] M. Goldberg, „Catching a falling Knife: a Study in Greed, Fear and Irrational Exuberance“, Konferenz in der Art Gallery von New South Wales, 20.09.03, abrufbar auf http://www.michael-goldberg.com/read_more/04_greed_and_fear.pdf. Bilder von der Installation finden sich unter der Rubrik „Projects“ auf derselben Seite.

[9] K. Knorr Cetina und U. Bruegger, „Traders’ Engagement with Markets: A Postsocial Relationship“, in: Theory, Culture & Society 19/5–6 (2002).

[10] M. Goldberg, Interview mit Geert Lovink, „Catching a Falling Knife: The Art of Day Trading“, verfügbar auf http://www.michael-goldberg.com/read_more/01_fibre_culture.pdf. Das folgende Zitat von Goldberg stammt aus demselben Interview.

[11] C. Castoriadis, „Macht, Politik, Autonomie“, in: Ders., Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften, Band 1, Lich: Edition AV 2006, S. 163.

[12] K. Knorr Cetina, „Postsocial Relations“, in: G. Ritzer / B. Smart (Hg.), Handbook of Social Theory, London: Sage 2001, S. 525 f.

[13] F. Guattari, Cartographies schizoanalytiques, Paris: Galilée 1989.

[15] A. Virtanen und J. Vähämäki, „The Structure of Change: An Introduction“, in: ephemera: theory & politics in organisation 5/X, verfügbar auf www.ephemeraweb.org/journal/5-X/5-Xindex.htm; die Ausgabe ist einer allgemeinen Bilanz des Projektes gewidmet.