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Am 27. Juli nahm Silvio Berlusconi erstmals im italienischen
Parlament zu den Vorwürfen gegenüber der Polizei
bezüglich gewalttätiger Übergriffe und schwerer
Menschenrechtsverletzungen während des G8-Treffens und
danach Stellung. Er hielt, beständig lächelnd, einen
halbstündigen Monolog, in dem er zwar eine Aufklärung
der Vorwürfe versprach, gleichzeitig aber keinen Zweifel
darüber aufkommen ließ, dass er weiterhin an dem
von vielen Medien gezeichneten Bild einer Menge gewaltbereiter
Demonstranten, deren Zerstörungswut das Vorgehen der
Polizei rechtfertige, festhält. Zu Beginn seiner Rede
machte er sich in zynischer Weise über den Protest vieler
Abgeordneter lustig, indem er diesen als einer ehemaligen
Regierungskoalition unwürdig diskreditierte.
Indes waren die Vorwürfe, die in Zusammenhang mit der
Stürmung der Diaz-Schule und des unabhängigen Pressezentrums
erhoben wurden, so massiv geworden, dass selbst bürgerliche
Zeitungen - allen voran "La Repubblica" - begannen,
Zeugenaussagen zu veröffentlichen, die schockierende
Zusammenhänge hinter dem gesamten Polizeieinsatz vermuten
lassen. Ein anonym interviewter Polizist, der in der Kaserne
von Bolzaneto in der Nähe von Genua seinen Dienst versieht,
beschrieb detailliert, wie Einsatzkommandos der italienischen
Justizwache (polizia penitenziaria) schon vor dem Gipfel einen
Teil der Kaserne zu einem Gefängnis umfunktionierten.
Dorthin wurden in der Nacht des Sturms auf die Schule und
das Pressezentrum die Gefangenen gebracht, wo sie den Aussagen
des Polizisten zufolge stundenlang mit dem Gesicht zur Wand
stehen mussten, immer wieder geschlagen und bedroht wurden.
Wer aufs Klo gehen wollte, musste durch einen Spalier gehen
und seine Notdurft bei offenen Türen verrichten, andere
mussten faschistische Lieder singen. Frauen wurden sexuell
belästigt, mussten sich ausziehen und wurden mit der
Androhung sexueller Gewalt eingeschüchtert. Die Fotos
der gestürmten Gebäude mit den Blutspuren an den
Wänden der Diaz-Schule sprechen eine ebenso deutliche
Sprache. Etwa 20 Minuten lang prügelten die PolizistInnen
ohne Hemmungen auf alle Anwesenden ein. Ungefähr 60 Menschen
wurden auf Tragbahren aus der Schule getragen. Ein englischer
Journalist, der sich wegen der Betreuung einer Internetseite
in dem Medienzentrum aufgehalten hatte und an keiner einzigen
der Demonstrationen selbst teilgenommen hatte, wurde von den
Schlägen der Polizei so schwer verletzt, dass er einen
Lungenriss erlitt. Er verdankt sein Überleben nach eigenen
Angaben nur dem Umstand, dass ein in die Schule gekommener
Arzt die Polizisten davon abhielt, ihn in die Kaserne zu überstellen
und ihn sofort in ein Spital einliefern ließ.
Die Tatsache, dass diese Aktionen auch von Einheiten durchgeführt
wurden, die für die Bewachung der Gefängnisse zuständig
sind und die mit Kommandos des italienischen Geheimdienstes
zusam-mengearbeitet haben sollen, wirft einige Fragen hinsichtlich
des Zustands der Gewaltentrennung in Italien auf. Wie ist
es möglich, dass diese Einheiten in den zivilen Raum
eindringen und Zentren des Widerstands gegen den globalen
Kapitalismus und dessen desaströse soziale Folgen verwüsten,
die Subjekte dieses Widerstands verprügeln und in Polizeikasernen
transportieren können, ohne dass die Festgenommenen die
Möglichkeit haben, mit Anwälten zu sprechen oder
rechtzeitig eine ärztliche Untersuchung in Anspruch zu
nehmen?
Das hegemoniale Modell der liberalen westlichen Demokratien
verwandelt sich immer mehr zu einem leeren Topos, der einen
grundlegenden Zusammenhang verdeckt: Die Ausweitung der Märkte
und der Abbau von transparenten Regulativen bewirken, dass
der Zugang zu grundlegenden Rechten immer stärker denen
vorbehalten bleibt, die über die ökonomischen Ressourcen
und die geeigneten Netzwerke verfügen, ihre Rechte auch
durchzusetzen. Diesen schwelenden Kriegszustand sollte man
nicht außer Acht lassen, wenn man das Problem der Gewalt
in politischen Auseinandersetzungen diskutiert. Seine institutionellen
Voraussetzungen lassen sich am Beispiel Italiens einige Jahrzehnte
zurückverfolgen.
Dort sind im Lauf der 70er Jahre eine Reihe von Gesetzen und
Dekreten in Kraft getreten, die von vielen Kommentatoren und
nicht zuletzt auch immer wieder von amnesty international
scharf kritisiert wurden. Tatsächlich handelt es sich
um Bestimmungen, die verfassungsmäßig garantierte
Grundrechte einschränken und vor allem nach 1977 zu einem
Klima der Denunziation führten, das nicht ohne Wirkung
auf die italienische Justiz blieb. Es handelt sich dabei um
die institutionelle Antwort auf die ökonomische und soziale
Krise, die sich in den Massenprotesten der 77er-Bewegung artikulierte.
Diese Proteste wurden von einem solchen Maß an Verzweiflung
der Jugendlichen gegenüber ihren Lebensumständen
getragen, dass sie vor allem im März 1977 in Bologna
und Rom zu Unruhen und Aufständen führten, die unter
Einsatz des Militärs und spezieller Polizeieinheiten
niedergeschlagen wurden. In Bologna wurde, nachdem das Universitätsviertel
von den Jgendlichen drei Tage lang besetzt worden war, im
Zuge der Niederschlagung des Aufstandes auch die unabhängige
Radiostation Radio Alice gestürmt. Der staatliche
Kampf gegen den Terrorismus weitete sich dann zu einer Jagd
auf autonome Gruppierungen und Intellektuelle aus, die aufgrund
ihres politischen Engagements in den Arbeitskämpfen und
in der 77er-Bewegung zunächst der "geistigen Mittäterschaft"
des linksextremen Terrors bezichtigt wurden. Am 7. April 1979
wurden dann 140 Intellektuelle (unter ihnen der Philosoph
Antonio Negri) festgenommen und als "Drahtzieher"
der Roten Brigaden angeklagt. Die Prozesse zogen sich bis
weit in die 80er Jahre, und obwohl man den Angeklagten im
strengen Sinn nichts nachweisen konnte, wurden dennoch viele
zu langen Strafen verurteilt.
Carlo Ginzburg, ein berühmter Historiker, hat in seinem
Essay "Der Richter und Historiker" anlässlich
des Prozesses gegen Adriano Sofri darauf hingewiesen, dass
sich der Richter in den Verhandlungen immer wieder als "Historiker"
betätigt hat. Aus widersprüchlichen Zeugenaussagen
wurden Zusammenhänge konstruiert, die für die Urteilsfindung
eines unabhängigen Gerichtes aufgrund des Mangels an
Beweisen keine Bedeutung haben dürften. Diese Praxis
wurde ebenfalls von Beobachtern der Verfahren gegen die Angeklagten
des 7. April kritisiert und als inquisitorisch eingestuft.
Der Historiker und Soziologe Sergio Bologna spricht deshalb
von einer Stellvertreterfunktion der Justiz, die eine mangelnde
politische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Kämpfen
der 70er Jahre und der damit verbundenen Krise kompensieren
sollte. Das Prinzip eines Prozesses, der fast ausschließlich
auf der Glaubwürdigkeit von selbst belasteten Zeugen
aufbaut (der so genannte pentitismo), wurde dann in
den Mafia-Prozessen der 80er Jahre noch weiter ausgebaut.
Eine der Bestimmungen der "Legge Cossiga", eines
Gesetzes aus dem Jahr 1980, das vor allem die "Vereinigung
mit terroristischen Zielen und dem Zweck der Zerstörung
der demokratischen Ordnung" unter Strafe stellte und
die Basis des Prozesses gegen die Angeklagten des 7. April
bildete, betrifft auch die am 22. Juli 2001 inhaftierten und
am 14. August vorläufig entlassenen Mitglieder der VolxTheater-Karawane.
Dieses Gesetz wurde von amnesty international schon
im Jahresbericht von 1980 kritisiert, unter anderem deshalb,
weil Festgenommene bis zu 96 Stunden ohne Konsultation eines
Rechtsanwaltes festgehalten werden können. Den Mitgliedern
der Karawane wird nach Artikel 416 des Codice penale
"associazione per delinquere" (Vereinigung zu verbrecherischen
Zwecken) vorge-worfen.
Die für ihr Lächeln bekannte österreichische
Außenministerin Ferrero-Waldner weigerte sich anfangs,
sich für die inhaftierten österreichischen Mitglieder
der VolxTheaterKarawane auf diplomatischem Wege einzusetzen,
wie dies etwa die deutschen Bundestagsabgeordneten Ströbele,
Buntenbach und Lippmann getan hatten. Dass sie aus Akten des
Innenministeriums über die Gefangenen zitierte und in
einer Pressekonferenz behauptete, einige der Festgenommenen
seien schon in Österreich durch die "Störung
der öffentlichen Ordnung und Hausbesetzungen" aufgefallen,
stellt eine Verletzung der Unschuldsvermutung und folglich
eine Missachtung der Grundrechte der Betroffenen dar. Diese
Ak-teneinträge waren, wie sich später herausstellte,
in die Anklage der italienischen Justiz eingegangen, da sie
von der österreichischen Polizei auf der Basis des so
genannten "Polizeikooperationsgesetzes" an die italienischen
Behörden weitergeleitet worden waren. An diesem Zusammenspiel
von Behörden und MinsterInnen über nationalstaatliche
Grenzen hinweg wurde deutlich, wie leicht es möglich
ist, aufgrund von Datenbanken, die inquisitorischen Registern
gleichen, welche jederzeit für politische Interessen
eingesetzt werden können, öffentliche Denunziation
und Kriminalisierung von Menschen mit politischen Anliegen
zu betreiben.
Der Tatsache, dass die Ausnahmegesetzgebung jener Zeit und
die Kontinuitäten in der Rechtsprechung eine offensichtliche
Aushöhlung der Grundrechte darstellen, kommt in Bezug
auf die Ereignisse um den Gipfel von Genua eine besondere
Bedeutung zu. Die verschiedenen Gruppen und Initiativen, die
sich im Zusammenhang des Protestes gegen die Folgen der so
genannten Globalisierung herausgebildet haben, streben eine
politische Auseinandersetzung an, die mit konkreten Inhalten
verbunden ist. Von der Regulierung der Finanzmärkte zugunsten
sozialer und ökologischer Belange über eine gerechte
Verteilung der materiellen und symbolischen Ressourcen, die
Forderung nach einer gerechten Migrations- und Asylpolitik
bis zur Forderung nach garantierten Grundrechten unabhängig
von Herkunft und Nationalität wurden in den letzten Jahren
immer wieder Modelle entwickelt, um mit den RepräsentantInnen
der reichsten Länder und den VertreterInnen der transnationalen
Organisationen in Verhandlungen eintreten zu können.
Das Ergebnis war die wiederholte Bekundung des Verständ-nisses
für die Anliegen, zu der die in den Verhandlungen erzielten
Kompromisse in einem krassen Gegensatz stehen. Die Inhalte,
die von diesen Gruppen formuliert und vertreten werden, können
in jedem Fall zur Basis von Verhandlungen und politischen
Entscheidungsprozessen gemacht werden, die über Verträge,
Abkommen oder Gesetze institutionalisiert werden können.
Wenn jedoch die Strategie der gewählten RepräsentantInnen
auch auf internationaler Ebene darauf hinausläuft, die
außerinstitutionellen Kämpfe zu kriminalisieren,
indem AktivistInnen eingeschüchtert, Opfer polizeilicher
Willkür und staatlich gedeckter Gewalt werden, dann stellt
sich die Frage, ob nicht sie es sind, die ihr Mandat überschreiten
und Mittel der politischen Auseinandersetzung ergreifen, die
man nur unter dem Begriff Repression subsumieren kann.
Neben den inhaltlichen Forderungen der so genannten GlobalisierungsgegnerInnen,
die eine Massenbewegung darstellen und deshalb eine große
innere Vielfalt aufweisen, geht es in der öffentlichen
Diskussion immer mehr um die Frage, in welcher Form es noch
möglich ist, diese Inhalte zu artikulieren. Die Konstruktion
einer "internationalen Organisation" mit dem Namen
"Black Block" stellt den Versuch dar, das Politische
an den mannigfaltigen Artikulationsformen zum Verschwinden
zu bringen. Dem absurden Versuch, der VolxTheaterKarawane,
die sich bei vielen Gelegenheiten öffentlich zu ihrem
Engagement geäußert hat, klandestine, kriminelle
Motive zu unterstellen, muss deshalb mit öffentlichem
Protest und jenem kritischen und historischen Bewusstsein
begegnet werden, für das es keine Grenzen und deshalb
auch keine Gefängnisse gibt: der Freiheit des Denkens.
[Der zweite Teil des Textes wurde zuerst veröffentlicht
in: Falter 33/01, S.5f.]
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