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06 2013

Ein Experiment in Subjektivität

Arat

Übersetzt von Birgit Mennel

„Eine Tradition, die weit mehr umfasst als die Philosophie, hat uns gelehrt, das Denken des Denkens führe uns ins Tiefste unseres Innern. Das Sprechen des Sprechens führt uns über die Literatur, aber vielleicht auch auf anderen Wegen in jenes Außen, in dem das sprechende Subjekt verschwunden ist. Zweifellos liegt hier der Grund, warum das abendländische Denken so lange gezögert hat, das Sein des Sprechens zu denken: als hätte es die Gefahr geahnt, die der Evidenz des ‚Ich bin‘ von der nackten Erfahrung des Sprechens droht.“

Die OULIPO, Ouvroir de littérature potentielle oder Werkstatt für potenzielle Literatur, gegründet 1960 in Frankreich von Raymond Queneau und François Le Linnais, war eine Gruppe von Schriftsteller_innen, die auf ihre Produktion strenge Formeln anwendeten. Inspiriert von der Mathematik bzw. von einer Form der Arithmomanie, zwangen die Mitglieder von OULIPO ihrem Schreiben Regeln auf, die sie als Gerüst sahen, und in dem der Inhalt und das Thema ihrer Literatur errichtet würden. Dieses Gerüst konnte vielerlei Formen annehmen: Gleichungen, ein Schachbrett, ein Kreuzworträtsel, Leipogramme, Stilvariationen, Reimkonventionen und Erzählperspektiven. Diese Strukturen, Strikturen oder „öffentlichen Spiele“ sollten niemals offensichtlich sein und oftmals ist in ihren Texten keine Spur davon zu erkennen. In George Perecs Das Leben. Gebrauchsanweisung gibt es unzählige komplexe Schichten selbst auferlegter Strikturen, und doch ist die Handlung niemals fragmentiert, die Figuren sind nie gekünstelt und die Schauplätze kaum jemals fremd. Queneaus Der Hundszahn war eine Übersetzung von Descartes’ Discourse de la méthode, doch diese Referenz wird nirgends sichtbar. Queneau sagte über das Gerüst, „es wäre furchtbar, wenn es sich zeigte“.

Queneau, ein abtrünniger Surrealist, beschrieb die Mitglieder von OULIPO einmal als „Ratten, die das Labyrinth bauen, aus dem sie dann zu entkommen versuchen“. Dies, so glaubten sie, würde Kreativität bzw. eine bestimmte Art der Kreativität anregen, eine Kreativität, die einer bestimmten Form ebenso verpflichtet war wie dem Inhalt, wenn nicht sogar mehr. Sie experimentierten mit Beschränkungen als Potenzial für Überschreitung, als Übungen in der Entdeckung von Regeln, die möglicherweise Ausnahmen steuern. Im Gegensatz zum surrealistischen „automatischen Schreiben“ schien ihnen die poetische Offenbarung im Unbewussten keine Lösung. Sprache war ein System, ein unmögliches System, und OULIPO-Autor_innen spielten nach den Regeln dieses Systems, da sich Schöpfung für sie nur innerhalb der kombinatorischen Möglichkeiten ereignen konnte, die die Sprache erlaubte.

Was geschieht, wenn die Zwänge eher im Inhalt als in seiner Form liegen? Was, wenn die Regeln, die den Text von vorneherein regeln, durch seine Bedeutung und die von ihm erzählte Geschichte aufgestellt würden? Was, wenn das Thema des Textes eher das Gerüst als das Gebäude wäre? Hier würde man sich den Bedingungen nähern, unter denen Übersetzung funktioniert. Die Idee von Übersetzung als kreativem Akt überzeugt fast niemanden. Übersetzer_innen sind Schreibarbeiter_innen, Sprachtechniker_innen, Maschinist_innen, und als solche werden sie von Berufsverbänden, in staatlichen Zählungen, Verlagsverträgen sowie auf dem Lohnzettel anerkannt. Doch diese Bürger_innenschaft zweiter Klasse, diese eingeschränkte Kreativität bringt tatsächlich die Möglichkeit eines Experimentierens mit Subjektivität hervor. Und das ist das Interessanteste und Erfreulichste daran. Wie das?

Die Anonymität des Übersetzungsakts trotzt der Autorität von Autor_innenschaft, individuellem Genie und Authentizität. Als eine Arbeit der Rekonstruktion und Wiederholung legt sie die Sozialität des Diskurses frei. Die Unsichtbarkeit des Übersetzungsakts macht den Text zum wahren Protagonisten und schafft die Sprache als seine Persona. Unauffindbar und unauffällig produziert Übersetzung die Sprache als eine Maske, die ohne Abänderungen passen muss: di_e Übersetzer_in ist eine Schneider_in und eine Näharbeiter_in, aber nicht von Kleidern, sondern von Häuten. Die von und durch die Übersetzung produzierte Subjektivität ist anonym und unsichtbar, aber auch nicht identitär. Sie verläuft transversal zu, wenn nicht sogar jenseits von sprachlichen Gemeinschaften, welche oftmals die Wechselwährung der Nationalstaaten und den Klebstoff ihrer imaginierten Identität darstellen. Und doch sind die „Kulturen“, die Sprachen abgrenzen könnten, nur ein Aspekt, den der Übersetzungsakt zu adressieren hat, eine Einschränkung, aber eine unwesentliche. Durch die Möglichkeit, zwei „Kulturen“ oder „Identitäten“ in der Form von zwei Sprachen zugleich im Kopf zu haben, stellt di_e Übersetzer_in unter Beweis, wie schwach die strategische Allianz und Gleichsetzung von Sprache, Kultur und Identität tatsächlich ist; wie willkürlich, künstlich und potenziell redundant ihre hoch geschätzten und überbehüteten Übereinstimmungen letztlich sind.

Und doch wird zur Beschreibung der Subjektivität, die in den Übersetzungsakt involviert ist, auf die Metaphern und die Heuristik von Heimat und Fremdheit zurückgegriffen. Doch auch wenn di_e Übersetzer_in durch den Arbeitsmarkt und seine Ausbildungsindustrie mit Labels der Herkunft, Eigentlichkeit, Mutterschaft und Quelle eingeschränkt wird, auch wenn sie von Geburt an markiert ist – di_e Übersetzer_in ist eine Waise, die nur zuhause sein kann, wenn sie fremd ist. Fremd gegenüber dem Text, fremd gegenüber seine_r Autor_in, fremd gegenüber den imaginierten Leser_innen, über die Grenzen hinweg, die diese potenziell berühren mögen. Alles, was hinter diese Fremdheit und Offenheit zurückfällt, alles, was den Text den Prognosen von Erfolg oder Misserfolg unterwirft, wird als Übersetzung sichtbar. Es wäre furchtbar, wenn Übersetzung sich zeigte. Übersetzung ist ein Akt der Abtrünnigkeit und Treuelosigkeit gegenüber der Aufgabe des Aufbaus der Nation. Di_e Übersetzer_in ist mit Fremdheit vertraut und familiär verbunden. Und obwohl eine symbiotische Beziehung mit dem Text notwendig ist, beinhaltet diese intellektuelle Intimität eine Form der Distanz ohne Distanziertheit, eine Affinität ohne Einverständnis oder Signatur: In der anonymen Wiedergabe des Texts in einer anderen Sprache wird di_e Übersetzer_in nicht dazu gebracht, durch Bauchreden zur Autor_in zu werden. Sie behandelt den unübersetzten Text vielmehr wie eine Figur auf der Suche nach eine_r Autor_in und strebt danach, ihn für sich selbst sprechen zu lassen.

Der Übersetzungsakt ist grundsätzlich nicht authentisch, aber er beinhaltet keinen Verrat. Von Verrat kann nur gesprochen werden, wenn Authentizität die Bedingung für Wahrheit als Repräsentation ist. Es geht hier nicht um die Frage, ob es Wahrheit überhaupt gibt, ob sie als Repräsentation existiert, oder ob sie ausschließlich als solche existieren kann; in der Übersetzung, auf der Ebene der Beziehung von Text und Autor_innenschaft ist Wahrheit niemals zur Repräsentation fähig. Die Sprache zerstört diese Möglichkeit, und die Übersetzung lässt dies nur noch deutlicher zutage treten. Die im Übersetzungsakt hervorgebrachte Subjektivität ist also von einer grundlegenden Ambiguität gekennzeichnet. Ambiguität taucht auf, wenn „alternative Sichtweisen eingenommen werden können, ohne dass dies ein Missdeuten wäre“. Übersetzung beinhaltet eine Art sprachlicher Anamorphose. In der Übersetzung ist man dazu gezwungen, die Möglichkeit von Authentizität und Verrat an dieser infrage zu stellen. Doch selbst diese Ebene der Inauthentizität ist vernachlässigbar. Wichtiger ist wahrscheinlich dies:  Der Übersetzungsakt ist unauthentisch hinsichtlich der Authentizität, die als Transparenz und Transluzenz des Bewusstseins verstanden wird als eine Art der Wahrheit seinem einen Selbst gegenüber. Viel mehr als „ Wahrheit“ und „Selbst“ bringt der Begriff Übersetzung das „Eine“ in Unordnung. „Das eigene Selbst zu vergessen, muss durch eine Myriade von Dingen verwirklicht werden.“ Denn die in den Übersetzungsakt involvierte Subjektivität ist multitudinal projiziert, wobei hier Multitude nicht einfach nur eine Kollektivität einiger Selbste ist, ein Ganzes als Summe seiner Teile – seien diese nun individuell oder singulär. Multitude bedeutet hier eine Kollektivität innerhalb eines Selbst, eine Implosion des Selbst als nicht identisch oder anti-identisch, die die Identität auf der Ebene der Möglichkeit des Begehrens unterminiert. Gegen die Gleichheit des Selbst mit sich selbst in Zeit und Raum erweitert Übersetzung den Text räumlich, platziert ihn geographisch an einem anderen Ort und wirft ihn in eine andere Zeit, als eine zweite Geburt, in eine andere Gegenwart. Heterotopie.

Die Subjektivität, um die es im Übersetzungsakt geht, ist anonym, unsichtbar, fremd, unauthentisch, vieldeutig, multitudinal, heterotopisch. Und vielleicht gehört Übersetzung als ein Experiment in Subjektivität zum Bereich der Pataphysik, der Wissenschaft imaginärer Lösungen.

Dank an:

William Empson, Seven Types of Ambiguity.

Michel Foucault, übers. v. Walter Seitter, „Das Denken des Außen“.

George Perec, übers. v. Eugen Helmle, Leben. Eine Gebrauchsanweisung.

Luigi Pirandello, übers. v. Georg Richert, Sechs Personen suchen einen Autor.

Raymond Queneau, Morale élémentaire.

Dogen Zenji, Genjokoan.