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06 2013

WAHRHEIT UND ÜBERSETZUNG

Peter Waterhouse

Übersetzt von Birgit Mennel

„Eine völlig neue Welt
bedarf einer neuen politischen Wissenschaft.“

Hannah Arendt, die deutsche Philosophin, nein, nicht deutsch, nicht Philosophin, die Historikerin, nein, nicht Historikerin, die Schriftstellerin, nein, nicht Schriftstellerin, Hannah Arendt wurde in Hannover in Deutschland geboren und wuchs in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad auf. Ihre Eltern, die reichen Handelsfamilien angehörten, waren im 19. Jahrhundert aus Angst vor Verfolgung im zaristischen Russland nach Ostpreußen ausgewandert. Ostpreußen war ein deutschsprachiger Teil des Baltikums, der von polnisch und litauisch sprechenden Minoritäten sowie von Masuren bewohnt wurde. Hannah Arendts Mutter, Martha Cohn, hatte in Paris Französisch studiert. Arendts Großmutter, Fanny Spiero-Cohn, sprach Deutsch mit russischem Akzent – und offenbar kleidete sie sich gerne slawisch, wie Julia Kristeva, selbst eine in Sliwen in Bulgarien geborene französische Philosophin, in ihrem Buch über Hanna Arendt schreibt.

Im Alter von 14 Jahren wurde Hannah Arendt Mitglied eines Griechisch-Lesekreises. Ihre Mutter führte ein Tagebuch, das sie Unser Kind nannte. Sie hält  fest, dass ihre Tochter Hannah im Alter von einem Jahr in der Lage ist, recht flüssig zu sprechen, und im Alter von drei Jahren alles formulieren kann, was sie will.

In einem Interview mit dem deutschen Journalisten Günther Gaus im September 1964 (die Sendung wurde im Oktober ausgestrahlt) und auf die ausdrückliche Frage nach Kontinuität, Kontinuität nach ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland nach Frankreich, danach 1941 aus Frankreich in die Vereinigten Staaten lautet ihre Antwort*[i]: „Was ist geblieben? Geblieben ist die Muttersprache.*“ Ihre Antwort ist: „What was it that continued? My mother tongue continued.“ Ihre Antwort wurde dann, leicht verändert, zum Titel der Sendung: Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache? Fernsehgespräch mit Günther Gaus*. Eine Antwort auf Deutsch – und doch ist Hannah Arendt eine Bürgerin der Vereinigten Staaten geworden, wo sie ihre Bücher und Texte in Englisch schreibt und sich selbst ins Deutsche übersetzt. Warum bietet die Muttersprache Kontinuität? Was für eine Art von Kontinuität?

Lautet die Antwort: Meine erste Sprache war Deutsch, daher bleibt Deutsch, als Konsequenz, weiterhin meine wichtigste Sprache, die einzige Sprache, die meine Sprache ist? Ist Kontinuität eine Form von Konsequenz?

Während des Interviews fährt Arendt fort, die Frage zu beantworten: Was ist geblieben?* Sie kann in Französisch sprechen und schreiben; nachdem sie 1941 in New York Zuflucht genommen hat, beginnt sie sofort, Englisch zu lernen. The Burden of Our Time, das 1959 in London und kurz darauf als The Origins of Totalitarianism in New York veröffentlicht wurde, war auf Englisch geschrieben, weit mehr als 500 Seiten. Im Interview ergänzt Arendt: „Ich habe immer eine gewisse Distanz behalten sowohl zum Französischen […], wie zum Englischen […]. Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig.“

Können wir also folgern, dass es nicht ihre Muttersprache war, die Kontinuität bot? Hat Arendt im Fernsehinterview 1964 in Wirklichkeit über ihre Sprache der Poesie gesprochen? Sagt sie: Was konnte Kontinuität bieten? Gedichte konnten Kontinuität bieten. Wenn du gezwungen bist zu fliehen, ein Land zu verlassen und Zuflucht in einem anderen Land zu finden, wenn du genötigt bist, von einer Sprache zu einer anderen zu gehen, warum bleiben Gedichte bestehen? Warum sind sie fortwährender als Erinnerungen? Weil sich Gedichte selbst bewegen, weil sie in sich selbst fortwähren – weil sie Worte sind, die sich bewegen?

Haben Gedichte Arendts Bewegung und Zugang zur englischen Sprache erleichtert und erhellt? Flüsterten Gedichte tatsächlich: Lerne Englisch?* Learn English? Schreibe auf Englisch? Denke auf Englisch? Denke auf Englisch und Deutsch? Warum sollten Gedichte solche Andeutungen machen?

Ich muss verstehen.* I have to understand. Im Interview 1964 und bei verschiedenen anderen Gelegenheiten äußert Arendt ihr großes Begehren nach Verstehen. Dieses Begehren stand stets mit ihrem Interesse an Poesie in Verbindung. Verstehen wurde immer durch Poesie gefördert – Gedichte, die sie in Büchern las, die sie auswendig wusste oder selbst schrieb. Auf welche Weise fördert Poesie Verstehen? Gedichte scheinen eher etwas zu sein, das Verstehen vorenthält. Gibt es eine Essenz, die in einem Gedicht verstanden werden kann? Oder verstehen Leser_innen von Poesie, dass Gedichte alle Resultate vorenthalten, dass sie Resultaten zu entkommen versuchen? Sind Gedichte Bewegungen – und ist Verstehen im Sinne Arendts eine Form von Bewegung? Ist Verstehen ein Prozess, der keine Resultate erzeugt, der Resultate verhindert? Ist Verstehen eine kontinuierliche Form – ein Verstehen ohne Ende?

Im Denktagebuch, Hannah Arendts philosophischem Tagebuch, das sie von 1950 bis 1973 führte, finden wir einen Eintrag zu den „verschiedenen Arten des sogenannten zeitgenössischen Denkens*“, niedergeschrieben im März 1952 auf dem Atlantik, irgendwo auf halbem Weg zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich, an Bord der Ile de France, einem Überseedampfer der French Lines – in einem Moment, in dem sie nicht mehr war, wo die Reise begonnen hatte und noch nicht dort, wo ihr Bestimmungsort war. „The different forms of so-called contemporary thinking.“ Im Denktagebuch, das lange nach ihrem Tod veröffentlicht wurde und wahrscheinlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, notierte sie nicht nur Gedanken, sondern auch Gedichte. Und eben auf der Ile de France schrieb sie ein Gedicht, gleich nach ihren Gedanken zu gegenwärtigen Denkweisen und zog den Schluss: „1. Das Rechnen und Berechnen, wobei alles im vorhinein darauf angelegt ist, dass die Rechnung aufgeht zum Vorteil des Rechnenden. […] – 2. Das Argumentieren, das im vorhinein so angelegt ist, dass man immer recht behält. Ob das Argument recht behält, hängt von seiner inneren Konsequenz (‚consistency‘) ab, d. h. von der rücksichtslosen Ausschaltung aller anderen Argumente, die aus einer anderen Erfahrung stammen, von einer anderen Prämisse ausgehen. […] – 3. Das Erklären, das im vorhinein so angelegt ist, dass vom Erklärten nichts übrig ist, wenn das Erklären mit ihm fertig ist. […].*

Liegt darin eine Andeutung, dass Hannah Arendt an Bord der Ile de France, während sie über Formen des Berechnens, des Argumentierens und des Erklärens schreibt, über Poesie nachdenkt? Sie wird von einem beweglichen Gegenstand befördert, von einem Schiff, durch eine flüssige Substanz, Wasser, den Ozean. Sind Gedichte flüssige Gegenstände, Bewegung in einem fließenden Medium? Sind Gedichte Alternativen zum gegenwärtigen Denken, sind sie alternative Formen des Berechnens – Formen, die nicht im vorhinein so angelegt wurden, dass sie zum Vorteil de_r Rechnenden aufgehen, die nicht so angelegt wurden, dass man immer recht behält, dass alle anderen Argumente ausgeschaltet werden, dass entsorgt wird, was zu erklären ist?

Denkt Hannah Arendt, während sie über das Denken nachdenkt, auch über Poesie nach? In anderen Worten, ist Denken eine Form der Poesie? Kann Poesie auf Weisen rechnen, die keinen Vorteil oder Gewinn abwerfen? Kann Poesie auf eine solche Weise argumentieren, dass andere Argumente nicht ausgeschlossen oder gnadenlos behandelt werden? Kann Poesie auf eine solche Weise erklären, dass das, was zu erklären ist, weiterhin zu erklären bleibt und weiter existiert? Ist Poesie eine Form der Kontinuität – ein Produkt ohne Ende und Zweck, das keine Resultate produziert – lediglich Sultate und Saltos und Purzelbäume? Ist Poesie, statt ein Resultat zu sein oder zu liefern, bloß ein Anfang – und kann daher jede_r zuflüstern, die in ein neues Land und eine neue Sprache fliehen muss: Fang an, fang an, diese neue Sprache zu lernen? Fang an, anzufangen? Hör auf, Resultate zu erzielen? Füge deiner Muttersprache etwas hinzu? Fang sogar an, in diesem neuen Land Gedichte zu lesen und zu schreiben? Schrieb Hannah Arendt jemals Gedichte auf Englisch?

Sie floh, wahrscheinlich mit dem allerletzten Dampfschiff von Marseille nach New York, im Jahr 1941, mit einem vom Staatssekretär für Innere Angelegenheiten ausgestellten Besucher_innenvisum. Offensichtlich fängt Hannah Arendt an, ein Notizbuch zu führen. Unter den allerersten Einträgen der veröffentlichten Version findet sich eine Überlegung zu „Person – Ich – Charakter*“, mit der ein englisches Gedicht einhergeht. „‚Persona‘: Maske, ursprünglich die Rolle, die das Ich sich für das Spiel unter und mit den Menschen wählt, die Maske, die es sich vorhält, um identifizierbar zu sein. – Person: Kann aber auch die Rolle oder die Maske sein, mit der wir geboren werden, die uns von der Natur in Gestalt des Leibes und der Geistesgaben, von der Gesellschaft in der Form unserer Stellung in ihr verliehen worden sind. – Person im ersten Sinne ist eigentlich Charakter, sofern hier Person ein Produkt des Ich ist. – In beiden Fällen entsteht die Frage der Identität. Im Falle des Charakters so, dass das Ich souveräner Herr des Charakters, seines Produkts, bleibt, beziehungsweise durch den Charakter immer wieder durchbricht. Im zweiten Falle so, dass die Person ein Anderes, scheinbar Tieferes, verdeckt […]. – Dagegen: ‚Persona‘ als ‚per-sonare‘ – durchtönen*.

Person, entweder als gewählter Charakter verstanden oder als etwas von der Natur oder der Gesellschaft Vorgegebenes, wird einem ganz anderen Konzept gegenübergestellt – einer Identität, die durch Töne, Echos, Lieder erfasst wird. Diesem Konzept von Person folgend, existiert eine Person durch Töne, oder genauer: in Tönen. Eine Person ist wie ein Gedicht.

Auf diese Überlegung zu Person – Ich – Charakter sowie zur Bedeutung von Tönen folgt unmittelbar ein Gedicht:

My life closed twice before its close;
It yet remains to see
If Immortality unveil
A third event to me,

So huge, so hopeless to conceive
As these that twice befell.
Parting is all we know of heaven
And all we need of hell.[ii]

Das ist das erste Gedicht in Hannah Arendts veröffentlichtem Tagebuch. Die veröffentlichte Version unterscheidet sich indes vom ursprünglichen Manuskript des Tagebuchs. Das ursprüngliche Tagebuch fängt viel früher an, nämlich 1942, nur wenige Monate nach Arendts Ankunft in New York. Die Herausgeber_innen der veröffentlichten Version sind überzeugt davon, dass nur das, was im Juni 1950 anfängt, als das eigentliche philosophische Tagebuch angesehen werden kann, ohne Anknüpfung an das, was vor diesem Datum geschrieben wurde. Sie beschreiben in aller Kürze die ersten Seiten des Tagebuchs, die „Kurzgeschichten, viele leere Seiten sowie einige Gedichte“ enthalten. Wir müssen daher bedenken, dass Arendts erstes Gedicht in ihrem veröffentlichten Tagebuch ganz bestimmt nicht ihr erstes Gedicht ist. Es ist das erste Gedicht, das von ihren Herausgeber_innen als ihr erstes Gedicht ausgewählt wurde.

Es ist vermutlich bezeichnend, dass dieses Gedicht auf Englisch geschrieben wurde. Aus dem, was Arendt über ihre Muttersprache sagt, lässt sich schließen, dass es die Poesiesprache und die Redeweise der Poesie ist, die nach der Flucht aus einem Land und einer Sprache und der Ankunft in einem neuen Land und einer neuen Sprache bleibt. Poesie bleibt bestehen – „My life closed twice before its close“ –, doch das Gedicht wurde nicht in Arendts Muttersprache geschrieben. Tatsächlich hat sie es nicht einmal selbst geschrieben. Jemand anderer schrieb das Gedicht, eine andere Arendt namens Emily Dickinson. Das Gedicht spricht von zwei Abschlüssen, die nicht zum Schluss kommen, zwei Enden, die an kein Ende kommen – eigentlich von zwei Anfängen. Das Gedicht scheint zu flüstern: Fang an, auf Englisch zu schreiben. Fang an, Gedichte auf Englisch zu schreiben.

Ist Hannah Arendts Denken und Schreiben eine Form von Poesie? Ist ihre politische Theorie eine Form von Poesie? Können wir, wenn sie interviewt wird, in ihren Antworten winzige Gedichte hören? In der Unterhaltung mit Günter Gaus 1964 spricht sie vom Verhalten der Intellektuellen, der intellektuellen Freund_innen während der ersten Jahre der Nazi-Herrschaft in Deutschland. Die Nazis sind offensichtlich ihre Feind_innen, doch ihre Abscheu richtet sich gegen ihre intellektuellen Freund_innen, dagegen, dass diese plötzlich und unerwartet der Nazi-Ideologie zustimmen oder sich mit ihr arrangieren. Ihr geistiges Vermögen lieferte ihnen genügend Inspiration und Imagination, um mit der herrschenden Ideologie konform zu gehen. In Hannah Arendts Worten, sie hatten Ideen, Inspirationen und Gedanken zu dieser neuen Ideologie. Ihr geistiges Vermögen und ihre Anpassungsfähigkeit erlaubten es ihnen, sich jedem und allem anzugleichen. Sie hatten Gedanken – aber das war auch der Stoff, aus dem Arendt gemacht war. Sie war aus einem Stoff gemacht, aus dem auch Gedanken gemacht sind. Doch selbstverständlich beantwortete sie Günter Gaus’ Frage nicht auf Englisch. Es war ein Interview für das deutsche Fernsehen und ihre Antwort war: Zu den Nazis hatten sie viele Einfälle.* Das Wort Einfall* ist das Problem. Es ist sehr ähnlich wie Inspiration, Idee, Gedanke, und doch leicht anders. Die intellektuellen Freund_innen konnten hinsichtlich der neuen Ideologie Ideen und Inspirationen haben. Sie gingen ihren Einfällen in die Falle*.

Das ist es, was Arendt eigentlich über Intellektuelle zu sagen hat. Sie gingen ihren Einfällen in die Falle*. Das klingt wie ein kurzes Gedicht und unterscheidet sich daher auch von Ideen und Inspirationen, Imaginationen und Launen. Sie beklagt sich über Ideen – warum ist ihre Klage nicht an sich eine Art Idee?

Sie gingen ihren Einfällen in die Falle.*“ Wenn wir diese Worte übersetzen – they were trapped by their own ideas – dann fehlt dem Satz eine bestimmte buchstäbliche und poetische Qualität, es fehlt die Ähnlichkeit bzw. die akustische Identität von Einfall* und Falle*. Die Koexistenz von trap und idea ist im englischen Satz nicht buchstäblich und daher vermutlich nicht poetisch. Sie ist an sich eine Idee, eine Imagination – ein Klischee. Im deutschen Satz gibt es kein Klischee – was wir im Deutschen sehen können, ist eine Erfindung, eine Produktion, eine Schöpfung, ein Anfang. Wir können den Gedanken hören, wie er produziert wird, wie er zum Tönen gebracht wird, wie er gedacht wird. Wir können Denken hören. Sie gingen ihren Einfällen in die Falle*. Das ist eigentlich kein Gedanke, kein aus einem Gedanken resultierendes Resultat, es ist vielmehr ein Gedanke im Gedanken, ein Gedanke im Werden, in actu, es ist ein Anfang. Nicht ein Gedanke, sondern ein Denken*. Arendts Tagebuch ist kein Gedankentagebuch*, kein Tagebuch, das Gedanken und Ideen enthält, sondern ein Denktagebuch*, ein Tagebuch, das Denken enthält. Und folglich auch Gedichte.

In anderen Worten: Sie gingen ihren Einfällen in die Falle* übersetzt sich nicht in: They were trapped by their inspirations. Der deutsche Satz kann nur durch einen richtigen Gedanken übersetzt werden, durch ein gedachtes Denken, durch einen Gedanken im Werden. Sind Übersetzungen neue Gedanken? Sind richtige Übersetzungen keine Imitationen, sind sie niemals abgeleitet, sind sie keine Klischees und keine Stereotype? Und sind Übersetzungen folglich Gedichten ähnlich? Neue Anfänge und keine Klischees? Wie fangen wir neu an? Hannah Arendts gewaltige Studie zu Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft endet also damit: „Anfangen […] ist die höchste Fähigkeit des Menschen; politisch ist es identisch mit der Freiheit des Menschen. Initium ut esset homo creatus est  – ‚Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‘, sagt Augustin.“[iii] Ist das Ende von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in Wirklichkeit ein Gedicht? Brauchen wir Gedichte, um weiter anfangen zu können? Der dritte Eintrag in Hannah Arendts Tagebuch, geschrieben auf der Ile de France, während der Überfahrt über den Atlantik, ist ein Gedicht. „My life closed twice before its close; / It yet remains to see / If Immortality unveil / a third event to me.“

Ein Gedanke kann offenbar nicht getrennt werden von dem Material, aus dem er gemacht ist, dem Medium des Gedankens. Sie wurden von ihren eigenen Ideen gefangen – in einem Satz dieser Art lässt sich der Inhalt vom Medium absondern und als ein Klischee reproduzieren – wie etwa, sie wurden von ihren Ideen in die Irre geführt. Wenn wir die Botschaft vom Medium trennen, verlieren wir etwas. Wir isolieren und gewinnen die Botschaft, aber wir verlieren den Prozess, der sie ins Leben rief. Wir isolieren und erzielen ein Resultat. War Hannah Arendts Denken nicht an Resultaten interessiert? Nicht an Resultaten interessiert, folglich interessiert an Poesie? Weil Gedichte rege flüstern: Fang an? Sind Gedichte das Gegenteil von abstrakter Logik und Konsequenz? Arendt: „Das radikal Böse: Woher kommt es? Wo ist sein Ursprung? Was ist sein Grund und Boden? – Es hat nichts zu tun mit Psychologischem – Macbeth – und Charakterologischem – Richard III., der sich entschloss, ein Bösewicht zu werden. – Wesentlich ist der Über-Sinn und seine absolute Logik und Konsequenz.“

Können wir daraus folgern (obwohl hier nichts über Gedichte gesagt wird): Gedichte sind keine absolute Logik, sie entwickeln sich nicht über Konsequenz, sie sprechen nicht durch Über-Sinn, sondern durch Sinn, durch etwas, das fühlbar und erfahrbar ist, etwas Greifbares, sie sprechen im Medium, in der Bewegung, im Fortschritt? Sie gingen ihren Einfällen in die Falle*. Sie tappten* into their traps? They tapped into their traps? Verstehen bedeutet dann, den materiellen Charakter der Sprache anzuerkennen. War Hannah Arendt eine verkannte Dichterin?

Im Dezember 1950 notiert Hannah Arendt ein eigenes Gedicht in ihrem Tagebuch (die Herausgeber_innen des Denktagebuchs vermuten, dass es nicht von Arendt geschrieben wurde, können jedoch di_e wirkliche Autor_in nicht einwandfrei identifizieren; anders als alle anderen Gedichte, die Arendt in ihrem Tagebuch zitiert, ist dieses Gedicht nicht unter Anführungszeichen geschrieben – es könnte gut sein, dass sie es selbst geschrieben hat):

Up life’s hill with my little bundle,
If I prove it steep,
If a discouragement withhold me,
If my newest step
Older feel than the hope that prompted,
Spotless be from blame
Heart that proposed as heart that accepted,
Homelessness for home.[iv]

Ist es wichtig, zu wissen, wer das Gedicht schrieb? Beim Lesen des Gedichts scheint es wichtig, dass es veranlasst war – dass homelessness [Heimatlosigkeit]  zu home [Heim] werden konnte, dass blame [Tadel] und home [Heim] sich reimen, dass steep [steil] klingen sollte wie step [Schritt]. Der Denkprozess in diesem Gedicht produziert keine Resultate, nur Bewegung und Veränderung. Das Gedicht ist eine Veranlassung, keine Resultante. Homelessness [Heimatlosigkeit] kann sich fast in spotlessness [Ohne Flecken] verwandeln. „Heart that proposed as heart that accepted“: Diese Zeile ist reine Bewegung vom Einen zum Anderen (allerdings ohne Einfälle*, ohne Launen und Inspirationen). Hannah Arendts Denken ist eine Form der Veranlassung und der Plötzlichkeit. Eine Veranlassung: der Akt des Veranlassens; Anstiftung; etwas Gesagtes oder Vorgeschlagenes, das zu einer Handlung anspornt oder der Erinnerung hilft.

Arendt im Dezember 1950, im Eintrag Nr. 22: „[…] die eigentümliche Vieldeutigkeit der Sprache – in der allein wir Wahrheit haben und sagen können, durch die allein wir aktiv Wahrheit aus der Welt schaffen können und die in ihrer notwendigen Abgeschliffenheit uns immer im Weg ist, die Wahrheit zu finden […].“

Heimatlosigkeit für Heim: Dieser Satz birgt keine absolute Logik und ist keine Konsequenz, die auf einer Voraussetzung beruht. Er ist keine Form der Konsistenz. Er kann als ein Bruch verstanden werden – folglich als eine Erfahrung. Ein materieller, sinnlicher Eindruck. Kein Resultat. Philosophie und politische Theorie, wie Arendt sie begriff, haben nichts mit Ideen zu tun – sie sind Bewegungsarten – ein Bewegen und Verändern von Worten, folglich Poesie.

Der kurze Eintrag Nr. 38 vom Februar 1954: „Opinion = what opens up to me.“ Was sehen und hören wir? Zunächst sehen wir, dass das Denktagebuch kein deutsches Buch ist. Es verlangt nach mehr als einer Sprache – es verlangt nach mehr als einer Muttersprache. In anderen Worten: Eine Muttersprache verlangt oder führt zu mehr als zu einer einzigen Sprache. Eine Muttersprache braucht mehr als sich selbst – um Inkonsistenz, Ambivalenz, Pluralität, Widerspruch zu produzieren. Arendt hätte den Satz nicht auf Deutsch schreiben können – er existiert auf Deutsch nicht. Vielleicht existiert die Idee in der deutschen Sprache, nicht jedoch der materielle Satz, die sinnlichen Daten. Meinung: was sich mir öffnet, was sich zu mir öffnet*. Auf Englisch könnte das etwa sein: Conviction: what opens up to me. Hannah Arendts englischer Satz lautet anders, er ist von einer Art Reim oder Symmetrie, von einer Assonanz erfüllt – opinion und opens. Es gibt einen Moment des personare in diesem Satz, ein Durchtönen.

Hannah Arendts englischer Eintrag Nr. 38 wird durch eine materielle Qualität charakterisiert. Dieser Eintrag hat auch etwas Absurdes, weil open nicht äquivalent ist mit opinion, wenn wir die Bedeutung und die Geschichte der beiden Worte berücksichtigen. Die beiden Worte sind auf der Ebene der Signifikation nicht miteinander verbunden oder verknüpft. Doch es existiert hier eine Gleichsetzung – eine materielle, buchstäbliche Anziehung: opin – open. Sollen wir das für eine inkonsistente Gleichsetzung halten? Einen Durchgang?

Es ist interessant, das Wort open genau zu prüfen. Die Geschichte des Wortes steht in keiner Weise mit opinion in Verbindung. Ein möglicher Gefährte für open könnte das lateinische Wort apertus sein. Das Oxford English Dictionary bietet folgende Erklärung an: „apparently from the root of up. In all the languages, the word has the form of a strong participle, as if meaning ‘set up’, ‘put up’ – ‘put up the door’, ‘set up the door’ (German macht die thür auf), ‘the door is up, put it to’. – Of a door, gate, or the like: Not ‘put to’ the place which it fits, not closed or shut; ‘up’, set up, standing up, so as to allow free passage through.“[v] Es scheint, dass open ein Äquivalent von up ist.

Das Gleichheitszeichen – zwischen opinion und what opens – ist nicht wirklich ein Gleichheitszeichen. Wir können es als eine Öffnung verstehen, und es ähnelt tatsächlich einem winzigen Durchgang, einer kleinen Führung, einem schmalen Damm. Es muss – genau, offen? – betrachtet werden, um zu sehen, was es ist. Es ist kein Wort. Es besteht aus zwei Linien. Es sieht aus wie etwas, das nicht abgeschlossen wurde. Eine Meinung ist daher etwas, das nicht abgeschlossen und nicht beendet wurde. Hannah Arendts Satz bringt nicht nur diese Idee zum Ausdruck, sondern er produziert und inszeniert tatsächlich, was er sagt. Er verkörpert. Der Satz ist selbst ein Durchgang. Ist er daher nicht der Poesie sehr ähnlich? Hannah Arendts Muttersprache Poesie scheint hier aktiv zu sein. Sie ist indes nicht im Deutschen aktiv, sondern im Englischen. Die Muttersprache ist ein Durchgang zu neuen Sprachen, zu Inkonsistenz. Poesie ist ein Anfang, der zu neuen Anfängen führt.

Eintrag Nr. 38: „Opinion = what opens up to me.“ Eintrag Nr. 39, ein längerer Eintrag, wieder auf Englisch: „We are born into this world of plurality where father and mother stand ready for us, ready to receive us and welcome and guide us and prove that we are not strangers. We grow up to become like everybody else, but the more we grow, the more we become equal in the way of absolute, unbearable uniqueness. Then we love, and the world between us, the world of plurality and homeliness, goes up in flames, until we ourselves are ready to receive the new arrivals, newcomers to whom we prove what we no longer quite believe, that they are not strangers. We die in absolute singularity, strangers after all, who say farewell to a foreign place after a short stay. What goes on is the world of plurality.“[vi]

Gleich in der Weise der Einmaligkeit: Das Wort gleich ist nicht konsistent mit Einmaligkeit; gleich kann nicht von einmalig abgeleitet werden. Hannah Arendts Satz legt nicht wirklich nahe, dass die beiden Worte identisch sind. Es gibt kein Gleichheitszeichen zwischen den beiden Worten. Gleich in der Weise der Einmaligkeit. In Arendts Ausdruck in der Weise der können wir einen Durchgang erkennen, eine offene Tür, eine Öffnung [opening], eine Meinung [opinion], eine Metamorphose. Hannah Arendts Welt der Pluralität ist eine poetische Welt – sie leitet sich von nirgendwoher ab und scheint sich überallhin zu öffnen. Liebe, der Versuch gleichzusetzen, führt zum Kollaps der Welt.

Pluralität ist ein Netz feindlicher und gegensätzlicher und inkonsistenter Intentionen. Arendt: Der Handelnde „hat […] die Wahl, seine Intentionen aufzugeben, sich schleifen zu lassen oder gewaltsam zu werden und andere Intentionen zu vernichten.*“ Richtige Gleichsetzungen scheinen tatsächlich Formen von Gewalt zu sein – sie sind auf ein Ende gerichtet – auf ein Ende hin bewaffnet – statt sich auf kein Ende hin zu öffnen. Durchgänge zwischen Differenzen haben kein Ziel und kein Ende; sie lassen Differenzen sein. Sind wir nunmehr, mit der Unterstützung Hannah Arendts, in der Lage, zwischen nicht gewalttätigen und gewalttätigen Formen der Übersetzung zu unterscheiden? Die erste führt zu Nicht-Gleichsetzungen, die zweite zu Gleichsetzungen, Imitationen und Korrektheit?

Eine nicht gewalttätige Übersetzung veranlasst keine Resultate? „… Handeln, eigentlich gesprochen, ziellos und endlos … Dies hat bereits Aristoteles als a p e i r o n gefürchtet.*“ Apeiron, unendlich, endlos. Hatte Hannah Arendt das griechische Wort apeiron im Hinterkopf, als sie über das lateinische opinion und das Englische open schrieb? Gibt es so etwas wie eine nicht intentionale Übersetzung – von opinion zu open?

Ich lieb die Erde
so wie auf der Reise
den fremden Ort
und anders nicht.
So spinnt das Leben mich
an seinem Faden leise
ins nie gekannte Muster fort.
Bis plötzlich,
wie der Abschied auf der Reise,
die grosse Stille in den Rahmen bricht.

Ein im Januar 1954 geschriebenes Gedicht.

Vielleicht wurde Hannah Arendt im Januar 1954, während sie an Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft arbeitete, mit der Sinnlichkeit des Wortes sense [Sinn] und mit der Sinnlichkeit der Sprache insgesamt konfrontiert. Es gibt etwas in der Sprache, das rein sinnlich ist, nicht bedeutungsvoll, sinnlich ganz wie die Welt, wie der Boden, wie Steine und Türknöpfe, Äpfel und Kirschen, weit sinnlicher als das Sinnvolle, nicht sinnvoll sinnlich. Beim Nachdenken über Sinn und Sinnlichkeit mag sie gefühlt haben, dass ihre Muttersprache sie behinderte und der Wahrheit im Weg stand. Sense ist ziemlich anders als das deutsche Sinn*. Das deutsche Wort Sinn* kann nicht von der Vorstellung von Richtung und Zielen losgelöst werden. Es gibt keine etymologische Verbindung zwischen dem lateinischen Wort sensus und dem deutschen Sinn*. Sinn* wird von einer Wurzel abgeleitet, die bedeutet zu reisen, zu streben, zu gehen. Sinn* ist verbunden mit dem italienischen sentiero, einem Weg, einer Fährte. Es gehört zum Verb senden. Es gibt nichts Sensorisches in Sinn*. Das englische sense ist im Gegenteil reines Fühlen, ohne dass dies eine Richtung oder Intention zur Folge hätte.

Eintrag Nr. 37: „Als der ‚common sense‘ in die Hände der Philosophen fiel, haben sie ihn seines Sinnes-charakters beraubt und absurd gemacht. Das grösste Beispiel ist Hobbes. Erst hier wird der ‚common-sense‘ unabhängig vom Sinnlich-erfahrbar-Gegebenen und verwandelt sich in eine Logik, ein Rechnen mit Konsequenzen, das alles Reale zerstört.*“ Um der Differenz zwischen Sinn* und Sinn* Ausdruck zu verleihen, macht Arendt von der englischen Sprache Gebrauch. Sie braucht den englischen Begriff common-sense, um auszudrücken, dass er sich vom deutschen Konzept Sinn* unterscheidet oder unterscheiden kann. Sie benötigt englische Worte, um herauszufinden, dass mit dem Sinn* eine sinnliche Qualität, ein Gefühl und nicht nur Richtung einhergeht. Um diese Differenz zu entdecken, braucht sie eine andere Sprache.

Der Unterschied zwischen Vernunft und Gemeinsinn mag im Englischen weit deutlicher gewesen sein als im Deutschen, einfach weil sense sinnlich ist, wohingegen der deutsche Sinn* weder sinnlich noch fühlbar ist. Er beruht nicht darauf, was wir durch unsere Sinne wahrnehmen. Der Sinn eines Gedichts* ist eher die Essenz als the sense of a poem. 

Eine weitere deutsch-englische Überlegung kann im Eintrag Nr. 34 gefunden werden: „‚Common-sense‘ und gesunder Menschenverstand: Hobbes führt ihn in die Philosophie ein, indem er alle vergangene Philosophie für absurd erklärt. […] Damit hört der ‚common-sense‘ auf, ein Sinn zu sein, und wird zur ‚Vernunft‘ erhoben. Als solcher erst ist er der ‚gemeine Verstand‘. Bei Hobbes funktioniert er in doppelter Weise: 1. Als logisches Folgern, das jeder richtig machen kann und bei dem alle zu gleichen Resultaten kommen müssen. Das ‚Sein‘ wird sofort folgerichtig ausgeschlossen beziehungsweise seiner sinnlichen Gegebenheit beraubt und zu einem ‚sign‘ für Konsequenz degradiert. 2. Als psychologische Selbsterfahrung, wobei vorausgesetzt ist, dass ich mich selbst so kennen kann wie alles Andere. Das ‚Kenne-dich-selbst‘ soll nun meinen: Nimm dich selbst zum Beobachtungsgegenstand und du kennst alle, denn alle sind gleich in sich selbst […]. Die erste Weise des gesunden Menschenverstands ist typisch modern und subjektivistisch; die zweite aber typisch ‚philosophisch‘ – das, was aus dem ‚common-sense‘ in den Händen des Philosophen wird. Nun gibt es wieder keine Pluralität, keine d o x a i und keine Verwirrung. Alle Menschen sind eigentlich nur ein Mensch […]. Hegel verstand den ‚common-sense‘, wie Hobbes ihn verstand, als den gemeinen Verstand, der nichts kann als Konsequenzen berechnen und die Dunkelheit des Herzens gemein machen.*

Lassen sie mich betonen, dass Sie im Zentrum dieser Reflexion einen Konflikt vernehmen können – vernehmen konnten –, der nur dann ausgelöst wird, wenn zwei Sprachen im Spiel sind, einen Konflikt und eine Koinzidenz. Sie haben vielleicht bemerkt, dass auf das deutsche Wort Sein* rasch das englische sign [Zeichen] folgt. Auf der semantischen Ebene gibt es zwischen diesen beiden Worten keine Ähnlichkeit. Sein bedeutet being und sign ist ein Signal, eine Markierung, ein Emblem. Durch die Verwendung von zwei Sprachen verbindet  Arendt die beiden Worte, setzt sie gleich, um eine Differenz zu klären. Das deutsche Konzept Sein* schließt das Sinnliche, das Fühlbare mit ein – sign ist dagegen abstrakt und bedeutungsvoll, es gehört zum Bereich der Bedeutung und der Signifikation. Sein* ist eine nicht-semantische Aktivität, es sendet keine Signale. Arendt scheint die große Differenz zwischen den beiden Konzepten genau deshalb zu begreifen, weil die beiden Worte akustisch so ähnlich sind. Werden sie ausgesprochen, so lässt sich kaum eine Differenz vernehmen. Arendt begreift die Differenz, weil sie die Sinnlichkeit, das heißt, den Sinn der beiden Worte fühlt, sieht, hört, wahrnimmt. Um ihre Bedeutung zu verstehen, muss ihr Sinn gefühlt werden. Ihr Denken beruht und verlässt sich auf Sinnlichkeit, auf Poesie, auf poetische Energie.

Der Gemeinsinn deckt beide Aspekte ab: sinnliches Sein* und abstrakte Signifikation. Arendt zufolge war es der englische Philosoph Thomas Hobbes, der das Konzept des Gemeinsinns im 17. Jahrhundert in die Philosophie einführte, ihn dadurch in logisches Denken und Berechnen verwandelte und ihn all seiner sinnlichen Qualitäten beraubte. Gemeinsinn verwandelt sich in eine Form des Denkens, des Ziehens korrekter Schlussfolgerungen, der Konsistenz. Arendt findet indes im englischen Begriff eine Spur des Widerstands gegenüber dem Denken – Sinn ist der Sinnlichkeit näher als der Sensibilität und dem Denken. Sie findet das sensorische Potenzial, weil sie den sinnlichen Aspekten der Sprache Aufmerksamkeit schenkt, weil sie der Sprache zuhören kann. Hören und Verstehen sind miteinander verknüpft.

Es scheint, dass der Gemeinsinn wahrhaftig und tatsächlich, ein Sinn ist, der Pluralität, Widerspruch und Verwirrung zu spüren vermag. Seit Hobbes wurde er in etwas ganz anderes verwandelt, nämlich in die Fähigkeit, richtig, begründet, vernünftig abzuleiten und in Konsequenzen und Ideen zu denken. Seit Hobbes existiert eine vernünftige Verbindung zwischen Sein* und sign – sie werden nicht verwirrt, so wie Hannah Arendt sie verwirrt. Sie ist in der Lage, sie wiederum zu verwirren, weil sie auf die sinnlichen Qualitäten der Worte hört. Arendt ist keine Philosophin, sondern eine Verwirrerin und eine Verbinderin oder, wie sie selbst sagt,  eine politische Theoretikerin.

Indem sie auf die sinnlichen Qualitäten der Sprache hört – und der Bedeutung und Signifikanz weniger Aufmerksamkeit widmet –, findet Arendt „falsche Freunde“ und verwandelt diese in wahre Freunde. Im Oktober 1950, kurz nachdem sie das Denktagebuch begonnen hat, platziert sie zwei Worte Seite an Seite, eines ist deutsch, das andere englisch, sie sind recht verschieden, doch buchstäblich fast ident: „Treue: ‚true‘“. Eine korrekte und vernünftige Übersetzung, eine Übersetzung, die keine Notiz nimmt von Charakter und Buchstaben der Worte und sich nur für die reine Bedeutung interessiert, würde Treue* selbstverständlich konsistent in faithfulness [Treue], fidelity [Ehrlichkeit, Treue] verwandeln. Arendts Übersetzung ‚true‘ ist eine untreue Übersetzung – sie ist anderen Ausdrucksformen gegenüber treu, bedeutungslosen Formen der Bedeutung. Die Übersetzung von Treue* in truth ist nicht stimmig mit Tatsache und Vernunft. Sie nimmt das Wort, wie es ist, die Buchstaben, wie sie sind – und verwandelt sie in sich selbst. Eine neue Bedeutung und ein neuer Sinn werden erzeugt – doch nicht durch Implikation oder Inspiration oder Ideen. Denken ist ein sinnlicher Prozess, eher sinnlich als spirituell. Es entwickelt sich nicht über Schlussfolgerungen und Ableitungen. Es entwickelt sich über poetische Mittel. Es interessiert sich mehr für Mittel [means] als für Bedeutung [meaning].

Die Verbindung von Treue und Wahrheit wäre in beiden Sprachen kaum möglich oder wahrscheinlich. Beide Sprachen unterscheiden zwischen Treue und Wahrheit, so sehr wie sie zwischen Tag und Nacht unterscheiden. Arendt spricht beide Sprachen. Früher oder später kann sie nicht umhin, die Ähnlichkeit verschiedener Worte zu entdecken. Sie entdeckt, dass die sensorische Realität der Worte tatsächlich größer und mächtiger ist als ihre geistige Realität. Sie entdeckt, dass sich Denken über Klänge entwickelt.

Treue: ‚true‘: wahr und true.  Als wäre das, dem man die Treue nicht halten kann, auch nie wahr gewesen. Daher das grosse Verbrechen der Untreue, wenn sie nicht gleichsam unschuldige Untreue ist; man mordet das Wahr-gewesene, schafft das, was man selbst mit in die Welt gebracht hat, wieder ab, wirkliche Vernichtung, weil wir in der Treue und nur in ihr Herr unserer Vergangenheit sind: Ihr Bestand hängt von uns ab. So wie es von uns abhängt, ob Wahrheit in der Welt ist oder nicht […].

Denken, denke ich – und dem stimmen Sie vielleicht zu –, wird nicht durch Ideen und geistige Fallen ausgelöst und genährt, sondern durch sinnliche Materie. Die Ähnlichkeit von Wahrheit und Treue wird nicht logisch aus philosophischen Prämissen abgeleitet und vernünftig bewiesen – die Ähnlichkeit der beiden wird mit Unterstützung eines Sinns für Pluralität und Übersetzbarkeit entdeckt. Es scheint, dass Wahrheit durch Übersetzung entdeckt wird.

Ehe ich zum Schluss komme, ehe ich glücklich zu keinen Schlussfolgerungen komme, würde ich gerne einige Zeilen zitieren, die dem langen Gedicht „Dark City“ entnommen sind, das der amerikanische Dichter Charles Bernstein schrieb:

„A transom stands bound to a flagpole. Hard
by we go hardly which way is which
lingering somewhere unsettled where evidence
comes harder by sockets, stems,
etched in flexed omissions like osmotic
molarities flickering edge and orange at flow
rates unrepresentative of ticking or torpor
any child or person requires for, well
against, that remorse remonstration
brings.“

Ist das, was nach der ersten Zeile geschieht, reines Denken? Ungestört von Fallen? Wie aber können wir sicher sein, dass Zeile zwei bis neun bedacht und sinnlich sind, während die erste Zeile über den Querbalken [transom] und den Fahnenmast [flagpole] fast schlüssig und im Grunde vernünftig ist? Welche Evidenz für Bedachtsamkeit finden wir in Zeile zwei bis neun? Hannah Arendt würde möglicherweise  zustimmen, dass Wiederholung ein Hinweis für einen Denkprozess ist. Wiederholung ist kein schlüssiger Prozess, er produziert keine Resultate und scheint Ähnlichkeiten und Symmetrien zu unterstützen. Wenn wir uns die Zeilen zwei bis neun genau und offen ansehen und zuhören, könnten wir entdecken, dass sie voller deutlicher und versteckter Wiederholungen sind: hard – hardly – harder; which – way – is – which; transom – somewhere – comes – sockets; omission – osmotic – molarities; somewhere – where; etched – edge; flexed – flickering; like – flickering; edge – orange; or – topor – remorse – remonstration.

Die allererste Zeile und der allererste Satz, in dem mehr oder weniger sinnvoll ein Querbalken an einen Mast gebunden wird und dieses Objekt oder diese Anordnung bewegungslos steht – schlüssig bewegungslos sozusagen –, diese erste Zeile und dieser erste Satz werden von Zeile zwei bis neun auseinandergenommen und, nicht schlüssig, doch hörbar und sinnlich neu kombiniert. Zeile zwei bis neun werden wieder mit der physischen Erfahrung verbunden. Während Zeile eins lediglich über die materielle Welt zu sprechen scheint, und selbst kaum materiell ist.

Zeile zwei bis neun können als Übersetzung der Zeile eins verstanden werden – eine Übersetzung in spontanes Denken, in Poesie, in Gemeinsinn. In mehr Sinn, als Sinn macht.


[i] [A.d.Ü.] Alle mit Asterisk versehenen und kursivierten Sätze/Worte sind Deutsch im Original.

[ii] „Zweimal schon schloss mein Leben ehe es beendet; / Ob Unsterblichkeit mir / ein drittes Ereignis sendet / Ungeheuer, unfasslich dies / Das mich befiel. / Trennung ist alles was wir vom Himmel wissen, / Und was die Hölle will.“

[iii] Der erste Teil des Zitats wurde dem englischen Originaltext The Origins of Totalitarianism entnommen, den Arendt nicht ins Deutsche übersetzt hat; der zweite Teil stammt aus der deutschsprachigen Ausgabe desselben Buches.

[iv] Hinauf mit meinem kleinen Bündel auf des Lebens Hügel, / Wenn ich ihn als steil bekunde, / wenn eine Entmutigung mich zurückhielte, / Wenn mein neuester Schritt / älter sich anfühlte als die Hoffnung, die veranlasste, / Ohne Flecken sei vom Tadel / Herz, das vorschlug, wie Herz, das annahm, / Heimatlosigkeit für Heim.

[v] „Anscheinend von der Wurzel up. Das Wort hat in allen Sprachen ein starkes Partizip, als ob es ‚aufstellen‘, ‚aufhängen‘ bedeuten würde – ‚put up the door‘, ‚set up the door‘ (Deutsch macht die thür auf), ‚die Tür ist offen, mach sie zu‘. – Eine Tür, ein Tor oder Ähnliches: Nicht an den Platz ‚stellen‘, an den es gehört, nicht geschlossen oder verschlossen; ‚auf‘, aufstellen, aufstehen, um einen freien Durchgang zu ermöglichen.“

[vi] „Wir werden in diese Welt der Pluralität hineingeboren, in der Vater und Mutter für uns bereitstehen – bereit, uns zu empfangen und willkommen zu heißen, uns zu leiten und zu bekunden, dass wir nicht Fremde sind. Wir werden erwachsen, um wie alle anderen zu werden. Doch je älter wir werden, desto gleicher werden wir im Sinne absoluter, unerträglicher Einmaligkeit. Dann lieben wir, und die Welt zwischen uns, die Welt der Pluralität und heimatlichen Verbundenheit, geht in Flammen auf, bis wir selbst so weit sind, neu Ankommende zu empfangen – die Neuen, denen wir nun beweisen, was wir nicht mehr so recht glauben, dass nämlich sie nicht Fremde sind. Wir sterben in absoluter Singularität, schließlich doch als Fremde, die nach einem kurzen Aufenthalt, von einem fremden Ort Abschied nehmen. Was weiter besteht, ist die Welt der Pluralität.“