Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

10 2004

Russische Flash Mobs

Oleg Kireev

Übersetzung: Therese Kaufmann

Translators
languages

In Russland wurden Flash Mobs zuerst nur als neuer Hype betrachtet, das Wesentliche daran war aber die Geschwindigkeit, mit der wir von ihnen erfahren haben, und der süße Geschmack ihrer Verbreitung durch Kommunikation. Die Ideen konnten mit der Schnelligkeit einer Internetverbindung übertragen werden, und es waren nicht die Ideen der Politik oder transnationaler Konzerne, sondern sie betrafen den öffentlichen Raum, Aktionen und ein urbanes Umfeld. Für viele junge Leute, von denen die meisten erst in den letzten Jahren ihre Mobiltelefone oder PCs erworben haben, bedeutete dies ein erfrischendes Zeichen einer globalen Inklusivität des Internets im fortgesetzten Boom des Hi-Tech-Konsums. Doch sehr schnell wurde diese Tendenz auf die Probe gestellt, angeeignet und in lokale Formen der Anwendung umgewandelt.

Vorab sind hier ein paar Worte über die Aktionsformen in der russischen Szene einer "Politik von unten" zu verlieren. Anders als in westlichen Ländern, wo Aktivismus und Straßenhappenings seit den 1960er Jahren in mehr oder weniger starker Ausprägung dazu gehörten, waren sie für uns neu, und in den 90er Jahren wurden wir ZeugInnen eines regelrechten Triumphs radikaler Straßenaktionen. Mitglieder der KünstlerInnengruppe "Radek" errichteten im Mai 1998 eine Barrikade aus Kunstwerken, die zur Feier des dreißigsten Geburtstags der Pariser StudentInnenrevolten 1968 den Verkehr einer der zentralen Straßen Moskaus blockierte. Am 1. Mai 2000 und 2001 organisierte die Jugendbewegung "SVOI 2000" Straßenparties mit einer Kolonne von Clowns, die den riesigen, offiziellen Demonstrationen der KommunistInnen, NationalistInnen, SozialistInnen, ReformistInnen, usw. folgte. Die TeilnehmerInnen der  "SVOI 2000"-Kolonnen waren orange gekleidet und verkündeten mit Trommeln und Trompeten vollkommen absurde Slogans mit der Idee einer "Aneignung des Stadtraums", im Russischen "osvoenie", was so viel wie das Gegenteil von Entfremdung bedeutet. Flash Mob wurde einfach aufgrund seines Funktionierens zur logischen Fortsetzung einer Aktionsform: Statt an einem riskanten politischen Protest teilzuehmen, was immer mit der Gefahr verbunden ist, von der Polizei verprügelt und festgenommen zu werden, konnte man nun zu einem hippen und trendig technologisierten Event gehen, mit den anderen anonymen TeilnehmerInnen seinen Spaß daran haben und dabei jeden Polizisten mit der frechen Antwort: "Protest? Politik? Das ist ein FLASHMOB!" abwehren. Gleichzeitig war der Flash Mob als Instrument der Selbstorganisation durch das Internet in der Lage, Möglichkeiten indirekter politischer Partizipation viel weiter zu verbreiten als jede Aktion vor den Zeiten des Internets.

Wie allseits bekannt, ist das oberste Prinzip des Flash Mob, sich von Politik fern zu halten. Aber sobald die russischen Flash Mobs auftauchten, wurden sie zum zentralen Element für jene, die "osvoenie" wollten. Sie waren zwar nicht von Anfang an politisiert, mussten aber notwendigerweise politische Implikationen haben. Jede Aktion im öffentlichen Raum muss implizit politisch werden, wenn sie im Kontext eines extrem durch Konsum und Militarismus geprägten autoritären Systems stattfindet, und verweist auf das, was beim letzten next5minutes4-Festival in Amsterdam im September 2004 unter dem Titel "urbane Interventionen" formuliert wurde.

Die erste Flash Mob-Aktion, die in unseren Annalen verzeichnet ist, fand am 7. September statt und nannte sich: "Es ist schwer, ohne Fernsehen zu leben."  Ein Mob von einigen Dutzend Leuten hatte sich vor einem der riesigen LED-Screens auf dem Puschkinplatz mit Fernbedienungen versammelt, und sie begannen, darauf herumzudrücken, als ob sie zwischen den Kanälen wechseln würden. Dabei muss man hinzufügen, dass dieser Platz für viele öffentliche Demonstrationen bekannt ist, so fanden dort vor einem Jahr zum Beispiel die Proteste gegen die Schließung des letzten, vom Staat unabhängigen TV-Kanals NTV statt.

Die FM-Websites (www.fmob.ru, www.flashmob.ru) wurden von Anfang an von verschiedenen Fans befüllt und standen keineswegs abseits von intellektuellen und kulturellen Diskussionen. Die "Artikel"-Sektion enthielt eine Reihe von Texten zur Tradition des künstlerischen Aktivismus wie Susan Sontags Text über Happenings. Dies ist wahrscheinlich einer "Non-Spektakel"-Involvierung in die Flash Mob-Bewegung zu verdanken. Die "nicht-spektakularistische" Kunstwelle war in Moskau 2002 aufgetaucht und gründete sich hauptsächlich auf dem Konzept, dass Kunst versteckt und unsichtbar werden müsse. Den Repräsentationsmechanismen entfliehend und die AutorInnen anonymisierend, musste sie bald aus dem Raum der Galerien in den Raum der Straßen und der Metro verschwinden, und nichts hätte einer neuen Erscheinung des Nicht-Spektakels förderlicher sein können, als die geheimen Manipulationen im urbanen Raum und der selbstorganisierte Intellekt eines Mobs, der zeitlich, aber nicht räumlich wahrnehmbar war, nur für einen Moment auftauchend und sich dann im Fluss des Verkehrs eines überfüllten, überkapitalisierten Moskau zu verlieren.

Ein Aktionsszenario wurde leider nie realisiert: Ein Autor schlug vor, einen Polizisten ausfindig zu machen, der die heute in Moskau alltägliche Routine erfüllt - nämlich die sich durch die Straßen bewegende Menschenmenge zu beobachten, um eine Person herauszufischen und ihre Dokumente zu kontrollieren -, sich nach und nach um ihn zu versammeln und ihn so zum Objekt der Beobachtung zu machen. Dafür gelang den Mobbern eine andere Aktion, "Grüße an Big Brother", indem Dutzende von Personen vor einer Überwachungskamera in einem langen, überfüllten Gang in der Metro ihre Pässe zeigten. 

Eine Aktion, die erst vor kurzem stattfand, war eine "Razzia". Während der Razzien der Miliz auf dem Markt beispielsweise müssen sich die Personen mit dem Gesicht zur Wand und mit den Händen im Nacken, die Beine breit, aufstellen oder mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen. Wir können diese Bilder täglich in den Nachrichten oder in eigenen Berichten der Miliz sehen. So wurden die beschriebenen Positionen vom Mob für die nächste Aktion am 17. Oktober 2004 gewählt, und die Teilnehmenden stimmten überein, dass die dreiminütige Aktion ein Gefühl von Solidarität vermittelt hatte, das viel länger währte.

Was die politische Nutzung von Flash Mobs anbelangt, möchte ich eine Aktion beschreiben, die im ganzen Land breiten Nachhall fand. Wobei hier betont werden muss, dass eine Flash Mob-Aktion anonym durch eine Koordinationswebsite organisiert wird, ausgewählt durch eine Online-Wahl und von Leuten durchgeführt, die einander möglicherweise nicht kennen, oder - nach Wikipedia - eine Gruppe von Leuten, die sich plötzlich an einem öffentlichen Ort versammeln, etwas Ungewöhnliches oder Auffälliges tun, und dann verschwinden. Normalerweise organisieren sie sich über das Internet oder mit anderen Vernetzungsmedien. http://en.wikipedia.org/wiki/Flashmob). Sobald die Aktion in irgendeiner politischen Kommandozentrale geplant wird und auf die Propagierung der Perspektiven einer bestimmten politischen Partei abzielt, ist es nicht wirklich ein Flash Mob. Die Rechtfertigung der Bezeichnung als solcher besteht darin, dass das Flash Mob-Label genützt wird, um einer Bestrafung wegen illegaler Aktionen ohne Erlaubnis der Behörden zu entkommen. Dieser Trick wurde im späten Februar 2004 von einer modernen kommunistischen Partei (über die ich bereits in den Kulturrissen 04/03 berichtet habe) angewandt. Eine Gruppe von Leuten, die Putin-Masken trugen und Transparente, auf denen die verschiedenen Katastrophen der Putin-Ära verzeichnet waren ("Das U-Boot sank", "Die Metro explodierte", etc.) kam zum Haus der früheren Residenz unseres Präsidenten und begann zu schreien: "Vova go home!" "Vova" ist der Diminutiv von "Vladimir", und die Rufe imitierten die Anweisungen einer Mutter an ihr Kind. Die Aktion erlangte auch wegen ihrer schnellen und gewaltsamen Räumung durch die Miliz Berühmtheit.

Mitte 2003 eine weltweite Neuheit, wurden Flash Mobs in Russland von manchen AktivistInnen sogar als revolutionäres "Know-How" vor den Parlamentswahlen im Dezember 2003 und den Präsidentschaftswahlen im März 2004 betrachtet. Die eben beschriebene Aktion hatte einen großen Effekt vor den Wahlen, und vielleicht war es auch sie, die den weiteren Prozess auslöste. In Vladimir versammelten sich Menschen auf dem Hauptplatz um einen Sarg und feierten den "Tod der Demokratie" - eine im künstlerischen Sinn zwar eher flache Idee, die jedoch in eine komische "Show" mündete, als die Miliz den Sarg übernahm und damit davon rannte. In einer weitaus inspirierenderen Aktion wiederum umzingelten die Mobber von Khabarovsk einen Wasserturm und begannen Schneebälle auf ihn zu werfen und zu schreien: "Vova, komm runter!"

Die Geschichte der russischen Flash Mobs ist bei weitem nicht zu Ende, aber wir bemerken, dass die Polizei schließlich das neue Wort gelernt hat, und das macht weitere Aktionen etwas schwieriger. Außerdem machen es in der anhaltenden amerikanischen Militärordnung die Geheimdienste der Welt ihren super-technologisierten, Cyber-beobachtenden, elektronischen und biometrischen US-KollegInnen gleich. Das heißt, dass die Flash Mobs bald zum Ziel von Beobachtungen, Drohungen und Präventivschläge werden können, und es gibt bereits Hinweise darauf, dass sie schon observiert werden. Wenn die Vergangenheit gezeigt hat, dass Mobs sich selbst organisieren können, werden sie einen Weg finden, sich unter geänderten Bedingungen weiter zu entwickeln? Aber ein Flash Mob ist ein arbeitendes soziales Labor. Wie ein Text auf einer fmob.ru-Seite sagt,"weiß keiner jemals, wie viele Leute zu einer Aktion kommen werden. Aber es ist immer aufregend zu denken, dass alle kommen könnten. Am interessantesten ist es, sich ein FM-Szenario für alle Menschen auf der Welt vorzustellen. Denn es muss sicher ganz einfache Aktionen geben, die simultan von jedem/r ausgeführt werden können - und dann wird die Welt komplett anders werden, wird sich nur für einen Moment verändern ..."