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09 2008
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Jeden Tag einen neuen Film!

Gerald Raunig

Zanny Begg und Oliver Ressler dokumentieren Heiligendamm

Gerald Raunig

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Die Anti-G8-Proteste im deutschen Heiligendamm im Sommer 2007 waren ein bedeutender Höhepunkt linker und linksradikaler Bewegungspraxis. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie bewiesen haben, dass die Antiglobalisierungsbewegung auch sechs Jahre nach 9/11 keineswegs zu Ende gekommen ist. Die Mythen von Genua und 9/11 als doppeltem Bruch und Beginn eines Niedergangs der sozialen Bewegungen im Sommer 2001 haben sich als falsch erwiesen. Die Metamorphosen der Bewegung sind beträchtliche, und auch Brüche sind nicht von der Hand zu weisen; doch nicht im Sinne eines Niedergangs, sondern im Sinn einer Qualität von Bruch und Transformation, von Neuerfindung und Neuzusammensetzung, eines Suchens nach neuen Formen politischer Organisation und sozialer Verkettung.

„What would it mean to win?“ lautet die titelgebende Frage des Films von Zanny Begg und Oliver Ressler über Heiligendamm und die aktuellsten Aspekte sozialer Bewegung. Dahinter schwingen andere Fragen mit: Ist es überhaupt möglich zu gewinnen? Und vorher noch: Gegen wen? Und noch abstrakter: Will hier überhaupt irgendwer „gewinnen“?
Um es gleich vorweg zu nehmen: Eine Grundaussage des Films besteht darin, dass „Gewinnen“ in den Figuren eines einheitlichen revolutionären Subjekts und der Übernahme der Staatsmacht keine große Zukunft hat. Vielmehr muss das „Wir“, das sich diese Frage nach der Bedeutung des Gewinnens stellt, selbst die Form einer Frage annehmen, die Form einer undefinierten Bewegung, holpernd und stotternd vielleicht, wie die Musik zu den Zeichentrick-Fragmenten in Beggs und Resslers Film, die die Bilder von Aktionen und theoretischen Kommentaren um spielerische Reflexionen ergänzen.

Wie dieses fragmentierte, multitudinäre „Wir“ sich jeder Definition und jeder organischen Repräsentation entzieht, macht es auch Sinn, dass Begg und Ressler, statt die spektakulären Riots in Rostock am Beginn des Gipfels zu thematisieren oder die medienträchtigen Greenpeace-Aktionen an den Küsten von Heiligendamm, sofort in die dichten Tiefen der mikropolitischen Gefüge in den Feldern und Camps um den G8-Gipfel eintauchen. Die Bilder und Originaltöne, die die beiden KünstlerInnen von den Aktionen und sozialen Organisationsformen um Heiligendamm eingefangen haben, sind eindrucksvoll, sowohl in ihrem Inhalt, als auch in der behutsamen und genauen Weise, wie diese Inhalte und Aktionen filmisch präsentiert werden. Besonders überzeugend sind dabei die malerischen Bilder der Blockaden und der Versuche, die Polizeilinien im weiten Hinterland von Heiligendamm zu durchbrechen; vor allem die Bilder von der Effektivität der „Fünffingertaktik“ in den weiten Wiesenlandschaften an der Ostsee, jener Strategie der wiederholten Aufteilung größerer Gruppen beim Kontakt mit Polizeilinien, bis deren Lücken schließlich zum Durchbruch führten.

Diese Zerstreuungen, Auffaltungen, Vervielfältigungen entsprechen auch der aus dem Zapatismus entliehenen Forderung des Films, dass das Leben nicht jeden Tag denselben Film bedeuten müsse, sondern im Gegenteil jeden Tag einen neuen. Statt die eine Welt des globalen Kapitalismus zu affirmieren, aber auch statt sich damit zu bescheiden, dass eine andere Welt möglich sei, geht es darum, viele Welten zu erfinden. Dies impliziert zum einen die Vervielfältigung anderer Welten, aber auch die konkrete Aktualisierung der Möglichkeit im Hier und Jetzt: täglich einen neuen Film, ein unendliches Filmprogramm, ein unendliches Programm der Erfindung von Welten.

Emma Dowling, eine der sechs ProtagonistInnen des Films, verweigert demgemäß auch die Beantwortung der konjunktivischen Frage nach der Bedeutung des Gewinnens, indem sie das gegenwärtige Werden der Bewegung in Heiligendamm als Gewinnen deutet: Ihre Aussage „We are winning!“ referiert genau auf die ausgedehnte Gegenwart des Zusammenkommens, des Austausches, der Diskussionen in den Camps, der Delegitimierung einer illegitimen Macht wie jener der G8, andererseits aber auch auf die Proliferation dieses gegenwärtigen Werdens in den Alltag jenseits und über Heiligendamm hinaus, in die noch immer von Rassismus und (Hetero-)Sexismus bestimmten Alltagskämpfe, in das situierte Wissen und die lokalen Diskurse.

Schon die Aktionen von Heiligendamm, ihre Ästhetik und Form könnten als Zitate der Zeit um 1968 gedeutet werden: teils vielleicht unbewusst, teils mit ironischer Reflexion, etwa wenn ein Block der „nackten Macht“ – zwanzig nackte Männer und Frauen auf Tuchfühlung fast mit den Schildern und Knüppeln der Robocops-Linien – den Slogan „Wer uns anfasst, ist pervers“ skandiert. Was hier mehr oder weniger liebevoll ironisiert und kommentiert wird, ist einerseits die mediale Konstruktion und das konsequente Realwerden von machistischen Black Blocks, wie sie ein paar Tage davor in Rostock in die Schlagzeilen geraten waren, andererseits aber auch die Woodstock-Tradition der Inszenierung von quasi-unschuldiger Nacktheit.

Die neueren Aktionsformen der Sambabands, Anti-G8-Cheerleaders und Clown Armies koinzidieren mit ästhetisch-politischen Aufnahmen von Praktiken der 1960er Jahre. Begg und Ressler greifen diese Ästhetik der Aktionen auf und überführen sie auch in die formalen Aspekte ihres Films. Wenn der Film mit Bob Dylans „Blowing in the Wind“ beginnt, interpretiert von einem Mundharmonika-Aktivisten, und mit der Szene von zwei Tambourine-Women im Camp endet (die gendertechnische Adaptierung von „Hey, Mr Tambourine Man!“), dann sind das solche Aufnahmen eines doppelten Zeitgeists (1968-2007), die glücklicherweise ihren zugleich distanzierten und empathischen Anspielungscharakter nicht verlieren. Im Gegensatz zum Social Forum steht hier nicht Gilberto Gil, oder dem 60er-Revival entsprechend vielleicht Joan Baez auf einer großen Bühne, der Film bietet vielmehr eine Bühne für mikropolitische Praxen und ästhetisch-politische Existenzweisen. Hierin liegt auch die Stärke der Arbeit von Begg und Ressler im Vergleich mit anderen Beispielen visueller Repräsentation der Antiglobalisierungsbewegung: Aspekte der Gegeninformation und Gegenpropaganda nicht zu denunzieren, sondern eher aufzuheben, daneben aber auch mehrere Ebenen der Reflexion einzubauen, die es vermeiden, eine allzu einfache Lösung der Fragen nach dem „Wir“, nach der Macht, nach der Qualität des Gewinnens vor- und einzuschlagen…