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05 2007

Die Autonomie des lebendigen Wissens in der metropolitanen Universität

Gigi Roggero

Übersetzt von Birgit Mennel, überarbeitet von Martin Birkner

Dieser Text geht auf eine kollektive Diskussion und die politische Aktivität des Rete per l’Autoformazione, Atelier Occupato Esc, Rom (http://www.escatelier.net) und des Kollektivs edu-factory (http://www.edu-factory.org) zurück.

 
Wir stellen in diesem Text die Hypothese eines Übergangs von der Eliteuniversität über die Massenuniversität zur gegenwärtigen metropolitanen Universität auf. In dieser Periodisierung wird jeder Übergang zunächst durch die Bewegungen und Kämpfe und erst danach durch die kapitalistische Antwort bestimmt. Innerhalb dieser Trends universitärer Veränderung tauchte in den letzten zwei Jahre ein neuer politischer „Zyklus“ universitärer Kämpfe auf: die Kämpfe prekärer StudentInnen/ForscherInnen und Menschen in postgradualer Ausbildung von Italien bis in die USA, der Kampf gegen den CPE (Contrat première embauche)[1] in Frankreich, gegen die Reformen des Bologna Prozess[2] in Griechenland sowie die Kämpfe an den Eliteuniversitäten in China. Jenseits augenfälliger Differenzen des Kontexts, der Formen akademischer Governance und unterschiedlicher Konfliktformen lassen sich in den oben aufgelisteten Fällen einige gemeinsame Elemente feststellen: die Behauptung einer neuen hybriden studentischen Figur, die sich beständig zwischen lebenslangem Lernen und dem Arbeitsmarkt bewegt; Rahmenbedingungen der Prekarisierung; ein Deklassierungsprozess und differentielle Inklusionsmechanismen; die Rekonfiguration der Raum-Zeitkoordinaten in der Metropole sowie in der Produktion von Gegenwissen. Unsere gesamte Analyse gründet sich auf die Bewegung, Kämpfe und Selbstbildungserfahrungen sowie die Versuche neue gemeinsame Institutionen zu errichten – in der Universität selbst, entlang ihrer Grenzen und in ihrem Verhältnis zur Metropole. Dies ist der politische Standpunkt, in den wir unsere Forschung einbetten.


Die kognitive Arbeit unter dem Paradigma der Transition

Wenn wir die Universitätstransformationen analysieren, müssen wir davon ausgehen, dass eine enge Verbindung besteht zwischen den Veränderungen in den kapitalistischen Produktionsmodi und in den Systemen der Hochschulbildung. Die Universität steht im Zentrum dessen, was wir als das Auftauchen des kognitiven Kapitalismus[3] mit folgenden zentralen Charakteristika bezeichnet haben: die neue Organisation und Beschaffenheit von Produktion und Arbeit; die zentrale Rolle, die dem Wissen, der Information und den Beziehungen nicht nur als ungreifbare Produkte, sondern vor allem als Produktionsmittel zukommt; die Herausbildung einer „diffusen Intellektualität“, sowohl in der Ausweitung der Bildung wie auch in der Verbreitung der Wissensproduktion im Bereich der sozialen Kooperation; der Anstieg der Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien, nicht als körperloser deterministischer Vektor der Entwicklung, sondern als eine zeitliche Objektivierung sozialer Beziehungen und Kämpfe; und schließlich die Ausgestaltung neuer Raum-Zeit-Koordinaten sowohl in der Produktion wie auch in der lebendigen Arbeit innerhalb eines durch Globalisierung und ein transnationales System vordefinierten Rahmens. Der Begriff des kognitiven Kapitalismus ist für uns nicht ein theoretisches Postulat, sondern vielmehr eine zu verifizierende  Forschungshypothese und ein Werkzeug für unsere tägliche politische Aktivität. Wir wollen hier keine epochalen Neuheiten verkünden, sondern vielmehr versuchen, Begriffe zu erfinden, die dazu dienen können, die vorliegenden Übergänge zu verstehen und auf sie einzuwirken. Ebenso wenig interessieren wir uns für allgemeine soziologische Beschreibungen, sondern arbeiten eher in der Partialität der Kämpfe und der Produktion von Subjektivität.

Im Rahmen dieses Übergangs verwenden wir den Begriff der kognitiven Arbeit auf andere Weise als den üblicheren Begriff der Wissensarbeit[4] bzw. die Kategorie der kreativen Klasse[5]: Diese beiden Definitionen entsprechen einer soziologischen Beschreibung neuer Schichtungen oder beziehen sich anderseits auf das hauptsächlich in der marxistischen Tradition verwendete Konzept der Klasse als objektive Zugehörigkeit zu einer Ausbeutungssituation im kapitalistischen System. In paradoxer Komplementarität mit dem orthodoxen Glauben an die ArbeiterInnenklasse (als FabriksarbeiterInnen) können diese Termini unheilvolle Konsequenzen mit sich bringen, da sie Gefahr laufen, die Klassenhierarchie lediglich zu beobachten, ohne in ihr zu agieren. Vom politischen Standpunkt aus betrachtet ist es jedoch besser, jene gemeinsamen Elemente in den Blick zu bekommen, die das gesamte Spektrum der Zusammensetzung lebendiger Arbeit ausmachen.

Besonders interessant ist es, die Verbreitung des Konzepts der kreativen Klasse in Teilen der Bewegungsdebatte zu verfolgen. Abgesehen von den zweifellos innovativen Elementen in Floridas Analyse handelt es sich bei dieser Kategorie in mancher Hinsicht um eine neue Ideologie der Mittelklasse als subjektive Kraft der Vermittlung und Konservierung kapitalistischer sozialer Verhältnisse. Dies produziert eine Segmentierung, und nicht die Möglichkeitsbedingung dafür, die Angelegenheiten in der Klassenzusammensetzung neu zu  kombinieren. Tatsächlich ist eine der Beschränkungen mancher Kämpfe das Verkennen der gemeinsamen Interessen und Bedingungen sowie der möglichen Allianzen im Inneren der Zusammensetzung kognitiver Arbeit. Der italienische Fall zum Beispiel zeigt deutlich, dass die jüngste Mobilisierung „prekärer ForscherInnen“ sich selbst schwächte, als sie Allianzen mit professionellen akademischen Lobbies gegenüber der strategischen Verbindung mit der neuen studentischen Figur und dem metropolitanen Prekariat vorzog, mit dem Ziel ihren Marktwert als Teil der „kreativen Klasse“ anerkannt zu sehen.

Wir wenden daher den vom italienischen Operaismus ausgearbeiteten Interpretationsschlüssel an: Das Konzept der Klassenzusammensetzung[6] verweist auf die Kombination zwischen Ausbeutungsverhältnissen und Subjektivierungsprozessen, Konflikten und kollektiver Identifikation. Um zusammenzufassen: Es gibt keine Klasse ohne Klassenkämpfe. Außerdem wollen wir mit dem Begriff der kognitiven Arbeit keine bestimmte Kategorie von ArbeiterInnen identifizieren, wie dies in der Unterscheidung zwischen kreativen Jobs und „McJobs“ geschieht. Wir verwenden diese Kategorie stattdessen, um auf die paradigmatische Form gegenwärtiger Arbeit und auf die Krise der klassischen Dichotomie zwischen manueller und intellektueller Tätigkeit hinzuweisen. Damit wollen wir nicht nur darauf aufmerksam machen, dass in der kognitiven Arbeit physische Aspekte nicht verschwinden, sondern dass sich intellektuelle und manuelle Fähigkeiten in gegenwärtigen Arbeitsformen ständig überlappen – klarerweise in unterschiedlichen Graden je nach Arbeit, Position und Einkommen. Außerdem haben sich in den gegenwärtigen Arbeitsprozessen zweifellos sowohl die Zusammensetzung der Arbeitskraft wie auch die besondere Kombination der darin zum Einsatz gebrachten Fähigkeiten verändert. So hat beispielsweise die klassische Figur der KünstlerIn wenig Ähnlichkeit mit der produktiven (und prekarisierten) Figur der KünstlerIn heute: Die Kämpfe und die Forschung der Intermittents in Frankreich[7] weisen darauf hin, dass die KünstlerIn der Gegenwart eine Vielzahl von Aktivitäten ausführt, in denen sich die manuellen und intellektuellen Tätigkeiten kontinuierlich überschneiden, und dass die Performance dabei nur eine unter vielen anderen Aktivitäten ist. Gleichermaßen widmen sich ArbeiterInnen der just-in-time-Fabriken überall auf der Welt täglich der Manipulation von Zeichen und Symbolen globaler technologischer Unternehmensketten und haben möglicherweise mehr Ähnlichkeit mit jenen Dateneinträgen produzierenden „NetzsklavInnen“ in den Unternehmen der „Netzökonomie“ als mit den ArbeiterInnen tayloristischer Unternehmen. Auch die migrantischen Sorge-ArbeiterInnen, die in den gefängnisähnlichen und ethnisierten Arbeitsregimen in Europa oder in Asien ausgebeutet werden, produzieren neben harter physischer Arbeit vor allem Beziehungen und Affekte. Im kognitiven Kapitalismus kommt dem Materiellen sogar eine wachsende Bedeutung zu, lediglich die Produktionsformen verändern sich. Wie die Statistiken zeigen, korrespondiert der Rückgang von ArbeiterInnen in der Verarbeitungsindustrie im „Westen“ nicht mit einer Verlagerung derselben in Richtung der einst als „Dritte Welt“ bezeichneten Gegenden, sondern gründet sich vielmehr auf einen Anstieg der Produktivität in der Industriearbeit.[8]

Im gesamten Produktionsprozess ist das kognitive Element und Maß zentral für die Formierung neuer Hierarchien und Klassenzusammensetzungen. Kognitive Arbeit verweist also vor allem auf eine Kognitivisierung des Maßes und seiner Ausbeutung; auf die Kognitivisierung der Klassen- und Lohnhierarchien; und schließlich auch auf die Kognitivisierung der Arbeitsteilung in der Krise der traditionellen internationalen durch Migrationsbewegungen bestimmten Arbeitsteilung. Folglich handelt es sich bei der kognitiven Arbeit nicht um einen linearen Prozess der Intellektualisierung der Zusammensetzung lebendiger Arbeit, worauf auch der Deklassierungsprozess verweist, der eines der Kampffelder der jüngsten Mobilisierungen war. Im Gegenteil, die kognitive Arbeit lenkt die Aufmerksamkeit auf die zentrale Rolle, die der sozialen Kooperation in der Wissensproduktion zukommt, wie außerdem auf ihre Effekte abseits formaler Ausbildungsorte. Wenn wir von der Zusammensetzung der kognitiven Arbeit sprechen, dann denken wir nicht nur an irgendeinen Ort im „Westen“, sondern zuallererst an die indischen IngenieurInnen im Silicon Valley, die gleichzeitig als SoftwareentwicklerInnen und TaxifahrerInnen tätig sind: die Überlappung von manueller und intellektueller Aktivität durchkreuzt beständig auch die individuellen Biographien.[9] Von diesem Standpunkt aus betrachtet, zeigt sich schließlich in der Sorgearbeit eine Komplexität, in der Halbsklaverei und Lohnarbeit, „materielle“ Aspekte und kognitive Fähigkeiten in erster Linie in der Produktion von Affekten gleichermaßen präsent sind. Wenn wir daher von der „Feminisierung der Arbeit“ sprechen, meinen wir damit nicht nur den massenhaften Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt, sondern zunächst das unmittelbare Produktiv-Werden dessen, was einstmals der Reproduktionssphäre zugewiesen und als weiblich bezeichnet wurde – das Produktiv-Werden von Beziehungen, Zuneigungen und der Fähigkeit, Sorge zu tragen. In anderen Worten, die kognitive Arbeit ist der Filter, durch den es möglich wird, das gesamte Spektrum der Produktion und der Arbeitsformen des gegenwärtigen Kapitalismus in ihrer besonderen Zusammensetzung und Kopräsenz zu beobachten.  

 
Der transnationale Aufstieg der metropolitanen Universität

In den neuen Hierarchien und der entstehenden Klassenzusammensetzung ist die Universität nicht der einzige Ort, an dem Wissen und Kultur produziert wird: Die Akademie wird von Strömen der Wissensproduktion überflutet, die sich auch in die soziale Kooperation des metropolitanen Bereichs ergießen. Mit diesem Begriff beziehen wir uns wiederum nicht nur auf die traditionelle westliche Metropole, sondern auf neue globale Räume, die in den postkolonialen Zonen tatsächlich eine paradigmatische Entwicklung erfahren haben.[10] Unser Problem besteht also nicht so sehr darin, den Elfenbeinturm wieder aufzubauen, sondern vielmehr an den Rändern von Universität und Metropole zu agieren. In anderen Worten, es ist unser Ziel, den metropolitanen Bereich in eine Gegenuniversität zu verwandeln. Folglich ist die Universität für uns eine Stätte der Kraftanwendung und eine Grundlage für Autonomie und Exodus.

Die Hypothese des Aufstiegs des kognitiven Kapitalismus führt uns dazu, die neuen Raum-Zeit-Koordinaten in der Produktion und in der Arbeit zu untersuchen. Das traditionelle Bild der internationalen Arbeitsteilung, das sich auf die geographische Trennung zwischen Gegenden in der Ersten und der Dritten Welt stützt, ist heute nicht mehr brauchbar: Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, wurde jene klassische Teilung durch eine kognitive Arbeitsteilung ersetzt. Außerdem haben postkoloniale WissenschaftlerInnen darauf aufmerksam gemacht, dass sich die klassische Dialektik zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Industrie- und Entwicklungsländern in einer Krise befindet. Dies bedeutet nicht, dass sich Hierarchien, Ungleichheiten und die Formen der Ausbeutung verloren haben. Ganz im Gegenteil haben sie sich global gesehen jenseits der traditionellen Trennung zwischen Erster und Dritter Welt ausgeweitet, die Grenzen überquert und sich im Inneren der metropolitanen Gegenden reproduziert. Wir müssen die Transformationen der Universität daher von einem gänzlich transnationalen Standpunkt aus analysieren. Zugleich sind diese Transformationen auch auf lokaler Ebene verortet. So impliziert bspw. in Italien die Unternehmisierung (corporatization) der Universitäten (und dies bezieht sich nicht nur auf den Anstieg von Drittmitteln, sondern zuallererst auf ein Unternehmerisch-Werden der akademischen Governance) auch die Präsenz einer feudalen Macht der sogenannten „BaronInnen“ (mächtige ProfessorInnen in Positionen, die oftmals entlang familiärer Beziehungen übertragen wurden). Diesen Transformationen sind einige Tendenzen gemeinsam, die in Europa im Bologna Prozess zusammengefasst werden. Wir beschränken unsere Analyse hier auf vier dieser Trends.

Die erste gemeinsame Tendenz ist die Überleitung selektiver Ausschlussmechanismen aus dem Bildungsprozess hin zu einer differentiellen Inklusion. Anders gesagt, im Rahmenwerk des Punktekreditsystems hängt das Curriculum nun nicht mehr so sehr davon ab, ob eine Person an einer höheren Bildungsinstitution studierte oder nicht, vielmehr ist vor allem entscheidend, an welcher Institution er oder sie eingeschrieben war. Der Wert des akademischen Grades steht damit eher mit der Position der Universität in der Hierarchie des Bildungsmarktes in Zusammenhang und korrespondiert mit dem Prestige der Institution, ihrer Marke sowie mit den in der Institution vorhandenen Möglichkeiten, als soziales Kapital gemessene vorteilhafte Beziehungen zu akkumulieren, und nicht notwendigerweise mit der Qualität des vermittelten Wissens. Es handelt sich um einen Prozess, der sich in den USA über eine längerfristige Periode entwickelte und langsam auch in Europa als einer der Hauptaspekte des Bologna-Prozesses Fuß fasst. Diese Tendenz ist den Veränderungen im BürgerInnenrecht in Zeiten der Globalisierung ähnlich. In beiden Fällen, im Universitätssystem wie auch in der Figur der BürgerInnenschaft, hängen die Prozesse differentieller Inklusion mit der Produktion von Grenzen und Klassenhierarchien, mit Rassifizierung und der Produktion von Geschlechterhierarchien in der transnationalen Teilung der kognitiven Arbeit zusammen. Als Konsquenz daraus folgt, dass der zahlenmäßige Anstieg der Hochschulbildungsabschlüsse häufig von einer Deklassierung auf dem Arbeitsmarkt und in der Wissensqualifikation begleitet ist. Im Lexikon des Universitätsmanagements wird das Wort Gleichheit durch equity[11] ersetzt, was Gleichheit und differentielle Inklusion gleichermaßen bedeutet. Das grundlegende Kampffeld verläuft damit nicht entlang einer Ausschlusslinie, sondern entlang qualitativer Einschlüsse. Die metropolitane Universität ist nicht ein Ort der Schulung von Eliten oder der Ausweitung der Massenbildung: die metropolitane Universität ist im Markt des lebenslangen Lernens vielmehr einer der Knotenpunkte und Dispositve zur Regulierung des Werts der kognitiven Arbeit.

Die zweite gemeinsame Tendenz betrifft die akademischen Arbeitsbedingungen als Gelegenheitsarbeit. Soziale Bewegungen, hauptsächlich in Europa, nannten diesen Prozess Prekarisierung und das Subjekt das ihm innewohnt, prekär. Wie dem auch sei, der Kampf gegen Prekarisierung hat für uns jedenfalls nicht zum Ziel, die „alten“ Rechte und Arbeitsformen wieder einzusetzen. Einerseits lässt sich die kognitive Aktivität nicht mit dem starren Raum- und Zeitregime des „fordistischen“ Modells vereinbaren. Andererseits sind wir aber vor allem mit einer Ambivalenz der Flexibilität konfrontiert, wie Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrer wichtigen Studie über den „neuen Geist des Kapitalismus“ unterstreichen.[12] Zur Genealogie der Kategorie der Flexibilität, die in den neunziger Jahren in Arbeitspolitiken und Prozessen der Prekarisierung zum Zauberwort wurde, gehören auch die ArbeiterInnenkämpfe und der Massenexodus aus der Lohnarbeit in den siebziger Jahren. Paradoxerweise tritt eine Krise in den Dispositiven kapitalistischer Kontrolle über die Arbeitskraft gerade dann zutage, wenn die Subjekte lebendiger Arbeit vollständig autonom nach den Schlagwörtern des Postfordismus handeln (Flexibilität, Mobilität, Innovation, Unvorhersehbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Nicht-Standardisierung, Singularität). Das politische Problem ist also, ob diese intrinsische Flexibilität die Form der Prekarisierung annimmt oder ob sie die Autonomie der lebendigen Arbeit über die Eroberung des bedingungslosen Grundeinkommens, des Rechts auf Bewegungsfreiheit und Kommunikation sowie über die Ausweitung der freien Kooperationstätgkeiten und Selbst-in-Wert-Setzung gegen die Erpressung durch Lohnarbeit und den Markt vorantreibt.

Die dritte gemeinsame Tendenz ist das Auftauchen einer neuen studentischen Figur. Wie der Kampf der Menschen in postgradualer Ausbildung deutlich macht, sind UniversitätsstudentInnen im kognitiven Kapitalismus – in dem das Wissen zum Produktionsmittel wird – nicht länger in Ausbildung befindliche Mitglieder der Arbeitskraft, sondern vollständige (prekäre) ArbeiterInnen der so genannten „Wissensfabrik“. In diesem Zusammenhang müssen wir außerdem darauf hinweisen, dass dieser Ausdruck als rhetorische Figur zweifellos brauchbar ist, um auf die Zentralität der Wissensproduktion in der gegenwärtigen Klassenformierung sowie auf die Disziplinierung des lebendigen Wissens hinzuweisen. Gleichzeitig muss aber jede Verwendung des Begriffs der Wissensfabrik immer auch die Unmöglichkeit analysieren, der derzeitigen Klassenformierung eine wissenschaftliche tayloristische Arbeitsorganisation aufzuerlegen. Aus dieser Unmöglichkeit resultiert auch die potentielle Autonomie der beständig zwischen lebenslangem Lernen und Arbeitsmarkt pendelnden lebendigen Arbeit bzw. des lebendigen Wissens, das von der neuen hybriden Figur der StudentIn/prekären ForscherIn und Unterrichtenden verkörpert wird.

Die vierte gemeinsame  Tendenz ist schließlich die Auferlegung eines kognitiven Maßes, um die Produktion von Wissen und Beziehungen (durch ein Kreditsystem bzw. durch die Kategorien Humankapital oder soziales Kapital) zu quantifizieren. Dieses Maß legt den Grundstock für die Ausbeutung der Beziehungen und deren private Aneignung. Nach McKenzie Wark impliziert das Bildungssystem, wie der kognitive Kapitalismus im Allgemeinen, eine Wissensorganisation durch künstlich hergestellten Mangel, wie in den Gesetzen der klassischen politischen Ökonomie, jedoch in einer Situation potentiellen Überflusses und Reichtums.[13] Effektiv gedeiht eine Art von (durch Subjektivitäten und Konflikte bestimmtem) Wissensüberfluss in Bezug auf die Quantifizierungseinheiten und das Wertgesetz. Dies ist der Hauptwiderspruch der politischen Ökonomie des Wissens und andererseits das Kampffeld zwischen der Unterordnung sozialer Kooperation und der Autonomie der lebendigen Arbeit/des lebendigen Wissens. Die Maßlosigkeit der Wissensproduktion verweist jedoch nicht automatisch auf die Krise des Kapitalismus, sondern ist vielmehr das Schlachtfeld zwischen der Autonomie lebendiger Arbeit und dem Einfangen derselben durch den Kapitalismus. Es reicht daher nicht zu sagen, das Wissen als Gut zu messen sei unmöglich, denn auch ein künstliches Maß ist ein Maß. Die Kämpfe um diese Kognitivisierung des Maßes selbst, als künstliches Maß des Wertes, sind nichts anderes als die Konfliktfront in der Wissensproduktion.

Es gibt aber noch ein weiteres Element in den Möglichkeitsbedingungen für diesen Kampf: Das Wissen, das nun die Hauptproduktivkraft ist, kann (teilweise, denn selbstverständlich ist nichts völlig neu) heute auf andere Art und Weise als im Industriekapitalismus nicht völlig von seiner ProduzentIn gelöst und auf die Unternehmen übertragen werden. Der Wissenstransfer und der Diebstahl intellektuellen Eigentums stellen die Unternehmen vor große Probleme.[14] Einige TheoretikerInnen behaupten sogar, dass gegenwärtig die menschlichen Wesen selbst zum fixen Kapital werden. Wir werden unsere Analyse darauf beschränken festzustellen, dass die Kristallisierung und Objektivierung des Wissens im System der Maschinen nicht überflüssig wird, sondern dass sich dies vielmehr auf besondere und neue Art und Weise zeigt: Die tote Arbeit/das tote Wissen braucht immer mehr und immer schneller lebendige Arbeit und genau in diesem Prozess kann beständig ein Mehr an lebendigem sozialem Wissen fliehen. Es ist eben dieses Mehr an lebendigem Wissen, das die neue Zeitlichkeit des kognitiven Kapitalismus bestimmt (wie wir weiter oben bereits betont haben). Auf der Grundlage dieser neuen Beziehung zwischen fixem und variablem Kapital verwandelt sich die gegenwärtige Verwendung von Technologie in ein Kampffeld, auf dem das Einfangen lebendiger in tote transformierte Arbeit bekämpft wird und auf dem eine oppositionelle Wiederaneignung der Wissensproduktion stattfinden kann.

 
Fluchtlinien und Organisation gemeinsamer Institutionen

Basierend auf diesem Gegensatz werden die Kämpfe in der metropolitanen Universität zu Konflikten in der Wissensproduktion: zwischen Autonomie und Unterordnung, zwischen der Auferlegung einer kapitalistischen Zeit und der Behauptung subjektiver Zeiten in der Wissensproduktion. Die Selbstbildungsunternehmungen und die Konstruktion experimenteller, autonomer und „nomadischer“ Universitäten, die sich in Italien[15] und auch auf einer transnationalen Ebene[16] seit einigen Jahren ausweiten, sind nicht einfach nur eine Möglichkeit, um antagonistische Botschaften zu verbreiten; sie sind vielmehr eine Fluchtlinie und eine Form des Exodus aus der Krise der Akademie in ihren staatlichen und unternehmerischen Formen. Diese Erfahrungen sind ein Versuch, jetzt und nicht in einer fernen Zukunft eine Gegenuniversität zu organisieren. Die Selbstbildungslehrgänge richten sich zuallererst auf die neuen Zeitkoordinaten im kognitiven Kapitalismus. Die Ausdehnung des unternehmerischen Modells an der Universität, die Reformprozesse der letzten Jahre in Europa und die wichtige Rolle der Kreditsysteme stellen eigentlich – um es in den Worten Walter Benjamins zu formulieren – Versuche dar, der subjektiven und heterogenen Zeit sozialer Kooperation, der Autonomie der lebendigen Arbeit künstlich eine homogene und leere Zeitlichkeit aufzuerlegen.[17] Um die Worte von Karl Marx zu verwenden, würden wir sagen, dass es sich hierbei um den Versuch handelt, das lebendige Wissen auf totes Wissen zu reduzieren, die Zeitformen des lebendigen auf die abstrakte Zeit der Arbeit zu reduzieren.[18] Die Organisationsformen eines Gegenwissens, die auf diesem Schlachtfeld situiert sind, sind Versuche, sich selbst wieder eine autonome Zeit für die Produktion und die Lebensformen anzueignen, und neue Gemeingüter (commons) gegen die neuen kapitalistischen Einschließungen zu produzieren. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist das Wissen nur insofern gemeinschaftlich als es ein Produkt sozialer Kooperation ist und nicht im Sinne eines in der Natur vorkommenden Gutes existiert – dies ist tatsächlich ein springender Punkt, der in den Bewegungsdiskussionen des vergangenen Jahres manchmal Verwirrung stiftete.

Chandra T. Mohanty weist darauf hin, dass die Formen des Gegenwissens ständig zwischen radikalen Veränderungen und Risiken der Kooptierung gefangen sind.[19] Im Besonderen sind Institutionalisierung und das Einfangen von Gegenwissen dem Modell der Governance inhärent, das sich in den Unternehmensuniversitäten vollständig entwickelt hat (und sich in Italien außerdem mit feudalen Regierungsformen vermengt). Dieses Modell lässt ein bestimmtes Ausmaß selbstverwalteten Wissens zu, das jedoch von den Kämpfen getrennt wird und sich daher mit der Beibehaltung der Marktlogik, dem Profitmotiv und den Maßeinheiten des Marktes verträgt. Es handelt sich um eine Form differentieller Inklusion alternativer, ihrer Autonomie beraubter Erfahrungen. Aus diesem Blickwinkel gesehen, ist die Governance eine Antwort auf die studentischen und „prekären“ Bewegungen, ein Versuch, sie auf Stakeholders zu reduzieren.[20] Wir fordern daher die Anerkennung unserer Selbstbildungsseminare im Unikreditsystem, mit dem Ziel dieses derart auszuweiten, dass die Auferlegung eines kognitiven Produktionsmaßes außer Kraft gesetzt wird. Diese Produktion von Gegenwissen beinhaltet jedoch auch die Verweigerung des institutionellen Wissenstransfers; so betrachtet ist jenes im klassischen Wohlfahrtssystem verhandelte Recht zu studieren vergleichbar mit dem Recht auf Arbeit: Tatsächlich gibt es ohne Kämpfe weder ein Gegenwissen noch eine Produktion von Gemeingütern.

Schließlich bleibt noch die Kategorie des Gemeinsamen zu klären. Sie ist völlig verschieden und inkompatibel mit der traditionellen Kategorie des Universalismus, da ihre Grundlagen Partialität, Singularität sowie Vielfalt sind und nicht auf eine Homogenität reduziert werden können. Dies verdrängt sowohl den liberalen Kult des Individualismus wie auch den sozialistischen Mythos des Kollektiven. So gesehen, wird die Übersetzung zu einem grundlegenden Kampffeld. John Solomon und Naoki Sakai formulieren dies folgendermaßen: „Aus dieser Perspektive wird das moderne Übersetzungsregime zu einer konkreten Form ‚systemischer Komplizität’, deren primäre Funktion die Verwaltung der Bevölkerung seitens imperialer Herrschaft ist. In anderen Worten: Es handelt sich um eine global anwendbare Technik der Segmentierung, die darauf abzielt, soziale Beziehungen zu kontrollieren, indem diese dazu gezwungen werden, die Kreisläufe auf der ‚systemischen Ebene’ zu durchlaufen“.[21] Der Begriff des Gemeinsamen nimmt also die Differenzierung von Räumen, Zeiten und Subjektivitäten im transnationalen Raum an und erschließt die Frage der Übersetzung als zentrale Frage in der Kommunikation der Kämpfe sowie in der Verbindung unterschiedlicher Befreiungsmöglichkeiten.

Derart bedeuten Konflikte in der Wohlfahrtskrise nicht die Rückkehr zum System des Wohlfahrtsstaates oder zur Massenuniversität, wie dies von linken Parteien und Gewerkschaften argumentiert wird. Das Problem ist vielmehr, eine neue System von Gemeinsamkeit (commonfare) herzustellen, das zentrale Fragen wie das bedingungslose Grundeinkommen, die Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit, die Ausbreitung autonomer Räume und selbstverwalteter Flexibilität des lebendigen Wissens/der lebendigen Arbeit umfasst. Unter den Ruinen der Universität sind großartige Möglichkeiten zu finden, wenn wir versuchen, die Krise nicht zu heilen, sondern vielmehr zu vertiefen. In anderen Worten, wir haben die Marginalität verlassen, um uns das Geld und die andere Finanzierungsmittel wieder anzueignen und damit Selbstbildungserfahrungen sowie autonome und nomadische Universitäten als neue gemeinsame Institutionen zu organisieren. Dies ist die Linie des Exodus. Und Exodus bedeutet Flucht und kognitiven Arbeitskampf.



[1] Zum diesem Gesetz über den „Vertrag zur Ersteinstellung“ in Frankreich und die darauf folgenden Proteste im Jahr 2006 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Contrat_premi%C3%A8re_embauche sowie die Texte von Brian Holmes, Franco Berardi (Bifo) and Maribel Casas-Cortés and Sebastian Cobarubbias auf transform.eipcp.net/correspondence (Anm.d.Übers.)

[2] Zum Prozess der Schaffung eines Europäischen Hochschulraums ausgehend von der Erklärung von Bologna, die im Jahr 1999 von den ErziehungsministerInnen der EU unterzeichnet wurde, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bologna-Prozess (Anm.d.Übers.).

[3] Carlo Vercellone (ed.), Capitalismo cognitivo. Conoscenza e finanza nell’epoca postfordista, Manifestolibri, Roma, 2006.

[4] Der Begriff des knowledge workers wurde 1959 von Peter Drucker geprägt und bezeichnet jene ArbeiterInnen, deren Arbeitsmaterie vor allem das Hantieren mit Information oder Kenntnissen ist (vgl. hierzu in englischer Sprache: http://en.wikipedia.org/wiki/Knowledge_workers) (Anm.d.Übers.).

[5] Richard Florida, The Rise of the Creative Class … and How it’s Transforming Work, Leisure, Community, & Everyday Life, Basic Books, New York, 2002.

[6] Steve Wright, Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus, Berlin/Hamburg: Assoziation A, 2005.

[7] Vgl. hierzu die Website der Koordination der Intermittents et Précaires d’Ille de France (http://www.cip-idf.org) sowie der Text von Antonella Corsani, Wissensproduktion und neue politische Aktionsformen (http://transform.eipcp.net/transversal/0406/corsani/de) sowie eine Reihe von Texten, die im Rahmen von republicart, transform und translate publiziert wurden (http://eipcp.net/transversal) (Anm.d.Übers.).

[8] Christian Marazzi, “Capitalismo digitale e modello antropogenetico di produzione”, in: Chicchi, Laville, La Rosa  und Marazzi (Hg.), Reinventare il lavoro, Sapere, Roma, 2000.

[9] Aihwa Ong, “Please Stay: Pied-a-Terre Subjects in the Megacity”, in: Citizenship Studies, vol. 11, nº 1, 2007.

[10] Aihwa Ong, Neoliberalism as Exception. Mutations in Citizenship and Sovereignty, Duke University Press, Durham y Londres, 2006.

[11] Im finanzökonomischen Vokabular verweist equity auf eine Finanzierung vornehmlich durch privates Beteiligungskapital. Nicht finanzökonomisch verwendet, hat der Begriff equity die Bedeutung von Gleichheit, Gerechtigkeit – im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit – und Fairness. Aufgrund dieser Bedeutungsvielfalt kann der Begriff die Scharnierfunktion übernehmen, finanzökonomisches  Denken in den Universitätsdiskurs einzuführen (Anm.d.Übers.).

[12] Luc Boltanski und Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK, 2. Auflage 2006.

[13] McKenzie Wark, Das Hacker-Manifest, München: Beck Verlag, 2005.

[14] Andrew Ross, Fast Boat to China. Corporate Flight and the Consequences of Free Trade: Lessons from Shangai, New York: Pantheon Books, 2006.

[17] Walter Benjamin, „Geschichtsphilosophische Thesen“ in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1965.

[18] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, Berlin: Karl Dietz Verlag, 2. Auflage 2005.

[19] Chandra T. Mohanty, “On Race and Voice: Challenges for Liberal Education in the 1990s”, in: Cultural Critique, nº 14, 1990.

[20] Beim Konzept der Stakeholder handelt es sich um eine Erweiterung des Shareholder-Ansatzes in Richtung aller am Unternehmen beteiligten Personen. Zwar berücksichtigt die Unternehmensleitung die Interessen der Stakeholder – um sie bei Laune zu halten –, von den Entscheidungen hinsichtlich Unternehmensentwicklung und zukünftiger Investitionen bleiben sie jedoch ausgeschlossen (Anm.d.Übers.).

[21] Naomi Sakai y Jon Solomon, Translation, biopolitics, colonial difference. Vgl. hierzu in englischer Sprache: http://www.edu-factory.org/index.php?option=com_content&task=view&id=45&Itemid=33.