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05 2001

Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend

Judith Butler

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Brenner

Was bedeutet es, Kritik zu üben? Ich würde behaupten, dass die meisten von uns dies in einem ganz gewöhnlichen Sinne verstehen. Die Irritation wächst jedoch, wenn wir zwischen einer Kritik an dieser oder jener Position und einer allgemeineren Kritik zu unterscheiden suchen, die ohne Bezug auf ein bestimmtes Objekt beschrieben werden kann. Können wir auch nur die Frage nach einem allgemeinen Charakter der Kritik stellen, ohne uns auf ein wie auch immer geartetes Wesen der Kritik zu beziehen? Und wenn wir so etwas wie das allgemeine Bild einer Philosophie der Kritik zu Stande bringen, würden wir dann nicht gerade die Unterscheidung zwischen Philosophie und Kritik einbüßen, die als Teil der Bestimmung von Kritik selbst fungiert? Kritik ist immer die Kritik einer institutionalisierten Praxis, eines Diskurses, einer Episteme, einer Institution, und sie verliert ihren Charakter in dem Augenblick, in dem von dieser Tätigkeit abgesehen wird und sie nur noch als rein verallgemeinerbare Praxis dasteht. Wenn dem jedoch so ist, heißt das nicht, dass keine Verallgemeinerungen möglich sind oder dass wir tatsächlich in Partikularismen stecken bleiben. Ganz im Gegenteil bewegen wir uns hier auf einem Gebiet beschränkter Allgemeinheit, welches die Frage des Philosophischen berührt, jedoch um kritisch zu bleiben, Abstand von ihm zu halten hat.

Der vorliegende Essay befasst sich mit Foucault, aber lassen Sie mich zu Beginn auf eine interessante Parallele zwischen dem hinweisen, was Raymond Williams und Adorno in unterschiedlicher Weise unter dem Titel "Kritik" [criticism] zu verwirklichen suchten, und dem, was Foucault unter "Kritik" [critique] zu verstehen suchte. Etwas von Foucaults eigenem Beitrag und seiner Nähe zur progressiven politischen Philosophie wird im Laufe dieses Vergleiches deutlich werden.

Raymond Williams hegte die Befürchtung, dass der Begriff der Kritik zu Unrecht auf den Begriff der "Krittelei"1 eingeschränkt wurde, und schlug vor, eine Sprache für unsere Aufnahme insbesondere kultureller Werke zu suchen, "die nicht die Gewohnheit (oder das Recht oder die Pflicht) zu Urteilen annehmen". Er schlug eine spezifischere Art der Reaktion auf kulturelle Werte vor, die nicht vorschnell verallgemeinert: "Was immer verstanden werden muß", schreibt er, "ist die Besonderheit derjenigen Erwiderung, die kein Urteil, sondern eine Praxis ist." (76) Ich glaube, diese Bemerkung kennzeichnet auch die Bahn von Foucaults Denken in diesem Zusammenhang, da "Kritik" für ihn nicht nur eine Praxis ist, die das Urteil aussetzt, sondern eine neue Praxis von Werten auf Grund genau dieser Suspension eröffnet.

Für Williams ist die Praxis der Kritik also nicht auf Urteile (und ihre Äußerung) zu reduzieren. Bezeichnenderweise behauptet Adorno etwas ganz Ähnliches, wenn er von der "Gefahr" spricht, "subsumierend, sachfremd und administrativ über geistige Gebilde zu befinden und sie blank in jene geltenden Machtkonstellation einzugliedern, die zu durchschauen dem Geist obläge".2 Die Aufgabe, diese "Machtkonstellationen" zu entlarven, wird also durch das übereilte Urteil als exemplarischem kritischem Akt durchkreuzt. Für Adorno trennt gerade dieses urteilende Verfahren den Kritiker von der gegebenen sozialen Welt, ein Schritt, der die Ergebnisse dieses urteilenden Verfahrens entwertet und eine "Enthaltung von der Praxis" bedeutet. Adorno schreibt vom Kritiker: "Gerade seine Souveränität, der Anspruch tieferen Wissens dem Objekt gegenüber, die Trennung des Begriffs von seiner Sache durch die Unabhängigkeit des Urteils, droht der dinghaften Gestalt der Sache zu verfallen, indem Kulturkritik auf eine Kollektion gleichsam ausgestellter Ideen sich beruft und isolierte Kategorien [...] fetischisiert."3 Damit Kritik Teil der Praxis sein kann, muss sie für Adorno begreifen, wie Kategorien ihrerseits ins Spiel kommen, wie das Feld des Wissens geordnet ist und wie das, was die Kategorien unterdrücken, gleichsam als deren eigene konstitutive Okklusion wiederkehrt. Urteile fungieren für beide Denker als Art und Weise, ein Besonderes unter eine bereits konstituierte Kategorie zu subsumieren, während Kritik nach der verschließenden Konstitution des Feldes der Kategorien selbst fragt. Für Foucault wird es besonders wichtig werden, das Problem der Freiheit und in der Tat die Ethik im Allgemeinen jenseits des Urteils zu denken: Kritisches Denken stellt einen solchen Versuch dar.

1978 hielt Foucault eine Vortrag unter dem Titel Was ist Kritik?4, eine Arbeit, die den Weg für seinen bekannteren Essay Was ist Aufklärung? (1984) bereitete. Er fragt nicht nur, was Kritik ist, sondern versucht die Art von Fragen zu verstehen, die die Kritik einführt, und versuchsweise ihre Tätigkeit zu umreißen. Die Frageform, in der der Sachverhalt behandelt wird, ist vielleicht das Wichtigste, was von diesem Vortrag und dem folgenden, weiter entwickelten Essay bleibt. Denn genau die Frage "Was ist Kritik?" ist ein Beispiel dieses kritischen Unternehmens, und also stellt die Frage nicht nur das Problem - was ist diese Kritik, die wir durchführen oder anstreben? -, sondern sie inszeniert auch eine gewisse Art des Fragens, die sich als zentral für den Vollzug der Kritik selbst erweisen wird.

In der Tat halte ich dafür, dass Foucault mit dieser Frage etwas ganz anderes im Auge hat als das, was wir gewöhnlich unter Kritik verstehen. Habermas machte die Tätigkeit der Kritik ziemlich problematisch, als er die Meinung vertrat, dass ein Schritt über die Kritische Theorie hinaus erforderlich sei, wenn wir zum Fällen evaluativer Urteile über gesellschaftliche Bedingungen und Ziele auf Normen sollen zurückgreifen können. Die Perspektive der Kritik kann in seinen Augen Grundlagen infrage stellen, soziale und politische Hierarchien denaturalisieren und selbst Perspektiven einführen, mit denen eine gewisse Distanz zur selbstverständlich gewordenen Welt erreichbar ist. Aber keine dieser Handlungen kann uns zeigen, in welche Richtung wir zu gehen haben, noch können sie uns verdeutlichen, ob diese unsere Handlungen gewisse Arten normativ gerechtfertigter Ziele verwirklichen. Folglich hat Kritische Theorie in seiner Sicht einer stärker normativen Theorie wie der des kommunikativen Handelns zu weichen, um der kritischen Theorie allererst eine Grundlage zu geben, die starke normative Urteile ermöglicht5; dies hat auch den Sinn, der Politik eine Grundlage mit klarem Ziel und normativen Ansprüchen zu verschaffen, und uns zu befähigen, gegebene Praktiken daraufhin einzuschätzen, ob sie zu diesen Zielen beitragen können. In dieser Art von Kritik der Kritik wird Habermas merkwürdig unkritisch gegenüber dem Sinn von Normativität, den er selbst entwickelte. Denn die Frage, was wir zu tun haben, setzt voraus, dass das "Wir" geformt wurde, und sie setzt weiter voraus, dass feststeht, dass die Handlung dieses "Wir" möglich ist und dass das Feld, in dem das "Wir" zu handeln vermag, eingegrenzt ist. Sollten alle diese Formationen und Abgrenzungen normative Konsequenzen haben, muss nach den Werten gefragt werden, die die Handlung vorbereiten, und das wird eine wichtige Dimension für eine jede kritische Untersuchung normativer Fragen sein.

Obgleich die Habermasianer eine Lösung diese Problems haben mögen, will ich auf diese Debatten hier nicht noch einmal eingehen. Vielmehr möchte ich den Abstand verdeutlichen zwischen einem Begriff von Kritik, der in gewisser Weise normativ unterbestimmt ist, und einem anderen Begriff, den ich anbieten möchte und der nicht nur komplexer ist, als es die gewöhnliche Kritik [criticism] annimmt, sondern der meines Erachtens starke normative Verpflichtungen in Formen mit sich führt, die sich in der gebräuchlichen Grammatik der Normativität nur schwer oder gar nicht entziffern lassen. Ich hoffe in der Tat, in diesem Essay zu zeigen, dass Foucault nicht nur einen wichtigen Beitrag zur normativen Theorie leistet, sondern dass sowohl seine Ästhetik als auch seine Begründung des Subjekts in integraler Weise mit seiner Ethik wie auch mit seiner Politik verbunden sind. Während manche ihn als Ästheten oder gar als Nihilisten abtaten, hoffe ich zeigen zu können, dass seine Beschäftigung mit der Frage der Herausbildung des Selbst und damit auch seine Beschäftigung mit der poiesis selbst zentral für die von ihm vorgeschlagene Politik der Entunterwerfung [desubjugation] ist. Paradoxerweise ereignen sich die Herausbildung des Selbst und die Entunterwerfung gleichzeitig, sobald eine Existenzweise gewagt wird, die nicht von der Herrschaft der Wahrheit, wie er sagt, gestützt wird.

Foucault beginnt seine Diskussion mit der Bekräftigung, dass es verschiedene Grammatiken des Begriffs "Kritik" gibt, und er unterscheidet ein gleichfalls als Kritik bezeichnetes "ausgesprochen kantianisches Unternehmen" von den "kleinen polemischen Auseinandersetzungen, die Kritik genannt werden". Folglich warnt er von vornherein, dass Kritik nichts Einheitliches ist und dass wir sie nicht unabhängig von den verschiedenen Gegenständen definieren können, durch die sie ihrerseits definiert ist. Durch ihre Funktion scheint Kritik, so Foucault, zu Zerstreuung, Abhängigkeit und reiner Heteronomie verdammt. Sie existiert nur in Beziehung auf etwas anderes als sie selbst.

Daher sucht Foucault Kritik zu definieren, er stellt jedoch fest, dass nur eine Reihe von Annäherungen möglich ist. Kritik hängt von ihren Gegenständen ab, die ihrerseits jedoch die genau Bedeutung von Kritik definieren. Zudem besteht die Hauptaufgabe der Kritik nicht darin zu bewerten, ob ihre Gegenstände - gesellschaftliche Bedingungen, Praktiken, Wissensformen, Macht und Diskurs - gut oder schlecht, hoch oder niedrig geschätzt sind; vielmehr soll die Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten. Welches Verhältnis besteht zwischen Wissen und Macht, sodass sich unsere epistemologischen Gewissheiten als Unterstützung einer Strukturierungsweise der Welt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens verwirft. Natürlich mögen wir annehmen, dass wir epistemologische Gewissheit brauchen, um sicher sagen zu können, dass die Welt in bestimmter Weise geordnet ist und geordnet sein sollte. Inwieweit jedoch ist diese Gewissheit von Formen des Wissens begleitet, eben um die Möglichkeit eines anderen Denkens auszuschließen? Nun mag man vernünftigerweise fragen: Wofür soll ein anderes Denken gut sein, wenn wir nicht im Voraus wissen, dass dieses andere Denken eine bessere Welt hervorbringt, wenn wir keinen moralischen Rahmen haben, in welchem mit Gewissheit zu entscheiden ist, ob bestimmte neue Möglichkeiten oder Weisen anderen Denkens jene Welt hervorbringen, deren Verbesserung wir mit sicheren und schon etablierten Standards beurteilen können? Dies wird Foucault und seinen Anhängern inzwischen oft entgegengehalten. Und sollen wir annehmen, dass die stillschweigende Hinnahme dieser Foucault-Kritik ein Zeichen dafür ist, dass seine Theorie keine beruhigenden Antworten zu geben vermag? Ich denke, wir können davon ausgehen, dass die angebotenen Antworten nicht vorrangig auf Beruhigung zielen. Dies soll natürlich nicht heißen, dass das, was beunruhigt, per definitionem keine Antwort sei. Die einzige Erwiderung scheint mir in der Tat darin zu bestehen, zu einer fundamentaleren Bedeutung von "Kritik" zurückzukehren, um zu sehen, was mit der so gestellten Frage nicht in Ordnung sein könnte, und so die Frage erneut zu stellen, um eine produktivere Annäherung an den Stellenwert der Ethik in der Politik zu umreißen. Man mag in der Tat fragen, ob das, was ich hier mit "produktiv" meine, sich an Normen und Maßstäben messen lässt, die ich aufzudecken bereit bin, oder die ich selbst im Moment, da ich diesen Anspruch stelle, voll erfasse. Hier möchte ich Sie jedoch um Geduld bitten, da sich zeigt, dass Kritik eine Praxis ist, die eine gewisse Geduld fordert, wie das Lesen nach Nietzsche von uns verlangt, ein wenig mehr wie Kühe als wie Menschen zu handeln und die Kunst des langsamen Wiederkäuens zu erlernen.

Foucaults Beitrag zu dem, was als eine Sackgasse innerhalb kritischer und post-kritischer Theorie unserer Zeit erscheint, besteht genau in der Aufforderung, Kritik als Praxis zu überdenken, in der wir die Frage nach den Grenzen unserer sichersten Denkweisen stellen, was Williams als unsere "unkritischen Gewohnheiten des Geistes" bezeichnet und was Adorno als Ideologie beschreibt (wohingegen der "nichtideologische Gedanke" sich nicht auf "operationale Bezeichnungen" reduzieren lasse und stattdessen ausschließlich danach strebe, den Dingen selbst zu jener Artikulation zu verhelfen, von der sie sonst durch die vorherrschende Sprache abgeschnitten sind). Man geht nicht für eine erregende Erfahrung an die Grenzen, oder weil Grenzen gefährlich und sexy sind, oder weil uns das in prickelnde Nähe zum Bösen bringt. Man fragt nach den Grenzen von Erkenntnisweisen, weil man bereits innerhalb des epistemologischen Feldes in eine Krise des epistemologischen Feldes geraten ist, in dem man lebt. Die Kategorien, mit denen das soziale Leben geregelt ist, bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor. Und von dieser Bedingung, vom Riss im Gewebe unseres epistemologischen Netzes her, entsteht die Praxis der Kritik mit dem Bewusstsein, dass hier kein Diskurs angemessen ist oder dass unsere Diskurse in eine Sackgasse geführt haben. In der Tat kann genau jene Debatte, in welcher die starke normative Sicht sich mit Kritischer Theorie anlegt, eben diese Form von diskursivem Stillstand produzieren, aus welcher die Notwendigkeit und Dringlichkeit von Kritik entsteht.

Für Foucault ist Kritik "ein Mittel für eine Zukunft oder eine Wahrheit, die sie nicht wissen noch sein will, sie überblickt ein Gebiet, das sie nicht überwachen will und nicht reglementieren kann". So wird Kritik diejenige Perspektive auf etablierte und geregelte Erkenntnisweisen sein, die nicht unmittelbar diesen regelnden Funktionen assimiliert ist. Bezeichnenderweise ist für Foucault diese Enthüllung der Grenzen des epistemologischen Feldes mit der Praxis der Tugend verbunden, als ob die Tugend der Reglementierung und der Ordnung entgegensteht, als ob die Tugend selbst sich darin findet, die etablierte Ordnung aufs Spiel zu setzen. Foucault äußert sich über dieses Verhältnis ganz unzweideutig. Er schreibt, "daß etwas an der Kritik der Tugend verwandt ist". Und dann sagt er etwas vielleicht noch Überraschenderes: "Diese kritische Haltung ist Tugend im Allgemeinen".

Es gibt einige vorbereitende Schritte für das Verständnis von Foucaults Versuch, Kritik als Tugend darzustellen. Tugend wird meist entweder als Eigenschaft oder als Praxis eines Subjekts verstanden oder auch als Qualität, die gewisse Arten von Handlungen oder Praxis bedingt und kennzeichnet. Sie gehört einer Ethik an, die sich nicht im bloßen Befolgen objektiv formulierter Regeln oder Gesetze erfüllt. Und Tugend ist nicht nur eine Art und Weise, vorgegebenen Normen zu entsprechen oder sich ihnen anzupassen. Sie ist, radikaler, eine kritische Beziehung zu diesen Normen, die für Foucault als eine besondere Stilisierung von Moralität Gestalt annimmt.

Foucault gibt uns in der Einleitung des zweiten Bandes von Sexualität und Wahrheit: Der Gebrauch der Lüste6 einen Hinweis darauf, was er unter Tugend versteht. An dieser Stelle macht er klar, dass er versucht, einen Schritt über den Begriff der ethischen Philosophie hinaus zu tun, die eine Reihe von Vorschriften erlässt. So wie sich die Kritik mit Philosophie kreuzt, ohne wirklich mit ihr zusammenzufallen, versucht Foucault in dieser Einführung, sein eigenes Denken zum Beispiel einer nicht-präskriptiven Form moralischer Erkundung zu machen. In gleicher Weise wird er später nach Formen moralischer Erfahrung fragen, die nicht durch ein juristisches Gesetz, eine Regel oder einen Befehl rigide definiert sind, unter welche dieses Selbst mechanisch oder gleichförmig zu unterwerfen wäre. Von dem Text, den er schreibt, sagt er uns, dass er selbst ein Beispiel der Praxis sei, "zu erkunden, was in seinem eigenen Denken verändert werden kann, indem er sich in einem ihm fremden Wissen versucht" (16). Moralische Erfahrung hat mit einer Selbst-Transformation zu tun, veranlasst durch eine Form des Wissens, die einem fremd ist. Und diese Form moralischer Erfahrung unterscheidet sich von der Unterwerfung unter einen Befehl. Tatsächlich glaubt Foucault, soweit er hier und anderswo die moralische Erfahrung befragt, eine Untersuchung von moralischen Erfahrungen durchzuführen, die nicht in erster Linie oder grundsätzlich durch Untersagung und Verbot strukturiert sind.

Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit7 versuchte er zu zeigen, dass die ursprünglichen Untersagungen, die von der Psychoanalyse und den Strukturalisten zur Begründung kultureller Verbote angenommen wurden, nicht als historische Konstante aufzufassen sind. Überdies kann die moralische Erfahrung, historiographisch betrachtet, nicht durch Rückgriff auf eine vorherrschende Reihe von Verboten innerhalb einer gegebenen historischen Zeit verstanden werden. Obgleich Regeln zu untersuchen sind, müssen diese immer in Beziehung auf die ihnen entsprechenden Verfahrensweisen der Unterwerfung/Subjektwerdung [subjectivation] untersucht werden. Er behauptet, dass die Verrechtlichung des Gesetzes im 13. Jahrhundert eine gewisse Dominanz erreichte, dass man aber in der klassischen Kultur der Griechen und Römer Praktiken oder "Existenzkünste" (18) findet, die mit einer kultivierten Beziehung des Selbst zu sich selbst zu tun haben.

Mit der Einführung des Begriffs "Existenzkünste" führt Foucault auch wieder "vorsätzliche und gewollte Praktiken" ein und hebt sie hervor, insbesondere "jene Praktiken, mit denen Menschen nicht nur Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber in ihrem besonderen Sein zu transformieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen [...]" (18). Dieses Leben befolgt nicht einfach in der Weise moralische Vorschriften oder Normen, dass ein als schon geformt, als vorgefertigt betrachtetes Selbst sich in eine von der Regel vorgegebene Form einpasst. Vielmehr gestaltet sich das Selbst nach der Norm, bewohnt und verkörpert sie, aber die Norm ist in diesem Sinne dem Prinzip der Selbstgestaltung nicht äußerlich. Foucault geht es nicht um Verhaltensweisen oder Ideen, Gesellschaften oder "Ideologien", sondern um "die Problematisierungen, in denen das Sein sich gibt als eines, das gedacht werden kann und muß, sowie die Praktiken, von denen aus sie sich bilden" (19).

Dieser Anspruch ist schwer zu durchschauen, aber er legt nahe, dass gewisse Verhaltensweisen für den Umgang mit bestimmten Problemen im Lauf der Zeit als ihre Folge eine feste Ontologie hervorbringen, und dieser ontologische Bereich beschränkt seinerseits unser Verständnis dessen, was möglich ist. Nur in Bezug auf diesen vorherrschenden ontologischen Horizont, der selbst durch eine Reihe von Praktiken instituiert wurde, können wir die Beziehungsarten zu schon ausgebildeten und erst noch auszubildenden moralischen Vorschriften verstehen. Foucault befasst sich beispielsweise ausführlich mit verschiedenen Praktiken der Enthaltsamkeit, und er verbindet sie mit der Produktion einer bestimmten Art von maskulinem Subjekt. Die Praktiken der Enthaltsamkeit bezeugen nicht bloß ein einziges und beständiges Verbot, sondern dienen der Gestaltung einer ganz bestimmten Art von Selbst. Genauer gesagt, erzeugt das Selbst, das die Verhaltensregeln verkörpert, die die Tugend der Enthaltsamkeit repräsentieren, sich selbst als eine ganz spezifische Art von Subjekt. Diese Selbst-Erzeugung ist "die Erarbeitung und Stilisierung einer Aktivität in der Äußerung ihrer Macht und der Ausübung ihrer Freiheit" (34). Dies war keine Praxis, die sich der Lust per se entgegensetzte, sondern eine bestimmte Praxis der Lust selbst, eine Praxis der Lust im Kontext der moralischen Erfahrung.

So macht Foucault im dritten Teil derselben Einführung klar, dass es mit einer chronologischen Geschichte der moralischen Codes nicht getan ist, denn eine solche Geschichte kann uns nicht sagen, wie diese Codes gelebt wurden, und insbesondere kann sie uns nicht sagen, welche Formen der Subjektbildung diese Codes verlangten und förderten. An dieser Stelle hört er sich wie ein Phänomenologe an. Aber wir finden hier über den Rekurs auf die Erfahrungsmittel zur Erfassung moralischer Kategorien hinaus auch eine kritische Bewegung, da die subjektiven Beziehungen zu diesen Normen weder berechenbar noch mechanisch sind. Die Beziehung ist "kritisch" in dem Sinn, dass sie keiner gegebenen Kategorie folgt, sondern vielmehr eine fragende Beziehung zum Feld der Kategorisierung selbst konstituiert und sich dabei zumindest implizit auf die Grenze des epistemologischen Horizontes bezieht, innerhalb dessen Praktiken geformt werden. Es geht nicht darum, Praxis auf einen vorgegebenen epistemologischen Kontext zu beziehen, sondern aus der Kritik genau jene Praxis zu machen, die die Grenzen dieses epistemologischen Horizontes selbst zu Tage bringt und gleichsam dessen Umrisse zum ersten Mal, wie wir sagen könnten, in Beziehung zu seiner eigenen Grenze erscheinen lässt.

Überdies stellt sich heraus, dass die fragliche kritische Praxis eine Selbst-Transformation in Beziehung auf die Verhaltensregeln zur Folge hat. Wie also führt die Selbst-Transformation zur Aufdeckung dieser Grenze? Wie wird Selbst-Transformation als eine "Praxis der Freiheit" verstanden, und wie ist diese Praxis als Teil von Foucaults Wortschatz der Tugend zu verstehen?

Versuchen wir zunächst, den hier in Frage stehenden Begriff der Selbst-Transformation zu verstehen, und überlegen wir dann, wie er sich zu dem "Kritik" genannten Problem verhält, das im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht. Selbstverständlich ist es eines, sich in Beziehung zu einem Verhaltenskodex zu verhalten, und etwas anderes ist es, sich selbst als ethisches Subjekt in Bezug auf einen Verhaltenskodex herauszubilden (und ist es noch einmal etwas anderes, sich selbst als das zu formen, was die Regelhaftigkeit des Kodex selbst gefährdet). Die Keuschheitsregeln liefern Foucault ein wichtiges Beispiel. So ist es etwas anderes, auf der einen Seite nicht nach Begierden zu handeln, die eine Regel, an die man moralisch gebunden ist, verletzen würden, und auf der anderen gleichsam eine Praxis des Begehrens zu entwickeln, die von einem gewissen ethischen Projekt oder einer Aufgabe angeleitet ist. Das Modell, nach dem die Unterwerfung unter eine Regel des Gesetzes verlangt wird, würde uns von bestimmten Handlungsweisen abhalten, indem es ein wirksames Verbot gegen das Ausagieren gewisser Begierden erlässt. In dem Modell jedoch, das Foucault zu verstehen und in der Tat zu verkörpern und zu veranschaulichen sucht, werden moralische Vorschriften in die Ausbildung einer Handlungsweise selbst aufgenommen. Foucault scheint es hier darum zu gehen, dass Entsagung und Verbot nicht notwendigerweise zu einer passiven oder nicht-aktiven Ethik zwingen, sondern vielmehr eine ethische Verhaltensweise und eine Art der Stilisierung der Handlung und der Lust ausbilden.

Ich glaube, dass Foucaults Abgrenzung einer Ethik auf der Grundlage von Befehlen von derjenigen ethischen Praxis, die vorrangig mit der Herausbildung des Selbst befasst ist, auf bedeutende Weise den Unterschied zwischen Gehorsam und Tugend erhellt, den er in seinem Essay Was ist Kritik? darlegt. Foucault stellt dieses noch zu definierende Verständnis von "Tugend" dem Gehorsam gegenüber, indem er zeigt, wie die Möglichkeit dieser Form von Tugend in ihrer Abgrenzung zu einer unkritischen Unterwerfung unter die Autorität entsteht.

Der Widerstand gegen die Autorität ist für Foucault natürlich das Kennzeichen der Aufklärung. Und er schlägt uns eine Lesart der Aufklärung vor, die nicht nur seinen eigenen Anschluss an deren Ziele vollzieht, sondern auch seine eigenen Dilemmata als schon in der Geschichte der Aufklärung selbst angelegt erkennbar macht. Er bietet uns eine Darstellung, die kein Denker der "Aufklärung" akzeptieren würde, aber dieser Widerstand würde seine Charakterisierung der Aufklärung nicht entwerten, denn in dieser Charakterisierung der Aufklärung sucht Foucault eben das, was in deren eigenen Begriffen "ungedacht" bleibt, und deshalb ist seine Geschichtsschreibung eine kritische. Seiner Ansicht nach beginnt Kritik mit der Infragestellung der Forderung nach absolutem Gehorsam und mit der rationalen und reflektierenden Bewertung aller Pflichten, die den Subjekten von Staats wegen auferlegt werden. Obgleich Foucault dieser Wende zur Vernunft nicht folgt, fragt er nach den Kriterien für mögliche Vernunftgründe des Gehorsams. Sein besonderes Interesse gilt dabei dem Problem, wie dieses abgegrenzte Feld das Subjekt formt und wie ein Subjekt umgekehrt dazu kommt, diese Gründe aus- und umzubilden. Dieses Vermögen, Gründe zu formulieren, steht in einem wesentlichen Zusammenhang mit der schon erwähnten selbst-transformativen Beziehung. Um gegenüber einer als absolut auftretenden Autorität kritisch zu sein, bedarf es einer kritischen Praxis, die durch und durch selbst-transformativ ist.

Wie gelangen wir jedoch vom Verständnis unserer möglichen Gründe für die Befolgung einer Anweisung zur eigenen Formulierung dieser Gründe, zur Transformation unserer selbst im Zuge ihrer Formulierung (und schließlich sogar dazu, das Feld der Vernunft selbst aufs Spiel zu setzen)? Handelt es sich hier nicht um ganz unterschiedliche Arten von Problemen, oder führt eines unvermeidlich zum anderen? Ist die Autonomie bei der Formulierung von Gründen als Basis für die Annahme oder Ablehnung eines vorgegebene Gesetzes gleichzusetzen mit der Transformation des Selbst bei der Aufnahme einer Regel ins Handeln dieses Subjektes selbst? Wie wir sehen werden, werden sowohl die Transformation des Selbst in Beziehung zu ethischen Vorschriften als auch die Praxis der Kritik als Formen der "Kunst", als Stilisierungen und Wiederholungen begriffen, womit nahe gelegt wird, dass es keine Möglichkeit der Annahme oder Ablehnung einer Regel ohne ein Selbst gibt, das in seiner Reaktion auf die an es gerichtete ethische Forderung stilisiert wird.

In dem Kontext, in dem Gehorsam verlangt wird, lokalisiert Foucault das Begehren, das der Frage zu Grunde liegt, "wie man denn nicht regiert wird" (11). Dieses Begehren und das Staunen, das es hervorruft, bildet den zentralen Impetus der Kritik. Es ist natürlich unklar, wie das Begehren, nicht regiert zu werden, mit der Tugend zusammenhängt. Foucault stellt jedoch klar, dass er nicht die Möglichkeit radikaler Anarchie behauptet und dass es nicht um die Frage geht, wie man radikal unregierbar wird. Es handelt sich um eine spezifische Frage, die in Beziehung zu einer spezifischen Form des Regierens erscheint: "Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird - daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?" (11 f.)

Dies wird die Signatur der "kritischen Haltung" (12) und ihrer besonderen Tugend sein. Die Frage eröffnet für Foucault zugleich eine moralische und eine politische Haltung, "die Kunst, nicht regiert zu werden, bzw. die Kunst, nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden" (12). Welche Tugend auch immer Foucault hier für uns umreißt, sie hat zu tun mit der Ablehnung dieser Auferlegung der Macht, ihres Preises, der Art und Weise ihrer Handhabung und mit der Ablehnung derer, die sie ausüben. Man könnte versucht sein zu glauben, dass Foucault einfach den Widerstand beschreibt, aber hier scheint "Tugend" an die Stelle dieses Begriffes getreten zu sein oder zum Mittel einer Neubeschreibung des Widerstands zu werden. Wir haben uns nach den Gründen dafür zu fragen. Überdies wird die Tugend auch als eine "Kunst" beschrieben, als die Kunst, nicht "ganz so viel" regiert zu werden. Welche Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik ist also hier am Werk?

Foucault macht die Ursprünge der Kritik in der Beziehung von Widerstand und kirchlicher Autorität aus. In Bezug auf die Kirchendoktrin hieß "nicht regiert werden wollen, das kirchliche Lehramt verweigern, zurückweisen oder einschränken; es hieß, zur Heiligen Schrift zurückzukehren; es hieß sich fragen [...], welche Art von Wahrheit von der Schrift gesagt wird [...]" (13). Und diese Verweigerung wurde zweifellos im Namen eines alternativen oder wenigstens gerade entstehenden Grundes von Wahrheit und Gerechtigkeit gewagt. Dies führte Foucault zur Formulierung einer zweiten Definition von "Kritik": "Nicht regiert werden wollen [...] diese Gesetze da nicht mehr annehmen wollen, weil sie ungerecht sind, weil sie [...] eine wesenhafte Unrechtmäßigkeit bergen" (13).

Kritik ist das, was diese Illegitimität zu Tage bringt, dies aber nicht etwa durch Rekurs auf eine fundamentalere politische oder moralische Ordnung. Foucault schreibt, dass das kritische Projekt "der Regierung und dem von ihr verlangten Gehorsam universale und unverjährbare Rechte (entgegensetzt), denen sich jedwede Regierung, handle es sich um den Monarchen, um das Gericht, um den Erzieher, um den Familienvater, unterwerfen muß" (13 f.). Die Praxis der Kritik entdeckt diese universalen Rechte jedoch nicht, wie die Theoretiker der Aufklärung behaupten, sondern "stellt sie heraus". Allerdings werden sie nicht als positive Rechte herausgestellt. Dieses Herausstellen ist ein Akt, der die Macht des Gesetzes begrenzt, ein Akt, der sich den Vorgehensweisen der Macht im Moment ihrer Erneuerung entgegenstellt und sie herausfordert. Dies ist das Setzen der Grenze selbst, das die Form einer Frage annimmt und gerade im Vorbringen dieser Frage ein Recht zu fragen geltend macht. Seit dem 16. Jahrhundert wird die Frage "wie nicht regiert werden?" zur Frage konkretisiert: "[W]elches sind die Grenzen des Rechts zu regieren?" (14). "'Nicht regiert werden wollen' heißt schließlich auch: nicht als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr hinstellt, oder jedenfalls nicht etwas als wahr annehmen, nur weil eine Autorität es als wahr ausgibt. Es heißt: etwas nur annehmen, wenn man die Gründe dafür selber für gut befindet." (14) Diese Situation ist natürlich nicht frei von Ambiguität, denn welches kann der Geltungsgrund für die Annahme einer Autorität sein? Verdankt sich die Geltung der Zustimmung, Autorität anzuerkennen? Wenn ja, verschafft die Zustimmung den vorgebrachten Gründen, ganz gleich welchen, Geltung? Oder gibt man vielmehr nur auf der Grundlage einer vorherigen und offen zu legenden Geltung seine Zustimmung? Und machen diese vorhergehenden Gründe in ihrer Gültigkeit die Zustimmung zu einer gültigen? Falls die erste Möglichkeit zutrifft, ist die Zustimmung das Beurteilungskriterium für die Gültigkeit, und Foucaults Position schiene sich dann auf eine Form von Voluntarismus zu reduzieren. Vielleicht jedoch bietet er uns über die "Kritik" einen Akt, ja eine Praxis der Freiheit, die sich nicht so leicht auf Voluntarismus reduzieren lässt. Denn die Praxis, durch die der absoluten Autorität Grenzen gesetzt sind, ist grundsätzlich abhängig vom Horizont der Wissenseffekte, in dem sie operiert. Die kritische Praxis entspringt nicht aus der angeborenen Freiheit der Seele, sondern wird vielmehr im Schmelztiegel eines bestimmten Austauschs zwischen einer Reihe (schon vorhandener) Regeln oder Vorschriften und einer Stilisierung von Akten geformt, die diese schon vorhandenen Regeln und Vorschriften erweitert und reformuliert. Diese Stilisierung des Selbst in Beziehung zu den Regeln gilt als eine "Praxis".

In Foucaults in einem abgeschwächten Sinne an Kant anschließender Sicht ist der Akt der Zustimmung eine reflektierende Bewegung, in welcher der Autorität Geltung zu- oder abgesprochen wird. Diese Reflexivität findet jedoch nicht im Inneren eines Subjekts statt. Für Foucault bringt dieser Akt Risiken mit sich, denn es geht nicht nur darum, gegen diese oder jene staatliche Forderung Einspruch zu erheben, sondern darum, nach der Ordnung zu fragen, in der eine solche Forderung lesbar und möglich wird. Und wenn der Einspruch sich gegen die epistemologischen Anordnungen richtet, die die Regeln staatlicher Geltung eingeführt haben, verlangt das "Nein-Sagen" zur Forderung die Abwendung von diesen etablierten Geltungsgründen, mit der ihre Grenze markiert wird; das ist etwas ganz anderes und weitaus Gewagteres, als eine gegebene Forderung für ungültig zu erachten. In diesem Unterschied, so könnten wir sagen, treten wir in eine kritische Beziehung zu diesen Anordnung und den aus ihnen hervorgegangenen ethischen Grundsätzen ein. Das Problem der Gründe, die Foucault "illegitim" nennt, liegt nicht darin, dass sie bloß partiell oder selbstwidersprüchlich sind oder dass sie zu heuchlerischen moralischen Standpunkten führen. Das Problem ist vielmehr, dass sie die kritische Beziehung auszuschließen und ihre eigene Macht auszuweiten suchen, um das gesamte Feld des moralischen und politischen Urteils zu ordnen. Sie ordnen und erschöpfen das Feld der Gewissheit selbst. Wie stellt man den umfassenden Zugriff solcher Ordnungsregeln auf die Gewissheit infrage, ohne Ungewissheit zu riskieren, ohne auf jenen schwankenden Grund zu geraten, der uns der Anklage der Immoralität, des Bösen, des Ästhetizismus aussetzt? Die kritische Haltung ist nach den Regeln, deren Grenzen sie gerade zu hinterfragen sucht, nicht moralisch. Aber wie kann Kritik anders verfahren, ohne die Denunziation durch jene zu riskieren, die naturalisieren und eben jene moralischen Begriffe als überlegen ausgeben, die von der Kritik selbst infrage gestellt werden?

Mit der Unterscheidung zwischen Regierung und Regierungsintensivierung versucht Foucault zu zeigen, dass der durch die Regierung bezeichnete Apparat in die Praktiken der Regierten, in ihre Wissensweisen, ja in ihre Seinsweisen eindringt. Regiert werden heißt nicht nur, dass unserer Existenz eine Form aufgezwungen wird, es heißt auch, dass uns die Bedingungen vorgeschrieben werden, unter welchen Existenz möglich oder nicht möglich ist. Ein Subjekt entsteht in Beziehung auf eine etablierte Ordnung der Wahrheit, aber es kann auch einen bestimmten Blickwinkel auf diese etablierte Ordnung einnehmen, um rückwirkend seinen eigenen ontologischen Grund zu suspendieren. "Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen - und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher das Subjekt sich das Recht herausnimmt [le sujet se donne le droit], die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf diese Wahrheitsdiskurse hin." (15, Hervorhebung J.B.)

Man beachte, dass vom Subjekt gesagt wird, dass es "sich das Recht nimmt", eine Art der Selbst-Allokation und Selbst-Autorisierung, mit der die Reflexivität des Anspruchs in den Vordergrund zu rücken scheint. Ist dies nun eine selbsterzeugte Bewegung, die das Subjekt gegenüber einer entgegenwirkenden Autorität stärkt? Und welchen Unterschied macht es, falls überhaupt, dass diese Selbst-Allokation und Selbst-Bezeichnung als "Kunst" auftritt? "Kritik", sagt Foucault, ist "die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit [l'indocilité réfléchie]." (15) Wenn sie in diesem Sinne eine "Kunst" ist, dann ist sie kein einfacher Akt, und dann gehört sie auch nicht ausschließlich einem subjektiven Bereich an, denn dann ist sie die stilisierte Beziehung auf die an sie gerichtete Forderung. Und kritisch ist der Stil in dem Maße, in dem er als Stil nicht im Voraus gänzlich festgelegt ist, soweit er über den Zeitverlauf eine Kontingenz beinhaltet, die die Grenze der Ordnungsfähigkeit des fraglichen Feldes markiert. Die Stilisierung dieses "Willens" bringt also ein Subjekt hervor, von dem sich unter den bestehenden Einordnungen der Wahrheit nicht ohne weiteres etwas wissen lässt. Radikaler noch erklärt Foucault, dass die Kritik im Wesentlichen die Entunterwerfung [désassujettisement] des Subjekts im Kontext [jeu] der "Politik der Wahrheit" sicherstellt.

Die Politik der Wahrheit gehört zu jenen Machtbeziehungen, die von vornherein eingrenzen, was als Wahrheit zu gelten hat und was nicht, als Wahrheit, die die Welt auf eine bestimmte Regelhaftigkeit und Regulierbarkeit hin ordnet und die wir dann als das gegebene Feld des Wissens hinnehmen. Wir können die Bedeutung dieses Punktes verstehen, wenn wir zu fragen beginnen: Wer gilt als Person? Was gilt als kohärente Geschlechterzugehörigkeit? Wer ist als Bürger qualifiziert? Wessen Welt ist als reale legitimiert? Subjektiv fragen wir: Wer kann ich in einer Welt werden, in der die Bedeutungen und Grenzen des Subjektseins für mich schon festgelegt sind? Welche Normen schränken mich ein, wenn ich zu fragen beginne, wer ich werden kann? Und was passiert, wenn ich etwas zu werden beginne, für das es im vorgegebenen System der Wahrheit keine Platz gibt? Ist nicht genau das mit der "Entunterwerfung des Subjekts im Spiel der Politik der Wahrheit" gemeint?

Auf dem Spiel steht hier die Beziehung zwischen den Grenzen der Ontologie und Epistemologie, der Zusammenhang zwischen den Grenzen dessen, was ich werden könnte, und den Grenzen des Wissens, das ich riskiere. Im Anschluss an einen kantischen Sinn von Kritik stellt Foucault diejenige Frage, die die Frage der Kritik selbst ist: "Weißt du, bis zu welchem Punkt du wissen kannst?" "Unsere Freiheit steht auf dem Spiel [...]." Freiheit entsteht so an den Grenzen des möglichen Wissens in eben dem Augenblick, in dem sich die Entunterwerfung des Subjekts innerhalb einer Politik der Wahrheit vollzieht, in jenem Moment, in dem eine gewisse Fragepraxis folgender Form beginnt: "Was bin denn nun eigentlich ich, der ich zu dieser Menschheit gehöre, zu dieser Franse, zu diesem Moment, zu diesem Augenblick von Menschheit, der der Macht der Wahrheit im allgemeinen und der Wahrheiten im besonderen unterworfen ist.?" (27) Anders gefragt: "Was kann ich angesichts der gegenwärtigen Ordnung des Seins sein?" Wenn in dieser Frage die Freiheit auf dem Spiel steht, könnte dieser Spieleinsatz der Freiheit etwas mit dem zu tun haben, was Foucault Tugend nennt, mit einem gewissen Risiko, das durch das Denken und in der Tat durch die Sprache ins Spiel kommt, durch die die gegenwärtige Ordnung des Seins an ihre Grenze geführt wird.

Wie verstehen wir jedoch diese gegenwärtige Ordnung des Seins, in welcher ich mich selbst zum Spieleinsatz mache? Foucault kennzeichnet hier die historisch bedingte Ordnung des Seins auf eine Weise, die ihn mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule verbindet; er identifiziert die "Rationalität" als die regierungsintensivierende Auswirkung auf die Ontologie. Im Anschluss an eine post-kantische, links-kritische Tradition schreibt Foucault: "Von der hegelschen Linken bis zur Frankfurter Schule hat es eine ganze Kritik des Positivismus, des Objektivismus, der Rationalisierung, der technè und der Technisierung gegeben, eine Kritik der Beziehungen zwischen dem Fundamentalprojekt der Wissenschaft und der Technik, die zeigen möchte, wie eine naive Anmaßung der Wissenschaft mit den eigentümlichen Herrschaftsformen der zeitgenössischen Gesellschaft verknüpft ist." (20 f.) Für Foucault nimmt die Rationalisierung eine neue Form an, wenn sie sich in den Dienst der Bio-Macht stellt. Und was für die meisten gesellschaftlichen Akteure und Kritiker in dieser Lage schwierig zu erkennen bleibt, ist das Verhältnis von "Rationalisierung und Macht". Was als bloß epistemische Ordnung erscheint, als eine Weise des Ordnens der Welt, gibt nicht derart schlicht die Zwänge preis, unter denen dieses Ordnen geschieht. Und auch die Art und Weise ist nicht leicht zu erkennen, in der die Intensivierung und Totalisierung von Rationalisierungseffekten zu einer Intensivierung der Macht führt. Foucault fragt, wie die Rationalisierung zu diesem Furor der Macht führt. Das Übergreifen der Rationalisierungskapazitäten auf alle Lebenszuflüsse kennzeichnet eindeutig nicht nur Verfahren wissenschaftlicher Praxis, "sondern auch die gesellschaftlichen Beziehungen, die staatlichen Organisationen, die wirtschaftlichen Praktiken und sogar das Verhalten der Individuen" (25). Die Rationalisierungskapazität erreicht ihren "Furor" und ihre Grenzen, wo sie das Subjekt, das sie unterwirft, erfasst und durchdringt. Die Macht umgrenzt, was ein Subjekt "sein" kann, sie zieht die Grenzen, jenseits derer es nicht länger "ist" oder jenseits welcher es in einen Bereich suspendierter Ontologie gerät. Die Macht versucht jedoch, das Subjekt durch Zwang zu begrenzen, und der Widerstand gegen den Zwang besteht in der Stilisierung des Selbst an der Grenze des etablierten Seins.

Eine der ersten Aufgaben der Kritik besteht in der Erkenntnis des Verhältnisses "zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen" (31). Auch hier scheinen wir mit den Grenzen des Wissbaren konfrontiert zu sein - Grenzen, die eine bestimmte Nötigung ausüben, ohne in irgendeiner Notwendigkeit begründet zu sein; Grenzen, die nur betreten und befragt werden können, wenn eine gewisse Sicherheit innerhalb einer vorhandenen Ontologie aufs Spiel gesetzt wird: "[N]ichts kann als Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem System spezifischer Regeln und Zwänge konform geht - etwa mit dem System eines bestimmten wissenschaftlichen Diskurses in einer bestimmten Epoche, und wenn es nicht andererseits, gerade weil es wissenschaftlich oder rational oder einfach plausibel ist, zu Nötigungen oder Anreizungen fähig ist." (33) Und Foucault zeigt dann weiter, dass Wissen und Macht letztlich nicht zu trennen sind, sondern bei der Aufstellung einer Reihe subtiler und expliziter Kriterien für das Denken der Welt zusammenarbeiten: "Es geht also nicht darum zu beschreiben, was Wissen ist und was Macht ist und wie das eine das andere unterdrückt oder mißbraucht, sondern es geht darum, einen Nexus von Macht-Wissen zu charakterisieren, mit dem sich die Akzeptabilität eines Systems [...] erfassen läßt." (33)

Der Kritiker hat also die doppelte Aufgabe zu zeigen, wie Wissen und Macht arbeiten, um eine mehr oder minder systematische Ordnungsweise der Welt mit ihren eigenen "Bedingungen der Akzeptabilität eines Systems" zu konstituieren, aber auch "den Bruchstellen zu folgen, die ihr Entstehen anzeigen". Es muss also nicht nur der merkwürdige Knotenpunkt von Macht und Wissen isoliert und identifiziert werden, der das Feld intelligibler Dinge eröffnet, sondern es muss auch die Art und Weise rekonstruiert werden, in der dieses Feld den Punkt seines Aufbrechens erreicht, die Momente seiner Diskontinuität, die Stellen, an denen es an der Konstitution jener Intelligibilität scheitert, für die es steht. Das heißt, dass man sowohl nach den Konstitutionsbedingungen des Objektfeldes als auch nach den Grenzen dieser Bedingungen sucht, nach den Momenten, in denen sie ihre Kontingenz und ihre Transformationsfähigkeit preisgeben. In Foucaults Worten "handelt es sich also, schematisch ausgedrückt, um eine immerwährende Beweglichkeit, um eine wesenhafte Zerbrechlichkeit: um eine Verstrickung zwischen Prozeßerhaltung und Prozeßumformung" (39).

Anders lässt sich diese Dynamik innerhalb der Kritik in der Tat dahingehend auszudrücken, dass Rationalisierung ihre Grenzen in der Entunterwerfung findet. Entsteht die Entunterwerfung des Subjekts in dem Moment, in dem die durch Rationalisierung konstituierte Episteme ihre Grenze zeigt, dann markiert die Entunterwerfung genau die Zerbrechlichkeit und Transformationsfähigkeit der Episteme der Macht.

Kritik beginnt mit der Voraussetzung der Regierungsintensivierung und mit dem Scheitern der Totalisierung des Subjekts, das erkannt und unterworfen werden sollte. Das Mittel der Artikulation eben jenes Verhältnisses wird jedoch von Foucault in beunruhigender Weise als Fiktion beschrieben. Weshalb Fiktion? Und in welchem Sinne ist es Fiktion? Foucault bezieht sich auf eine "historisch-philosophische Praktik", in der es darum geht, "sich seine eigene Geschichte zu machen: gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren [de faire comme par fiction], die von der Frage nach den Beziehungen zwischen den Rationalitätsstrukturen des wahren Diskurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen durchzogen ist" (26). Es gibt also eine Dimension der Methodologie selbst, die an der Fiktion teilhat, die fiktionale Linien zwischen Rationalisierung und Entunterwerfung, zwischen dem Nexus Wissen-Macht und seiner Zerbrechlichkeit und Grenze zieht. Wir erfahren nicht, welcher Art diese Fiktion ist, aber es scheint klar, dass Foucault auf Nietzsche zurückgreift, insbesondere auf die Art von Fiktion, die die Genealogie sein soll.

Sie erinnern sich vielleicht, dass Nietzsche - obgleich die Genealogie der Moral für ihn der Versuch zu sein scheint, die Ursprünge der Werte zu finden - tatsächlich herauszufinden sucht, wie gerade der Begriff des Ursprungs instituiert wurde. Und das Mittel, mit dem er den Ursprung zu erklären versucht, ist fiktional. Er erzählt eine Fabel von den Vornehmen, eine andere vom Gesellschaftsvertrag, eine weitere über den Sklavenaufstand in der Moral und noch eine andere über die Beziehungen von Gläubiger und Schuldner. Keine dieser Fabeln lässt sich in Raum und Zeit lokalisieren, und jeder Versuch, die historische Entsprechung zu Nietzsches Genealogien zu finden, ist notwendig zum Scheitern verurteilt. Tatsächlich bekommen wir an Stelle einer Darstellung, die den Ursprung der Werte oder gar den Ursprung des Ursprungs auffindet, fiktive Geschichten über die Art und Weise der Entstehung von Werten zu lesen. Ein Vornehmer behauptet, etwas sei der Fall, und es wird zur Tatsache: Der Sprechakt begründet den Wert und wird eine Art ort- und zeitloser Anlass für die Entstehung von Werten. Tatsächlich widerspiegelt Nietzsches eigene Erfindung von Fiktionen eben jene Gründungsakte, die er den Erzeugern von Werten zuschreibt. Er beschreibt also nicht nur diesen Prozess, sondern diese Beschreibung wird selber ein Beispiel der Werterzeugung, indem sie eben jenen Prozess inszeniert, den sie erzählt.

Wie könnte nun dieser bestimmte Gebrauch der Fiktion auf Foucaults Begriff der Kritik zu beziehen sein? Bedenken wir, dass Foucault die Möglichkeit der Entunterwerfung innerhalb der Rationalisierung zu verstehen sucht, ohne einen Ursprung des Widerstands im Subjekt oder in einem Gründungsmodus anzunehmen. Woher kommt der Widerstand? Lässt er sich als Aufwallung menschlicher Freiheit begreifen, die von den Mächten der Rationalisierung in Ketten gelegt wurde? Wenn Foucault von einem Willen spricht, nicht regiert zu werden, wie haben wir dann den Status dieses Willens zu verstehen?

In Erwiderung auf Nachfragen in dieser Richtung bemerkt er: "Ich denke nicht, daß der Wille, überhaupt nicht regiert zu werden, etwas ist, was man als eine ursprüngliche Aspiration betrachten kann [je ne pense pas en effet que la volonté de n'être pas gouverné du tout soit quelque chose que l'on puisse considérer comme une aspiration originaire]. Vielmehr ist der Wille, nicht regiert zu werden, immer der Wille, nicht dermaßen, nicht von denen da, nicht um diesen Preis regiert zu werden." (52) Weiter warnt er vor der Verabsolutierung dieses Willens, zu der die Philosophie immer versucht ist. Er möchte vermeiden, was er den „philosophische[n] und theoretische[n] Paroxismus jenes Willens, nicht so oder so regiert zu werden", nennt (52). Er macht klar, dass Erklärungen für diesen Willen ihn in ein Ursprungsproblem verwickeln, und beinahe ist er bereit, dieses Terrain aufzugeben, aber eine gewisse nietzscheanische Hartnäckigkeit behält doch die Oberhand. Foucault schreibt: "Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, nicht auf eine ursprüngliche Freiheit [qui serait comme la liberté originaire], die sich schlechterdings und grundlegend [absolument et en son fond] jeder Regierungsentfaltung widersetzt. Ich habe davon nicht gesprochen - aber ich will es nicht absolut ausschließen [Je ne l'ai pas dit, mais cela ne veut pas dire que je l'exclu absolument]. Mein Exposé macht hier halt: weil es schon zu lang gedauert hat; aber auch, weil ich mich frage [mais aussi parce que je me demande] [...]wenn man diese Dimension der Kritik erkunden will, die mir so wichtig scheint, weil sie ein Teil der Philosophie und gleichzeitig kein Teil der Philosophie ist [...], müßte man sich dann nicht mit einem Sockel der kritischen Haltung beschäftigen, die entweder die historische Praktik der Revolte, das Nicht-Akzeptieren einer wirklichen Regierung oder die individuelle Erfahrung der Verweigerung der Regierungsrealität wäre?" (52 f.)

Worauf immer man sich beim Widerstand gegen die Regierungsintensivierung stützt, es wird so etwas „wie eine ursprüngliche Freiheit" und „etwas der historischen Praxis der Re­volte Verwandtes sein" (Hervorhebung J. B.). Etwas Ähnliches, aber offensichtlich nicht ganz dasselbe. Die „ursprüngliche Freiheit" bringt Foucault nur ins Spiel, um sie im gleichen Zuge wieder zurückzuziehen. „Ich habe nicht davon gesprochen", bemerkt er, gleich nachdem er davon gesprochen hat, nachdem er gezeigt hat, wie er beinahe davon gespro­chen hat, nachdem er sich gleichsam foppend in die Nähe dieser Rede begeben hat. Wel­cher Diskurs verführt ihn hier beinahe, unterwirft ihn beinahe seinen Begriffen? Und was gewinnt er aus diesen Begriffen, die er ablehnt? Was für eine Kunstform ist das, in der uns eine beinahe faltbare kritische Distanz vorgeführt wird? Und handelt es sich um dieselbe Distanz, die die Praxis des Staunens, des Fragens ausmacht? An welche Grenzen des Wis­sens wagt er sich, wenn er laut für uns fragt? Die Eröffnungsszene der Kritik beinhaltet „die Kunst der freiwilligen Widersetzlichkeit", und die freiwillige oder tatsächlich „ur­sprüngliche Freiheit" ist hier gegeben, aber in Form einer Mutmaßung, in einer Form von Kunst, die die Ontologie suspendiert und uns in die Schwebe des Zweifels versetzt.

Foucault findet einen Weg, von „ursprünglicher Freiheit" zu reden, und ich nehme an, dass er diese Worte mit großem Vergnügen ausspricht, mit Lust und Angst. Er spricht sie aus, aber wie in einer Inszenierung dieser Worte, bei der er sich von einer ontologischen Verpflichtung frei macht und zugleich diese Worte selbst für einen bestimmten Gebrauch freigibt. Bezieht er sich hier auf ursprüngliche Freiheit? Sucht er Zuflucht bei Ihr? Hat er die Quelle ursprünglicher Freiheit gefunden und daraus getrunken? Oder setzt er sie, erwähnt er sie, verwendet er sie, ohne sie wirklich zu verwenden? Führt er sie an, damit wir ihre Resonanzen noch einmal durchleben und ihre Kraft erkennen? Die Inszenierung eines Wortes ist nicht dessen Aussage, aber wir könnten sagen, dass die Aussage, mit List inszeniert, einer ontologischen Suspension unterworfen wird, sodass sie ausgesprochen werden kann. Und wir könnten sagen, dass dieser Sprechakt den Ausdruck "ursprüngliche Freiheit" vorübergehend von der epistemischen Politik befreit, in der er lebt, und zugleich eine gewisse Entunterwerfung des Subjekts innerhalb der Politik der Wahrheit vollzieht. Denn wenn man so spricht, ist man zugleich erfasst und befreit von den Worten, die man nichtsdestoweniger spricht. Natürlich ist Politik nicht einfach eine Sache des Sprechens, und ich will sicher nicht Aristoteles in Foucaultscher Form rehabilitieren (obwohl ich zugebe, dass ich das verführerisch fände, und ich will diesen Schritt hier als Möglichkeit anführen, ohne mich selbst gleich darauf einzulassen). In dieser sprachlichen Geste gegen Schluss seines Vortrags kommt exemplarisch eine gewisse Freiheit zum Ausdruck, und zwar nicht durch den bloßen Hinweis auf den Begriff ohne weitere Begründung, sondern durch den kunstvollen Vollzug seiner Loslösung aus seinen gewöhnlichen diskursiven Zwängen, von der Einbildung, dass man ihn nur aussprechen sollte, wenn man schon weiß, wie er zu verankern ist.

Ich würde Foucaults Geste für seltsam unerschrocken halten, da sie weiß, dass sie die Behauptung der ursprünglichen Freiheit nicht begründen kann. Dieses Nichtwissen ermöglicht ihren ganz bestimmten Gebrauch in seinem Diskurs. Jedenfalls geht er das Wagnis ein, und so wird die Erwähnung, sein Insistieren, zur Allegorie einer gewissen Risikobereitschaft an der Grenze des epistemologischen Feldes. Und vielleicht ist dies eine Praxis der Tugend und nicht, wie seine Kritiker meinen, ein Zeichen moralischer Verzweiflung, insoweit die Praxis dieser Art des Sprechens einen Wert setzt, den sie nicht begründen oder sichern kann, den sie aber dennoch setzt und durch dessen Setzung sie zeigt, dass eine bestimmte Intelligibilität die ihr vom Macht-Wissen gezogenen Grenzen überschreitet. Dies ist Tugend im minimalen Sinne, gerade weil sie dem Subjekt die Perspektive für eine kritische Distanz zur etablierten Autorität zeigt. Aber es ist auch ein mutiger Akt, der ohne Garantien handelt und das Subjekt an den Grenzen seiner Ordnung aufs Spiel setzt. Wer wäre Foucault, wenn er das aussprechen sollte? Welche Entunterwerfung vollzieht er mit dieser Äußerung für uns?

Zur etablierten Autorität eine kritische Distanz gewinnen heißt für Foucault nicht nur, die Funktionsweise der Zwangseffekte des Wissens in der Subjektbildung selbst zu erkennen, sondern seine Selbstformierung als Subjekt aufs Spiel zu setzen. So behauptet Foucault in Das Subjekt und die Macht8: "[D]iese Form der Macht, die sich selbst auf das unmittelbare, alltägliche Leben anwendet, die das Individuum kategorisiert und durch seine eigene Individualität zeichnet, es an seine eigen Identität bindet, erlegt ihm ein Gesetz der Wahrheit auf, das es anzuerkennen hat und das andere in ihm anzuerkennen haben." Und wenn dieses Gesetz ins Schwanken gerät oder zerbricht, ist die Möglichkeit selbst der Anerkennung gefährdet. Wenn wir also fragen, wie wir "ursprüngliche Freiheit" sagen und wie wir es staunend sagen sollen, stellen wir auch das Subjekt, das in diesem Ausdruck wurzeln soll, infrage und befreien es paradoxerweise zu einem Wagnis, das dem Ausdruck wirklich neue Substanz und Möglichkeit geben könnte.

Zum Schluss möchte ich zur Einleitung von Der Gebrauch der Lüste zurückkehren, in der Foucault die Praktiken, die ihn interessieren, die "Künste der Existenz" (18), mit der kultivierten Beziehung des Selbst zu sich selbst in Verbindung bringt. Diese Formulierungsweise bringt uns näher an die seltsame Art von Tugend, die Foucaults Antifundamentalismus darstellt. Wie bereits gesagt, verweist Foucault mit der Einführung des Begriffs der "Künste der Existenz" auch darauf, dass diese Künste der Existenz Subjekte hervorbringen, die "sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen [...]" (18). Man könnte nun denken, dies erhärte den Vorwurf, wonach Foucault die Existenz zu Lasten der Ethik ästhetisiert hat, aber ich glaube, er hat uns lediglich gezeigt, dass es keine Ethik und keine Politik ohne Rekurs auf diesen singulären Sinn von poiesis geben kann. Das Subjekt, das von den Prinzipien des Diskurses der Wahrheit gebildet wird, ist noch nicht das Subjekt, das um seine Selbstformung bemüht ist. Mit "Künsten der Existenz" befasst, ist dieses Subjekt sowohl gefertigt als auch fertigend, und die Grenze zwischen seinem Geformtsein und seinem Formen ist, falls überhaupt, nicht leicht zu ziehen. Denn ein Subjekt ist nicht geformt und beginnt dann unvermittelt, sich selbst zu formen. Im Gegenteil instituiert die Bildung des Subjekts eben jene Reflexivität, die ununterscheidbar die Bürde der Formation auf sich nimmt. Die "Ununterscheidbarkeit" dieser Grenze ist genau die Stelle, wo sich soziale Normen und ethische Forderungen kreuzen und wo beide im Kontext einer Selbst-Bildung hervorgebracht werden, die niemals ganz vom Selbst ausgeht.

Obgleich Foucault in diesem Text recht unumwunden auf Intention und Überlegung verweist, verdeutlicht er doch, wie schwer sich diese Selbst-Stilisierung in Begriffen herkömmlicher Auffassungen von Intention und Überlegung verstehen lässt. Zum Verständnis der Revision der Begriffe, wie sie seine Verwendung dieser Begriffe erfordert, führt Foucault die Ausdrücke "Weisen der Unterwerfung [subjection] oder der Unterwerfung/Subjektwerdung [subjectivation]" ein. Diese Begriffe geben nicht einfach wieder, wie ein Subjekt gebildet wird, sondern wie es selbst-bildend wird. Dieses Werden eines ethischen Subjekts ist nicht einfach eine Frage der Selbsterkenntnis oder der Aufmerksamkeit auf sich; es bezeichnet "einen Prozeß, in welchem das Individuum jenen Teil von sich abgrenzt, der Objekt seiner moralischen Praxis wird". Das Selbst grenzt sich selbst ab und entscheidet über das Material seiner Selbst-Bildung, aber die Abgrenzung, die das Selbst vollzieht, vollzieht sich über Normen, die unbestreitbar schon vorliegen. Nehmen wir also an, dass diese ästhetische Weise der Selbst-Bildung in ethischen Praktiken kontextualisiert ist, so erinnert uns Foucault daran, dass diese ethische Arbeit nur in einem weiteren politischen Kontext, im Rahmen einer Politik der Normen stattfinden kann. Er macht klar, dass es keine Selbst-Bildung außerhalb einer Weise der Unterwerfung/Subjektwerdung gibt, was bedeutet, dass es keine Selbst-Bildung außerhalb der Normen gibt, die die mögliche Bildung des Subjekts ordnen.

Wir sind stillschweigend vom diskursiven Begriff des Subjekts zum mehr psychologisch angelegten Begriff des "Selbst" übergegangen, und für Foucault mag dieser letztere Begriff sehr wohl die größere Handlungsfähigkeit mit sich bringen. Das Selbst formt sich selbst, aber es formt sich selbst im Rahmen von Formierungspraktiken, die als Weisen der Unterwerfung/Subjektwerdung charakterisiert werden. Die Reichweite seiner möglichen Formen ist zwar von vornherein durch solche Weisen der Unterwerfung/Subjektwerdung begrenzt, aber das heißt nicht, dass das Selbst an der Formierung seiner selbst scheitert oder nicht voll ausgebildet wird. Ganz im Gegenteil ist es gezwungen, sich zu formen, dies jedoch innerhalb von Formen, die schon mehr oder weniger vorgegeben sind oder sich abzeichnen. Man könnte auch sagen, das Subjekt ist gezwungen, sich in Praktiken zu formen, die mehr oder weniger schon da sind. Vollzieht sich diese Selbst-Bildung jedoch im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist, wird Tugend jene Praxis, durch welche das Selbst sich in der Entunterwerfung bildet, was bedeutet, dass es seine Deformation als Subjekt riskiert und jene ontologisch unsichere Position einnimmt, die von neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein, und was wird als Leben zählen, ein Moment des ethischen Fragens, welcher erfordert, dass wir mit den Gewohnheiten des Urteilens zu Gunsten einer riskanteren Praxis brechen, die versucht, den Zwängen eine künstlerische Leistung abzuringen?


Dieser Essay wurde ursprünglich im Mai 2000 in einer kürzeren Fassung als Raymond Williams Lecture an der Universität Cambridge vorgetragen. Ich danke William Connolly und Wendy Brown für ihre sehr hilfreichen Anmerkungen zu früheren Fassungen.

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1 Raymond Williams, Keywords, New York 1976, 75-76

2 Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: Prismen, Frankfurt/M. 1976, 23.

3 Ebd., 13.

4 Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1982 (Seitennachweise im Text).

5 Eine interessante Darstellung dieses Übergangs von der Kritischen Theorie zur Theorie des kommunikativen Handelns bietet Seyla Benhabib in: Critique, Norm, and Utopia: A Study of the Foundations of Critical Theory; New York 1986, 1-13.

6 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt/M. 1989.

7 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M: 1983.

8 Michel Foucault, The Subject and Power, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (Hg.), Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago 1982, 212.