Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

04 2008

Versuch, das Plebejische zu denken

Exodus und Konstituierung als Kritik

Isabell Lorey

Kritik ist keine Position jenseits von Regierungsweisen, sie ist eine Haltung, die die Kämpfe virulent hält. Kritik ist das andauernde Infragestellen der Art und Weise, regiert zu werden. Vor dem Hintergrund dieser zugespitzten Thesen Foucaults ist es möglich, die grundlegende Zerbrechlichkeit und Instabilität[1] von Regierungsverhältnissen zu fokussieren. Das Infragestellen von naturalisierten, stabilen Verhältnissen heißt nicht nur zu zeigen, dass die Dinge geworden sind und deshalb auch wieder verändert werden können, sondern es heißt immer auch, Foucault sagt es in seinem Kritiktext: grundsätzlich das mögliche Verschwinden von bestimmten Regierungsverhältnissen zu denken.

Mit Foucault und über ihn hinaus, möchte ich eine immanente Weise widerständiger Kritik vorschlagen, in der Ablehnung und Verweigerung als eine produktive Praxis verstanden werden können. Wenn ich also im Folgenden von Verweigerung als Kritik spreche, möchte ich in einer scheinbar paradoxen Bewegung Verweigerung nicht als einfache Negation einführen, sondern als Produktivität. Dazu möchte ich zeigen, wie es denkbar wird, sich bestimmten Regierungsverhältnissen zu entziehen, und zwar nicht als Betreten eines Außerhalb von Machtverhältnissen, sondern als immanenter Auszug.

Im Jahr vor seinem Kritik-Text gibt Foucault im Winter 1977 ein Interview mit dem Titel „Mächte und Strategien“, in dem er noch einmal mit Hilfe einer neuen Kontextualisierung sein Verständnis von Kritik und Widerstand deutlich macht. In diesem Gespräch bringt Foucault relativ unvermittelt und nur verhältnismäßig kurz das Beispiel der Plebejer, jener gesellschaftlichen Formation, die eine Grundlegung der römischen Republik darstellt.[2]

Dieser kurze Verweis Foucaults ist auch deshalb interessant, weil das Interview jener Jacques Rancière führt, der später seine politische Theorie nicht zuletzt auf dem Herrschaftsverhältnis zwischen Patriziern und Plebejern aufbauen wird. Rancière unterlegt der antiken römischen Geschichte aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung (v.u.Z.) allerdings eine einigermaßen verkürzte und verschobene Lesweise, die für das Verständnis von Kritik und Widerständigkeit, das ich hier vertreten möchte, kein Beispiel wäre.[3]

Für wesentlich interessanter halte ich Foucaults kurze Erwähnung der Plebejer, die er allerdings nicht historisch analysiert, sondern als abstrakte Figur von Widerstand und Kritik (das Plebejische) einführt. Dazu schreibt Foucault: „Die ‚Plebs’ besitzt zweifelsohne keine soziologische Wirklichkeit. Es gibt jedoch immer etwas im Gesellschaftskörper, in den Klassen, in den Gruppen und in den Individuen selbst, das in gewissem Sinne den Machtverhältnissen entgeht; etwas, das nicht der mehr oder weniger formbare oder widerspenstige Rohstoff, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine gegenläufige, befreite Energie ist.“[4] Das ist ein wichtiger Gedanke für das, was ich zeigen möchte: Das Widerspenstige zählt Foucault hier zu dem, was „geformt“ wird, besser vielleicht, was durch Machtverhältnisse entsteht. Was ihnen dagegen entgeht, bezeichnet er als „gegenläufig“, als zentrifugal. Die Zentrifuge verweist auf die Fliehkraft. Was Machtverhältnissen entgeht, ist eine Kraft, die flieht, die ent-geht, die weg geht. Kritik kann demnach als Flucht verstanden werden.[5]

Foucault schreibt weiter: „’Die’ Plebs existiert zweifellos nicht, aber es gibt ‚etwas’ Plebejisches. Es gibt etwas Plebejisches in den Körpern und den Seelen, es ist in den Individuen, im Proletariat, im Bürgertum, aber mit verschiedenen Erweiterungen, Formen, Energien und Ursprünglichkeiten. Dieser Teil der Plebs bildet weniger eine Außenseite im Verhältnis zu den Machtbeziehungen, sondern vielleicht ihre Grenze, ihre Kehrseite, ihren Nachhall;“ – und weiter: dieses Plebejische „reagiert auf jeden Vorstoß der Macht mit einer ausweichenden Bewegung; dadurch wird jede neue Entwicklung des Machtgefüges motiviert.“ [6] Deshalb sei für jede Analyse von Machtdispositiven unverzichtbar, die „Perspektive der Plebs“ einzunehmen, nämlich die der Kehrseite und der Grenze der Macht.[7]

Ich möchte nun, um „das Plebejische“ zu denken, kurz einen Teil der mehr oder weniger „tatsächlichen“ Geschichte dieser Plebejer erzählen, das heißt genauer: den Anfang der Kämpfe mit den Patriziern am Beginn der römischen Republik. Wir begeben uns damit in die Zeit am Beginn des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Die strategischen Kämpfe der Plebejer möchte ich anschließend wieder in eine abstrakte Figur transformieren, um Kritik und Widerstand als produktive Verweigerung verstehen zu können.

Bei der Erzählung der Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern beziehe ich mich in erster Linie auf die Historiographie von Titus Livius. Der römische Historiograph schrieb eine Chronologie der politischen Geschichte Roms beginnend mit der Königszeit im 6. Jahrhundert v.u.Z. bis zu seinen eigenen Lebzeiten, der Zeit des Prinzipats von Augustus im 1. Jahrhundert v.u.Z. Livius schrieb also knapp 400 Jahre nach den Geschehnissen, um die es gleich gehen wird. Aus dieser Zeit gibt es keine geschriebenen Quellen, unter anderem deshalb ist Livius’ Erzählung wirkungsgeschichtlich sehr einflussreich. An der Lesweise, die ich für das anbiete, was die Plebejer am Beginn des 5. Jahrhunderts v.u.Z. in Rom taten, hatte Livius mit ziemlicher Sicherheit kein Interesse. Ihm ging es in seiner Geschichtsschreibung in erster Linie darum, die Stärke und den Ruhm Roms hervorzukehren und die Geschichte so darzustellen, dass sie notwendigerweise in der Herrschaft des Augustus kulminiert. Das ist ein Grund, weshalb Livius bei all seinen ausführlichen Darstellungen von Konflikten letztlich immer auf die concordia, die Eintracht Roms hinaus will.

Die Konflikte, um die es mir geht, sind die zwischen den Patriziern, also dem römischen Adel und den Plebejern, einer sehr heterogenen Mischung von in erster Linie römischen Bauern, die vor allem ökonomisch unterschiedlich positioniert waren, aber alle in ihrem Personenstatus als ‚frei’ galten, also keine Sklavinnen und Sklaven waren, allerdings dennoch keine politischen Rechte besaßen. Wir befinden uns am Beginn der römischen Republik. Wenige Jahre zuvor war der letzte tyrannische König vertrieben und eine Republik unter Herrschaft der Patrizier eingerichtet worden. Die republikanische Ordnung lässt sich noch nicht als stabil bezeichnen, und Patrizier und Plebejer sind nicht als homogene Gruppen formiert.

Mein Fokus auf die Ereignisse in der frühen römischen Republik besteht in der Frage, wie das verstanden werden kann, was in den antiken Quellen als „Sezession“ bezeichnet wird, als politische Trennung oder Spaltung, konkret: als Auszug der Plebejer aus Rom. Dieses Ereignis möchte ich als „Exodus“ theoretisieren.

Livius stellt die Geschichte der ersten von drei Sezessionen der Plebejer explizit in den Zusammenhang von Kriegsdienst und Schuldknechtschaft: Um 495 v.u.Z. spitzt sich nach seiner Darstellung die Lage in Rom innen- wie außenpolitisch zu. Der Konflikt zwischen den patrizischen Senatoren und der Plebs entbrennt vor allem wegen jener Plebejer, die in Schuldknechtschaft, also in ökonomische Abhängigkeit zu einem patrizischen Patron geraten sind. Denn diese verschuldeten Plebejer empören sich immer hörbarer darüber, dass sie im Krieg zwar ihr Leben für die Freiheit Roms riskieren, dagegen in Friedenszeiten selbst in Knechtschaft und als eine Art Leibeigene gehalten werden.[8]

Nach mehreren siegreichen Kriegen gegen die Volsker, Sabiner und Aurunker wird ein versprochenes Edikt nicht eingelöst, ein Erlass, der den Plebejern Sicherheit und Schutz von Eigentum und familia während eines Feldzuges zugesagt hatte. Die Schuldknechtschaft wird nicht beendet. Die patrizischen Senatoren befürchten nun Aufstände und Verschwörungen der Plebs, unterstützen aber als Gläubiger die weitere Missachtung des Erlasses.[9] Deshalb versuchen sie erneut, die wehrfähigen Plebejer auf den bestehenden Fahneneid zu verpflichten und geben den Legionen den Befehl, aufgrund eines vermeintlich erneut bevorstehenden Angriffs aus der Stadt abzuziehen. „Das“, so Livius, „brachte die Empörung beschleunigt zum Ausbruch.“[10]

Die bewaffneten plebejischen Männer, so will es seine Dramaturgie, überlegen nun, ob sie die Konsuln ermorden sollen, um die Einberufung zu verhindern. Doch statt solche Überlegungen umzusetzen, machen die wehrfähigen Plebejer etwas gänzlich anderes: Sie verweigern sich und ziehen, so Livius, „ohne Befehl der Konsuln auf den Heiligen Berg[11]  aus, auf einen Berg, der jenseits der Grenzen Roms und damit jenseits des Einflussgebietes der patrizischen Machthaber liegt. Dieser Auszug aus Rom stellt die erste Sezession der Plebejer dar.

Der Auszug der Plebejer, die weg gehen aus der Stadt, über die Stadtgrenze hinaus, bedeutet zugleich das Aufzeigen der Grenze der patrizisch dominierten Machtverhältnisse. Das Gewahrwerden der Grenze ermöglicht zugleich, auszuziehen, sich zu entziehen und somit die Begrenzung nicht mehr als absoluten Horizont zu begreifen. Foucault schreibt, das Plebejische „bildet weniger eine Außenseite im Verhältnis zu den Machtbeziehungen, sondern vielleicht ihre Grenze“. Der Auszug führt nicht in ein Jenseits von Macht. Vielmehr geht es um ein Entziehen und Weggehen, durch das eine zentrifugale Kraft entsteht, die eine „neue Entwicklung des Machtgefüges motiviert“. Die Plebs dynamisiert die Begrenzung patrizisch dominierter Machtverhältnisse, das Gefüge der Macht in Rom gerät in Bewegung, verändert sich.

Die Strategie der Plebejer, mit einer Sezession für ihre politischen, ökonomischen und rechtlichen Ziele zu kämpfen, bleibt bis heute äußerst ungewöhnlich. In den vorhandenen Quellen sind keine Anzeichen dahingehend zu finden, dass es sich um einen Bürgerkrieg gehandelt haben könnte, noch überhaupt um einen einzigen bewaffneten Kampf zwischen patrizischen und plebejischen Männern. Der Kampf gegen die patrizische Vorherrschaft besteht zunächst ausschließlich in Ungehorsam. Es handelt sich um eine Gehorsamsverweigerung in militärischer wie politischer Hinsicht, eine Aufkündigung der Akzeptanz der begrenzenden patrizischen Macht.

Diejenigen, die sich verweigern, ohne mit ihren Waffen zu kämpfen, sind die bewaffneten plebejischen Männer.[12] Es sind also just jene, die an anderer Stelle Rom und damit immer auch die patrizisch dominierten Machtverhältnisse gegen kriegerische Angreifer von Außen verteidigen. Diese Plebejer entziehen sich nun dem Kampf mit der Waffe, um ihre innenpolitischen und ökonomischen Interessen durchzusetzen. Sie verweigern den Patriziern die Gefolgschaft, sowohl als Feldherren als auch als Gläubigern.

Dieses Aufkündigen der Akzeptanz der patrizischen Macht durch Verweigerung und Auszug aus der politischen und ökonomischen Begrenzung ist ein Beispiel für das Infragestellen, das Ablehnen der Akzeptabilität, der Selbstverständlichkeit von Regierungsweisen, um die es Foucault in seinem Text zur Kritik geht. Und mit dem postoperaistischen Philosophen Paolo Virno kann dieses Aufkündigen, diese Verweigerung als „radikaler Ungehorsam“[13] bezeichnet werden, weil die Plebejer durch ihren Auszug dem Geltungsbereich von Gesetzen und Befehlen entgehen. „Ohne Befehl der Konsuln“[14], ist Livius wichtig niederzuschreiben, sind sie auf den Heiligen Berg hinausgezogen. Die Plebs entgeht, indem sie weggeht. Sie handelt hierbei nicht nur eigenmächtig, sondern stellt mit ihrer Aktion das imperium, die Befehlsbefugnis der Konsuln, das heißt die öffentliche Herrschaftsstruktur in Rom grundsätzlich infrage.

In dieser Hinsicht kann die Sezession der Plebejer als Exodus verstanden werden. Nicht aber als jene Form des Exodus der Israeliten, die nicht wieder nach Ägypten zurückkehrten.[15]

Der Exodus der Plebejer bedeutet eine Strategie der Selbstkonstituierung als politisches Bündnis. Und zugleich ist der Exodus, der Entzug durch Auszug, ein Druck- und Drohmittel, um den innenpolitischen Forderungen nach Rechten Ausdruck zu verleihen. 

Angekommen auf dem Heiligen Berg, so erzählt Livius die Geschichte weiter, schlagen die plebejischen Männer ein festes Lager auf, ohne dass sie angegriffen werden oder selbst angreifen. Während ihres Aufenthalts auf dem Heiligen Berg verbünden sich die Plebejer mit einem Eid und beschließen in geheiligten Gesetzen, dass sie plebejische Tribune zu ihrem Schutz und zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen einsetzen wollen. Diese tribuni plebis sollen unverletzbar, sakrosankt sein und ein Recht zur Hilfeleistung für die Plebs besitzen. Unterhändler und Patriziat akzeptieren diese Forderungen der nun konstituierten Plebs. Fortan werden den Plebejern eigene, sakrosankte Beamte zugestanden, und jeder, der die tribuni plebis ‚verletzt’, dem droht die Todesstrafe. Nach der Wahl von zwei Tribunen kehren die Plebejer zurück nach Rom.[16]

Drei Mal zogen die Plebejer aus, drei Mal kehrten sie zurück, ging es doch um den Kampf einer republikanischen politisch-rechtlichen Ordnung in Rom. Demnach ist der plebejische Exodus nicht der Beginn von etwas ‚Neuem’ im Sinne der Gründung einer eigenen Stadt mitsamt Verfassung. Er ist aber auch nicht allein eine Reaktion, sondern vor allem deshalb eine Aktion, weil dieser Entzug den ersten Akt für eine neu erfundene Konstituierung darstellt. Diese Konstituierung, mitsamt der darin entstehenden plebejischen Macht/Ordnung, kündigt das Instrument und die Waffe an, durch die in die bestehende, aber durch den Auszug bedrohte und instabil gewordene patrizische Macht- und Herrschafts-Ordnung interveniert wird. Keine neue Ordnung an einem neuen Ort wird somit geschaffen, sondern eine ‚alternative’ Ordnung als Mittel der Intervention.[17] Zunächst aber stellte der plebejische Exodus die Machtverhältnisse radikal in Frage, denn die Sezession bedeutet der Binarität zu entgehen, jener Binarität zwischen Befehl/Gesetz auf der einen und Aufruhr auf der anderen Seite, um mit einem gemeinsamen Vermögen wieder zurückzukommen und zu kämpfen.

In der Erzählung von Livius ist der Vermögensraum des Plebejischen, wenn man so sagen will, der Heiligen Berg ein paar Meilen jenseits der Stadt. Es ist ein Raum des Verbündens und der Organisierung.

Ohne ausreichende politische Rechte und ohne jegliche Interessenvertretung erfanden sich die Plebejer in gewisser Weise unabhängig von den bestehenden patrizischen Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen als politisch handlungsfähig. Ihre Strategie hierzu bestand in erster Linie in einer Selbstermächtigung, die ich mit dem Begriff der konstituierenden Macht fassen möchte.[18]

Der Begriff ‚konstituierende’ Macht bewegt sich gemäß der verschiedenen Bedeutungen des lateinischen Verbs constituo in einem Bedeutungsfeld von ‚zusammen’ ‚setzen’, von ‚hinsetzen’, ‚siedeln’, aber auch ‚sich entschließen’, ‚schaffen’, ‚festsetzen’. Durch das Präfix con- enthält constituo eine starke Bedeutung des Gemeinsamen, der gemeinsamen Setzung. In dieser Bedeutungslinie begründen „(g)emeinsame Verabredung und Beschlussfassung, ‚Kon-stituierung’ also, (…) eine gemeinsame Verfassung, die ‚Kon-stitution’“.[19]

Die Plebs setzte sich vor diesem Hintergrund auf dem Heiligen Berg als Interessengemeinschaft, als Bündnis zusammen: Nach Livius setzte sie sich dort oben zunächst „fest“, in einem festen Lager mit Wall und Graben und, wie er betont, „ohne Anführer“.[20] Niemand zwang oder führte die Plebejer, sie (ent)zogen (sich) zusammen, um sich dann in einem zweiten Schritt Tribunen als Vertreter zu geben. Die Formierung als Bündnis entwickelt sich zunächst führerlos, ohne Führung, ohne geleitet und regiert zu werden. Erst im Laufe des Konstituierungsprozesses entsteht Repräsentation, erst dann werden die Tribune gewählt.

Die Plebejer entschließen sich dazu, sich in einem Eid gemeinsam zu binden, und sich durch das Bündnis jenseits der patrizisch bestimmten Legalität politisch und rechtlich eigenmächtig zu sichern. Um dieses Vermögen, sich ausgehend von einer Gehorsamsverweigerung zusammenzuschließen, zu schützen und zu wehren, geht es mir, wenn ich von einer ‚plebejischen’ konstituierenden Macht spreche.

Diese Form der Kritik, die Verweigerung des Gehorsams ist in diesem Sinne eine produktive Praxis. Produktivität  bezieht sich auf die Konstituierung, auf die Zusammensetzung, Produktivität verweist auf die Fliehkraft und das konstituierende Vermögen. Die konstituierende plebejische Macht ist das Vermögen zur Zusammensetzung, zur Konstituierung einer eigenen Ordnung, das heißt das Vermögen zur (Selbst-)Organisierung.

Die Plebejer konstituierten sich als politische Interessengemeinschaft. Nicht aber als starre Ordnung, die sich auf Dauer in Rom separierte, um in einem ebenso starren dichotomen Verhältnis den Patriziern gegenüber zu stehen. Eher bewirkte die konstituierende Macht der Plebs eine bewegliche Ordnung, die einen politischen, rechtlichen und ökonomischen Transformationsprozess anstieß, der 287 v.u.Z. schließlich in die lex Hortensia mündete. In diesem Gesetz wurde vor allem festgelegt, dass die Plebiszite auch offiziell nicht mehr bloß Beschlüsse und Resolutionen der Plebejer darstellten, sondern nun ‚rechtliche’ Bindung für alle in Rom Lebenden besaßen.

Die plebejische konstituierende Macht, dieses Vermögen instituiert sich also durch mehrere Akte: zuerst durch den Entzug durch Auszug, den Exodus, dann durch den Akt des Eides und der Gesetzgebung, und schließlich durch die Schaffung eines Amtes, deren Inhaber die Plebs schützen sollte, die tribuni plebis, bei deren Verletzung höchste Strafen drohten. Mit diesen Akten verkehrten die Plebejer ihr geringes politisches Vermögen in eine solch potente Macht, dass sie für die Auseinandersetzungen mit den Patriziern gewappnet waren.

Der Exodus und die Selbstkonstituierung der Plebs modifizierten die Machtverhältnisse, in denen die Ordnungskämpfe zwischen Plebs und Patriziat stattfanden, statt die Macht der Patrizier als unveränderbaren Horizont zu akzeptieren. Doch ist die Kampfstrategie der plebejischen Männer eine, die wiederum begrenzt ist und Macht- und Herrschaftsverhältnisse jenseits der eigenen Interessen nicht infrage stellt, nicht aufkündigt und zurückweist. Während der gesamten Auseinandersetzungen zwischen Plebs und Patriziat wurde die Herrschaft des pater familias in der domus nicht grundlegend infrage gestellt, ebenso wenig die Sklaverei.

Für eine abstrakte Figur widerständiger Kritik muss also auch in diesem Rahmen noch einmal festgehalten werden: Das Vermögen einer konstituierenden Macht bleibt immer auch selbst begrenzt, produziert Ausschlüsse und manifestiert immer auch bestimmte Macht- und Herrschaftsverhältnisse, statt sie abzulehnen, umzukehren oder sogar zum Verschwinden zu bringen. Das Entgehen begrenzender Machtverhältnisse ist nur in dem Maße, nur mit den Mitteln möglich, die zum Gewahrwerden der Begrenzung zur Verfügung stehen. Es gibt nicht die eine Weise der Verweigerung, nicht die eine Weise des Entzugs, nicht die eine Weise der Kritik, sondern immer nur spezifisch begrenzte Weisen, die sich unterschiedlich aktualisieren. Trotzdem gilt für die plebejischen Kämpfe, dass sie die Zusammenhänge, in denen ein Problem als Problem auftaucht, verändern, statt die eine oder andere bereits angebotene Lösung zu wählen. Sie verändern das Machtgefüge und vervielfachen die Machtverhältnisse.[21]

Ohne die Konstituierung des Plebejischen erscheinen Machtverhältnisse als die Macht, als Herrschaftsverhältnis ohne Alternative, dessen gewordene Grenzen vermeintlich den Horizont bedeuten. Das Plebejische muss konstituiert werden, sonst bleibt es eine Potenzialität, die in Machtverhältnissen unentwegt entsteht. Nur wenn es als Plebejisches konstituiert wird, wenn es den Begrenzungen entgeht, setzt es sich neu zusammen. Das Plebejische bedeutet immer eine immanente Verweigerung, gerade deshalb ist es produktiv. Das Plebejische ist das Vermögen, die Machtverhältnisse produktiv zu verweigern und ihnen darin zu entgehen, wodurch sich das Gefüge der Macht beständig verändert und die eine oder andere begrenzende Regierungsweise verschwindet.



[1] Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin: Merve 1992; Michel Foucault: „Das Subjekt und die Macht“. In: Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M.: Athenäum 1987, S. 243-261, S. 260.

[2] Meine eigenen, im Weiteren hier nur angeschnittenen Überlegungen über das Plebejische sind Teil einer größeren Studie zu den römischen Ordnungskämpfen zwischen Patriziern und Plebejern und einer daraus erwachsenden politischen Theorie der Immunisierung.

[3] Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 35 ff .

[4] Michel Foucault: „Mächte und Strategien“. Gespräch mit Jacques Rancière für Les Révoltes logiques, Winter 1977. In: Michel Foucault: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. III, S. 538-550, S. 542.

[5] Der Begriff der Flucht ist für Foucault kein Ausrutscher. Noch 1982, wenige Jahre vor seinem Tod, schreibt er: Es gibt „kein Machtverhältnis ohne Widerstand, ohne Ausweg oder Flucht, ohne eventuelle Umkehrung (…).“ Foucault. Das Subjekt und die Macht, S. 259.

[6] Foucault. Mächte und Strategien, S. 542.

[7] Ebd.

[8] Liv. 2,23,1-2.

[9] Liv. 2,31,7 ff.; 2,32,1.

[10] Liv. 2,32,1.

[11] Liv. 2,32,2 [Herv. il].

[12] Die plebejischen Männer kämpfen mit dem Auszug aus Rom für ihre politische ‚Vollfreiheit’, das heißt in selbem Maße als ‚frei’ zu gelten wie die patrizischen Männer. Die freien römischen Frauen, Patrizierinnen und Plebejerinnen, galten nur in eingeschränkter Weise als frei, sie unterstanden der Gewalt ihres pater familias oder ihres Ehemannes. Sklavinnen und Sklaven hatten in der römischen Republik keinerlei Personenrechte, sie galten als ‚unfrei’.

[13] Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensform. Wien: Turia + Kant 2005, S. 98.

[14] Liv. 2,32,2.

[15] Vgl. Michael Walzer: Exodus und Revolution. Berlin: Rotbuch 1988.

[16] Liv. 2,32,4-33,3; 3,55,7; 3,55,10.

[17] Vgl. Roberto Fiori: Homo sacer. Dinamica politico-constituzionale di una sanzione giuridico-religiosa. Napoli: Jovene Editore 1996.

[18] Dies stellt nicht nur eine Anknüpfung an zentrale Theoreme politischer Theorie dar wie Antonio Negri: „Repubblica Constituente. Umrisse einer konstituierenden Macht“. In: Antonio Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin: ID 1998, S. 67-82; Gerald Raunig: Kunst und Revolution. Wien: Turia + Kant 2005, S. 56 ff.; Antonio Negri: Insurgencies. Constituent Power and the Modern State. Minneapolis, London: U.of Minnesota Press 1999. Der Begriff der konstituierenden Macht bedeutet letztlich auch eine Weiterführung der Sezessionseinschätzungen, in den Altertumswissenschaften: Vgl. Franz Wieacker: Römische Rechtsgeschichte. 1. Absch. Handbuch der Altertumswissenschaft. München: Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1988, S. 379; Theodor Mommsen:  Römisches Staatsrecht 2.1. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 274; Jürgen von Ungern-Sternberg: ‚Secessio’. In: Der Neue Pauly.Enzyklopädie der Antike. Hrsg. v. Hubert Cancik. Bd. 11, Stuttgart: Metzler 2001, Sp. 314 f.

[19] Gerald Raunig: Instituierende Praxen, No.2. Institutionskritik, konstituierende Macht und der lange Atem der Instituierung. In: Stefan Nowotny, Gerald Raunig: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik. Wien: Tura + Kant 2008.

[20] Liv. 2,32,4.

[21] Hier schließe ich mich Virnos Überlegungen an (vgl. Virno. Grammatik, S. 97 f.)