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01 2013

Heterolinguale Stickereien

Anne Querrien

Übersetzt von Birgit Mennel

Ich bin nicht frankophon; die französischen Laute gehen mir nicht natürlich über die Lippen, sondern sind ein Resultat meiner Erziehung. Wenn ich alleine auf der Straße singe, fernab von den Ohren meiner Eltern, meiner Kinder, meiner Geschwister und fernab von den Franzosen und Französinnen, dann steigen unverständliche Klänge auf und fallen auf die Erde; Klänge, die vielleicht von russischen oder mediterranen Endungen umhüllt sind; Anklänge an Sprachen, in denen die Frauen auf „a“ enden. Die Frauen sind „a“; sie sind Öffnungen, die den mediterranen Sprachen die Konsonanten entlocken, die sie zur Liebe zwingen. Die seit Generationen französische Familie liegt unterdessen auf der Lauer: „Stell dich nicht zur Schau! Glaub’ nicht, du wärst eine Fremde; du bist und bleibst Französin. Du wurdest kolonisiert und du musst in der Sprache des Anderen brillieren.“ Eine sehr gute, eine exzellente Schülerin, ein Wesen von nahezu perfekter Unterwürfigkeit. In diesem „nahezu“ liegt die kleine Differenz, die keine Differenz des Geschlechts, sondern der Herrschaft ist; die einer rechtmäßigen Auslöschung oder vielmehr des Aufbegehrens gegen diese Auslöschung; die des Eintritts in jene Tout-monde [All-Welt], die Edouard Glissant so sehr am Herzen liegt; die All-Welt, in der alle Sprachen Schwestern und gleich sind; die Welt, in der sie miteinander tanzen können: die Welt der Heterolingualität oder des Heterolinguismus.

Der im September in den Laboratoires d’Aubervilliers von Stefan Nowotny, Birgit Mennel und Boris Buden zum Thema Heterolingualität organisierte Workshop hätte auf den ersten Blick als bunter Haufen erscheinen können: Segmente der französischen Gesellschaft, die über ein Konzept versammelt werden, aber keine gemeinsame Praxis haben. Man hätte sich in einer aus konvergierenden Linien bestehenden Abstraktion verlieren können, indem unterschiedlichen Praxen vermeintlich gemeinsame Konzepte entnommen und die zentralen Subjekte, denen ein Wissen unterstellt wird, mit einem Überschuss an Code versehen hätte, um ihn auf andere Gebiete zu übertragen. Zwei Faktoren haben dazu beigetragen, diesen in universitären Zusammenkünften so häufigen Fehler nicht zu begehen: Einerseits die ausgesprochene Bereitschaft der ModeratorInnen  zuzuhören und nicht vorab fabrizierte Hypothesen zu projizieren; sowie andererseits die bereits bestehenden Beziehungen zwischen den Teilnehmenden – von denen vorher niemand wusste –, die jeweils paarweise über unterschiedliche, vergangene, aber bis zum gegenwärtigen Moment lebendige Geschichten miteinander verbunden waren. Der Stern wurde zum „Rhizom“, um ein Konzept von Deleuze-Guattari aufzugreifen, zu einem aus vielfältigen, mehr oder weniger unterirdischen Ebenen bestehenden Gefüge, dessen Ebenen die Einsätze der Zusammenkunft vermehrten und verhinderten, dass sie in einer ein für allemal gültigen Definition gerannen. Und diese Einsätze blieben bis zuletzt offen.

Das Zittern der Identität

Wenn man MigrantInnen in Frankreich adressiert, resultiert die Heterolingualität nicht nur daraus, dass man die von ihnen gesprochene Sprache nicht versteht und man unfähig ist, sie in ihrer Sprache anzusprechen; sie erwächst auch daraus, dass man in seiner mutmaßlich eigenen Sprache von Ausdrücken fortgeschwemmt wird, die man, wenn sie laut geäußert werden, lieber hätte vergessen wollen; sie rührt daher, dass man in jahrzehntelange Kolonialverhältnisse verstrickt ist, derer man sich nicht entledigen kann. Je mehr Spaß man an Beziehungen mit MigrantInnen hat, desto größere ist die Mediationsaufgabe, die einem übertragen wird. Diese besteht offensichtlich nicht darin, sich der Zugehörigkeit zu jener Gesellschaft zu entledigen, die einen mit dieser Aufgabe betraut. Es handelt sich um eine infernale Spirale von Indienstnahme und Unterwerfung, aus der man sich nur durch einen nahezu vollständigen historischen Bruch befreien würde; eine infernale Spirale der Übersetzung, die sich der Asymptote des Verrats, auf den hin sie sich entfaltet, nicht entledigen kann.

Angesichts des fremden Subjekts im Transit – ob dieses aufgrund seiner Nationalität oder von innen her fremd ist –, angesichts des Subjekts, das zitternd hofft, in seiner Alterität anerkannt zu werden, schlägt die Anrufung durch die Polizei, das Kapital oder die Literatur eine Verwurzelung vor, das Festhalten an jenem Pflock, den man  Identität nennt. Das Subjekt wird also zur Ziege oder zum Schaf. Die Agenten einer solchen Veränderung, all jene, denen eine solche Macht verliehen wurde, werden selbst von diesem Zittern erfasst, einem mehr oder weniger wahrnehmbaren, einem kaum wahrnehmbaren Zittern; wahrnehmbar bei denen, die es in Literatur oder Kunst verwandeln.

Die Anrufung ist zunächst eine Gestik

Die Anrufung ist nicht homolingual, sie ist immer und auf beiden Seiten der Machtlinie heterolingual. Der Eine fragt sich, ob die Fremdheit des Anderen ihm erlauben wird, ihn zu verstehen. Der Andere erkennt rasch, dass die Chancen, ihr zu entgehen, gering sind, wenn er sich ihr nicht stellt. Vielleicht bestimmt die Geschwindigkeit dieser Einschätzung den ökonomischen Wert der Person in den Sphären des Kapitals. Doch ich bin empfänglicher für die Mannigfaltigkeit dieser Sphären als für ihre Reduktion auf die Geschwindigkeit oder das Geld. Ich glaube nicht, dass sich die Angerufene und die Anrufende in einer Situation der Übersetzung befinden, in einer Situation der Übertragung der Sprache der einen in die Sprache der anderen. Die Anrufung ist zunächst eine wortlose, universelle Gestik, in der die Herrschaft die Initiative ergreift und eher auf einen drohenden Tonfall als auf einen expliziten Inhalt zurückzuführen ist. Die Zugehörigkeit zu einer mit Autorität versehenen Institution verleitet eher dazu, sich der Anrufung zu bedienen, da man damit betraut wurde. Aber manche AktivistInnen zögern nicht, die Situation auf mehr oder weniger clowneske Weise auf den Kopf zu stellen, was, wie man weiß, in Flucht oder Boshaftigkeit endet.

Exit Heterolingualität, es kommt die Heterosozialität

In der kleinen, in Aubervilliers versammelten Gruppe äußerten sich alle, selbst die ÖsterreicherInnen des eipcp auf Französisch; es gab streng genommen keine Heterolingualität, selbst wenn zahlreiche Sprachen der Welt die Gruppe mit ihren Schattenspielen stimulierten: das Arabische, um dessen mannigfaltige, reale Formen man weiß; die Sprachen Lateinamerikas sowie die afrikanischen Sprachen; doch seltsamerweise fehlten die asiatischen Sprachen in den hier versammelten Erfahrungen. Diese Sprachen blieben weit zurück, auf der anderen Seite der Mauern, die die Gruppe wie ein Zeltstoff umhüllten. Es ging um die in der Banlieue gegenwärtige Heterolingualität, um die vielen migrantischen Communities, die dort leben und von denen einige – insbesondere Frauen – mutmaßlich nicht frankophon sind. Aber die beiden Gruppen von Jugendlichen aus der Umgebung von Aubervilliers, Les Engraineurs[1] und Musik à Venir[2], sind Gruppen mit frankophonem Ausdruck, deren Aufmerksamkeit, was die Kulturen der Herkunftsländer angeht, eher der Moral und den soziale Gewohnheiten gilt als den Fragen der Sprache. Les Engraineurs versuchen in mehreren Filmen zu zeigen, dass die Kulturen von hier und von dort nicht in derselben Weise mit Problemen umgehen. Das Beispiel, das mich am meisten beeindruckt hat, ist das eines aufgrund seiner schlechten Leistung getadelten Jungen: Der Lehrer fordert ihn auf, ihm in die Augen zu sehen, während er mit ihm spricht, wohingegen ihm sein Vater abverlangt, den Blick zu senken, wenn er geschimpft wird. Dieses Beispiel ist typisch für die kognitive Dissonanz, die den SoziologInnen so wichtig ist und mangelndes Verständnis, Blockierungen und Rückständigkeit zu erklären vermag. Die kollektive Praxis, diese kulturellen Differenzen nicht in für Lehrende und SozialarbeiterInnen bestimmten Dokumentarfilmen darzustellen, sondern in Spielfilmen, die die Fähigkeit dieser Jugendlichen zur Inszenierung ihrer Beobachtungen betonen, unterweist diese jungen CineastInnen in der Observierung und Inszenierung von Differenz. Durch ihr Lachen erlangen auch die BetrachterInnen ein Bewusstsein von diesen Differenzen, von einer Heterosozialität, die ihnen ihre Rückschläge erklärt. Doch es geht nicht nur um Heterosozialität: schmerzhafte und nur wenig begriffene Ereignisse haben historisch zu einer Anhäufung von Ungleichheiten geführt. Der Film über die Niederschlagung der algerischen Demonstrationen in Paris im Jahr 1961[3] gibt dieser Community die Erinnerung wieder und ihre Würde zurück.

Musik à Venir versammelt ebenfalls Jugendliche aus der Umgebung von Aubervilliers, um sich durch Musik und Singen auszudrücken. Es handelt sich um eine Startbahn in Richtung der Slam- und Rapszenen des Pariser Ballungsraums, um eine Aufstiegsmöglichkeit, die parallel zu den oft in Sackgassen mündenden Schul- und Berufsverläufen besteht. Die den Jugendlichen aus diversen Migrationen gemeinsame Ausdrucksprache ist das Französische. In den in dieser gemeinsamen Sprache geäußerten Inhalten werden die verschiedenen Erfahrungen dekliniert, gegen die man sich wehren muss – ob sie nun familiäre oder Gruppenerfahrungen nachzeichnen oder ob sie die Stigmatisierung und Diskriminierung zum Ausdruck bringen,. Die BetreuerInnen-SozialarbeiterInnen geben den Jugendlichen erzieherische Themen vor wie etwa Suchtprävention. Über die eigentliche Schreibarbeit hinaus liegt der Akzent in der Ausbildung bei Musik à Venir auf der Inszenierung von Texten sowie auf der Befähigung, sich öffentlich zu äußern, sich einer konkreten, heterolingualen Situation auszusetzen, die aus mannigfachen und unbekannten Bezugnahmen besteht, selbst wenn das Französische die Ausdruckssprache bleibt. Der Poet Edouard Glissant aus Martinique betont mit Nachdruck dieses Problem des Unbekannten im sprachlichen Ausdruck, der im Übergang zwischen Herrschaft und Freiheit begriffen ist.[4] Er gebraucht nicht den Begriff der Heterolingualität, sondern den der Kreolisierung, mit dem er das charakteristische Werden der Sprache betonen will, welches auch Musik à Venir [Die kommende Musik] in seinem Namen unterstreicht: Kreolisierung entsteht in der Sprachhandlung zwischen mehreren Sprachen, wenn diese Aktivität poetischen Typs etwas Unvorhergesehenes hervorbringt, wenn sie etwas schafft. Heterolingualität oder Vermischung [métissage ] hingegen wären Edouard Glissant zufolge objektive und quantifizierbare Sachverhalte, an denen nichts Unvorhersehbares mehr ist. Die Forderung nach Métissage würde letztlich nur darauf hinauslaufen, eine verhältnismäßig perfekte Mischung zu erzeugen, die alles mögliche sein könnte, aber keine Einladung zum Begehren.

Die Banlieue, ein Ort ästhetischer heterolingualer Versuche

Die Heterolingualität verwandelt sich erst durch – professionelle oder amateurhafte – künstlerische Arbeit, durch den Einstieg in die Produktion eines besonderen Lebensverlaufs in eine Kreolisierung, in die singuläre Produktion einer gemeinsamen „All-Welt“, welche Materialien für diesen Ausdruck auch verwendet werden. In den zeitgenössischen Gesellschaften, in denen Bevölkerungen mit unterschiedlichsten Migrationsgeschichten präsent sind, wird die Emergenz von heterolingualen, expressiven und nicht repräsentativen Kunstpraxen zunehmend wahrscheinlicher und wünschenswerter, wenn es darum geht, den Platz dieser Gruppen in der Gesellschaft anzuzeigen. In den Quartiers der großen Metropolen, in denen die Bevölkerungen am heterogensten sind und die man in Frankreich Banlieues oder populäre Quartiers nennt, trifft man auf diese neuen künstlerischen Praxen eines mündlichen oder bildlichen Ausdrucks. Wie kann man den subjektiven Raum füllen, der durch die Kluft zwischen der gemeinsamen Sprache der Herrschaft bzw. des Überlebens und jenen reichhaltigen oder sagenhaften Welten entsteht, die in den Familienerinnerungen evoziert oder in den Einschlafgeschichten der Kindheit weitergegeben werden? Wie befreit man die herrschende Sprache aus ihrer Funktion der Unterdrückung und ihrer Tradition des Leidens? Das gemeinsame Interesse der Jugendlichen, der Lehrenden und der Gewählten besteht darin, sie umzukrempeln, um das in Szene zu setzen, was man mitschleppt, was man zurückhält und was man unterdrückt. Die Banlieue ist nicht länger ein Ort der Einsamkeit oder der Rente, sondern das Theater des Humors. Das ist es, was man spürt, wenn man die Filme von Les Engraineurs sieht.

Die Dignität der jungen MusikerInnen und FilmemacherInnen lässt vergessen, dass die Banlieue auch ein Territorium nicht erteilter Rechte, nicht gewährter BürgerInnenschaft für die Eltern ist, die durch ihre fremde Nationalität vom ersten Recht der Demokratie ausgeschlossen bleiben, nämlich vom Recht, die sie Regierenden zu wählen. Es ist ein Recht, das die Jugendlichen nur aus Vergesslichkeit tendenziell ignorieren, so weit ist das politische Personal von ihren Communities entfernt. Sich als KünstlerInnen zu äußern ist kein Ersatz für die demokratische Partizipation; im Gegenteil, die Enthaltung kann – unter Mitwirkung der Finanzkrise – als Legitimation dafür dienen, auf Unterstützungsleistungen für Ausdrucksaktivitäten zu verzichten. Erschwert die Heterolingualität die Partizipation? Leben Jugendliche und PolitikerInnen auf unterschiedlichen Planeten? Wenn es um soziale Planeten geht, dann sind diese ganz sicher so verschieden, wie die Kaufkraft von 1000 und 5000 Euro und was das alles mit sich bringt. Wenn es um Sprachplaneten geht, dann handelt es sich um denselben Planeten. Ein Slammer brachte dies folgendermaßen auf den Punkt: „Wenn wir Verlan[5] sprechen, dann weil wir fähig sind, Französisch zu sprechen. Und wenn wir so schnell darin sind, das Französische zu invertieren, dann heißt das, dass wir es sehr gut kennen.“ Nun, vielleicht nicht die Erstankömmlinge. Aber auf dem heterolingualen Planeten, in den Praktiken des Gesangs und des Bildes lernt man schnell. Die französische Regierung ist um Ordnung auf ihrem heterolingualen Planeten bemüht, indem sie (französisch sprechende) MigrantInnen aus ihren alten Kolonien auswählt – auch auf die Gefahr hin, dass der Heterolinguismus verkümmert.

Die kleine Verwendung der großen Sprache

Deleuze und Guattari rufen in Kafka. Für eine kleine Literatur[6] die Unmöglichkeit in Erinnerung, in einer anderen Sprache zu schreiben oder sich auszudrücken als in der großen Sprache des kolonialen Imperiums. Wie man auch bei den Jugendlichen aus der Banlieue feststellen kann, geht es dabei zunächst nicht um eine Frage von Publikum oder Markt; vielmehr wird eine Distanzierung vom Herkunftsterritorium gefordert, damit dieses besser aufgewertet, besungen und zum Ausdruck gebracht werden kann. Über die künstlerische Aktivität ruft man – angesichts der Mächte, die diese Relationen zerbrechen wollen – eine aktive Solidarität mit Seinesgleichen herbei, die vielleicht auch nur imaginiert werden. Diese Solidarität bedient sich der Sprache der anderen und ermächtigt sich dadurch. Sollten wir heute also auf Englisch schreiben, angesichts eines Europas, das uns im wissenschaftlichen und technischen Bereich dazu zwingt, diese Sprache zu verwenden? Nein, sagt Glissant, denn Schrift und Rede sind zunächst eine Sache des Orts; sie werden von einem Ort aus geäußert; sie sind eine Arbeit der Heterolingualität dieses Ortes. Die Orte Europas bleiben durch Nationalsprachen markiert. Nur an den eigenen Orten Europas, in der Kommission, im Parlament sowie in allen europäischen Netzwerken wird die Heterolingualität zwischen den europäischen Sprachen verwirklicht. Die Übersetzungskosten verunmöglichen eine Gleichheit zwischen den Sprachen und so setzen sich, wie in der UNO, bestimmte Sprachen durch, denen mehr Bedeutung zukommt. Hier geht es nicht um künstlerische Produktion, sondern um diffizile Verhandlungen, die einen gemeinsamen Markt ermöglichen. Das Englische behauptet sich als Geschäfts- und Wissenschaftssprache, aber das österreichische Deutsch setzt sich im Rahmen der vierzehn Länder der „Salzburg-Gruppe“[7] und außerdem mit dem Deutsch Deutschlands zur Wehr, während sich die mediterranen Sprachen in ihrer Verstreuung verteidigen, indem sie sich gewisse Themen aneignen. Diese Spiele werden außerhalb der Domäne des Literarischen oder des Musikalischen gespielt.

Hin zu einem Schillern der Sprachen?

Die europäischen Länder und insbesondere Frankreich bleiben imaginär monolinguale Länder, Blöcke von nationalen Monolinguismen, die als Gesamtheit verhandelt werden. Nur die Einheimischen sind berufen, ihre Länder in der Sprache der anderen oder in der gemeinsamen Sprache zu repräsentieren. Paradoxerweise hat die Europäische Union die Verbindung zwischen dem Recht auf Äußerung und der Position der Repräsentation verstärkt; sie hat den Weg versperrt, der zu transversalen sprachlichen und künstlerischen Schöpfungen führt, zu Verwebungen, die sich zwischen den nationalen Kulturen und zwischen den Minoritäten hätten herstellen können, während sie gleichzeitig auf diesen möglichen Konstruktionsweg verwiesen hat. Zur Zeit ist Europa eher ein Gewimmel von Sprachen; es entdeckt die Verwerfungen in diesem mehr oder weniger gepanzerten Sprachsystem, sowie die Neuanordnung von Grenzen und großen Sprachgebieten. Die TransmigrantInnen, MigrantInnen, die sich entlang der Handelsrouten zwischen den europäischen Ländern fortbewegen, anstatt von einer alten Kolonie in die Metropole zu gehen, werden zweifellos interessante Pioniere in dieser neuen europäischen Realität sein. Sie oder vielmehr ihre Kinder nehmen den Platz ihrer Mütter ein und erzählen ihre Geschichten an diesen neuen Orten der Vergemeinschaftung, an Orten, die vielleicht in den Herkunftsländern verstreut sind, wo sich neue Gemeinschaften von Kindern von MigrantInnen aus Europa bilden werden. Zweifellos wird man in Marokko, in Tunesien, auf den Philippinen, in Brasilien, in der Karibik oder in New York zunehmend Gesänge hören können, die uns von dem erzählen, was Europa ist.

Am Rande der großen Entwicklungstendenzen der europäischen Bevölkerung  wird etwas punktiert, genäht, gestickt, das aus jedem Ort die mögliche Emergenz eines Gesangs oder eines neuen Bildes macht, etwas, das sich auf singuläre Weise aus allen Sprachdimensionen Europas zusammensetzt. Eine Stickerei, die schillert wie die Werke jener Frauen, die dort vorübergekommen sind.


[1] Vgl. das Interview mit Sonia Chikh in dieser Ausgabe von transversal.

[2] Vgl. das Interview mit Abdoullah Bensaïd in dieser Ausgabe von transversal.

[3] Mémoire du 17 Octobre 1961 ist ein dokumentarischer Kurzfilm von Faïza Guène und Bernard Richard. Er geht auf das Massaker ein, das während einer am 17. Oktober 1961 abgehaltenen Demonstration auf Anordnung des Leiters der Pariser Polizei, Maurice Papon, auf einer Demonstration von etwa 30.000 AlgerierInnen verübt wurde. Nach 37 Jahren der Verleugnung gestand die französische Regierung die Ermordung von 40 DemonstrantInnen ein, wiewohl es Schätzungen gibt, die von mehr als 200 Ermordeten ausgehen. [Anm. d. Übers.]

[4] Vgl. Edouard Glissant, Introduction à une poétique du divers, Paris: Gallimard 1996; sowie Ders., Traité du tout-monde, Paris: Gallimard 1997.

[5] Verlan ist in der französischen Jugendsprache mittlerweile weit verbreitet und besteht, vereinfacht gesagt, darin, die Silben der Wörtern umzukehren; das Wort Verlan selbst ist ein Beispiel dafür: es wird aus einer Umkehrung von „l’envers“, gebildet, was soviel bedeutet wie „verkehrt herum“; vlg. diesbez. auch die Texte von Marc Hatzfeld und Boris Seguin in dieser Ausgabe von transversal.

[6] Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, übers. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976.

[7] Das Forum Salzburg wurde 2000 auf österreichische Initiative gegründet und ist eine Plattform für multilateralen Dialog und Kooperation in Fragen innerer Sicherheit mit Fokus auf Zentral- und Osteuropa. Die derzeitigen Mitgliedsstaaten sind Österreich, Bulgarien, Tschechische Republik, Ungarn, Polen, Slowakei, Slowenien und Rumänien; vgl. http://www.salzburgforum.org [Anm. d. Übers.].