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09 2008
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Reggio Emilia, Stadt der Rechte?

Europäische Unterstützungskampagne für das Wohnprojekt des Collettivo Sottotetto im Viertel Compagnoni in Reggio Emilia

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„Der Regenbogen, und ist er auch in einer Wasserlacke, ist Poesie.
Poesie der Straße, aber er ist immer noch Poesie.“

 
Eine europäische Solidaritätskampagne unterstützt das Wohnprojekt des Collettivo Sottotetto und verurteilt die Maßnahmen der verantwortlichen PolitikerInnen: ein offener Brief, der an Bürgermeister und Stadtregierung von Reggio Emilia gerichtet ist, kann von Organisationen, Einzelpersonen, Projekten in ganz Europa unterzeichnet werden und dem Projekt eine wichtige europäische Stütze sein. Der von den UnterstützerInnen unterzeichnete Brief steht auf der Homepage http://www.globalproject.info/art-16777.html und wird nach Ende der Kampagne öffentlich dem Bürgermeister von Reggio Emilia überreicht.

Das Collettivo Sottotetto, ein im norditalienischen Reggio Emilia[1] ansässiges und seit dem Frühjahr 2006 bestehendes Kollektiv, hat es sich zur Aufgabe gesetzt, den Diskurs um das Recht auf ein Dach über dem Kopf in der Stadt wieder öffentlich präsent zu machen. Das Recht auf eine Wohnung als Grundrecht jedes Menschen, um eine Basis für ein würdevolles Leben zu haben, wird vom Kollektiv nicht nur theoretisch propagiert, sondern auch praktisch eingefordert und umgesetzt.  Nun ist, passend ins Licht der „Säuberungsstrategien“ eines immer unsozialeren, rassistischeren und intoleranteren Italiens, eines der wichtigsten Projekte des Collettivo Sottotetto in seiner Existenz bedroht:

Im symbolträchtigen Viertel Compagnoni in Reggio Emilia, dem seit einem halben Jahrhundert bestehenden Viertel der ArbeiterInnen, der Arbeitslosen und sozial Ausgeschlossenen mit über 400 Sozialwohnungen, werden seit Jahren über Hundert Wohnungen leer und ungenutzt gelassen und nicht mehr vermietet. Das Viertel war im Jahr 1959 erbaut worden, um die Innenstadt von ‚sozial schwachen’ Bevölkerungsschichten zu „säubern“ und diese in die Via Compagnoni, damals extreme Peripherie der Stadt, zu verfrachten. Die Geschichte wiederholt sich: Das Viertel, durch den urbanen Wachstum inzwischen zentrumsnah gelegen, soll bis zum Jahr 2011 geschliffen werden, ein großer Teil seiner BewohnerInnen wird in andere Stadtviertel umgesiedelt. Auf dem Baugrund werden um Millionen Euro neue Häuser erbaut, welche teilprivatisiert werden, die Anzahl der Sozialwohnungen wird sich nach Schleifung und Wiederaufbau in diesem Viertel drastisch verringern. Gleichzeitig stehen 850 Familien in Reggio auf der Warteliste für eine Sozialwohnung, jede 135. Familie in der Stadt ist von Zwangsräumung aufgrund von Zahlungsunfähigkeit betroffen.

Das Collettivo Sottotetto hat einige dieser über Hundert seit Jahren im Viertel Compagnoni leerstehenden Wohnungen auf eigene Kosten wieder benützbar gemacht: die Wohnungen wurden geputzt, renoviert, möbliert und von italienischen und migrantischen Familien und in prekären Verhältnissen arbeitenden Personen bewohnt und wiederbelebt. Die BesetzerInnen zahlen eine symbolische Miete an die zuständige Wohnbaugesellschaft und haben durch die Wohnungen, mit denen sie keine Schulden machen, eine Basis für den Wiederbeginn eines Lebens in Würde gesetzt[2].

Doch im Projekt des Collettivo Sottotetto geht es nicht darum, sich in die eigenen vier Wände einzuschließen, die Wohnungen sind ein Dach über dem Kopf und noch viel mehr.

Sie stellen eine konkrete, phantasievolle und konstruktive Antwort auf neoliberale Politik-Strategien und die zunehmende Prekarisierung des gesamten Lebens dar. Kollektives Handeln, Solidarität und Interkulturalität werden hier gelebt, jeden Tag, mit allen Schwierigkeiten und Widersprüchen, doch real und konkret. Eine tunesische Familie mit zwei Kleinkindern, eine sardische alleinerziehende Mutter, ein prekär Beschäftigter aus Deutschland, ein Künstler aus Burkina Faso neben einer aus drei Frauen und drei Generationen bestehenden Familie aus Reggio Emilia, um nur ein paar derer zu nennen, die die leerstehenden Wohnungen eingenommen haben. An diesem Ort. In diesem Viertel. Unterschiedlichste Geschichten, verschiedene Leben, die sich hier miteinander verknüpfen, etwas Neues schaffen an einem konkreten Ort. Gemeinsames Essen im Hof, der mit seinen vielen Bäumen und Parkbänken noch soziales Leben ohne Konsumzwang ermöglicht, das in neueren Vierteln oft von vornherein architektonisch ausgeschlossen ist. Ein gemeinsames Kunstprojekt, Habitat: Teil davon ist die Eröffnung des Museums zeitgenössischer Kunst, M.A.C.R.E, Anfang August, in einer der besetzten und renovierten Wohnungen. Konzert mit Violoncello vom Balkon aus am Abend der Eröffnung des M.A.C.R.E., BewohnerInnen und ZuhörerInnen im Hof auf alten Sofas. Kinder, die währenddessen fangen spielen. Die alten, historischen BewohnerInnen des Viertels, die mit Neugierde und großem Interesse kommen, dem Konzert lauschen, Aperitivo trinken und den Menschen des Collettivo Sottotetto über die vergangenen Zeiten erzählen. In Projekten wie diesen wird, durch Zusammenleben von ItalienerInnen und MigrantInnen die viel diskutierte Sicherheit geschaffen, und dies ganz ohne Überwachungskameras oder eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften.

Seitdem das Kollektiv da ist, ist das Viertel wieder lebendiger, ein bisschen so wie es früher war: Treffen auf den Parkbänken, gemeinsame Diskussionen und Projekte. Soziales Leben, wie es in vielen neuen, nach Sterilität und Konsum riechenden Wohnhausanlagen nie geschehen wird. Kollektive Erinnerung wird weitergewebt, ein Stück Stadt-Geschichte nicht nur gewahrt sondern auch gelebt.

Genau dieses Projekt ist nun in seiner Existenz bedroht. Die Stadtregierung bezeichnet das Projekt, bei dem die seit Jahren leerstehenden Wohnungen eingenommen wurden, als ‚rechtswidrig’, während sie genau weiß, dass sie den Familien keine realistische und annehmbare Alternative vorschlagen konnte oder besser wollte. Der tunesischen Familie wurde das ‚Angebot’ gemacht, den Rückflug nach Tunis zu bezahlen (!), während einer anderen Familie vorgeschlagen wurde, dass sie doch für 20 Euro pro Tag auf eigene Kosten in der Jugendherberge schlafen könne.

Schon seit Monaten geschehen Schikanen, die bei weitem nicht nur das Collettivo Sottotetto ungläubig blicken lassen. So wurden in zahlreichen Wohnungen Sanitäranlagen und Fenster zerschlagen sowie alle Türen herausgenommen, damit sie nicht besetzt werden können. Anfang August wurde den Familien eines besetzten Wohnhauses der Strom abgedreht, und dies trotz eines gültigen Vertrags mit dem Stromanbieter, bezahlter Stromrechnungen und mehrerer hier lebender sieben Monate bis drei Jahre alten Babys und Kleinkinder.

Mitte August, während ein großer Teil der Stadtbevölkerung samt Bürgermeister am Meer auf Urlaub waren, passierte ein groteskes Szenario, das eher an einen schlechten Action-Film erinnert: um 5 Uhr früh kam eine Hundertschaft in mit Kampfmontur, Helmen und Schildern bekleideten Polizisten ins Viertel gestürmt und räumte eines der besetzten Wohnhäuser; vollbewaffnete Polizisten, die bei Morgengrauen Spielzeug aus den Wohnungen trugen, machten wohl auf niemandem einen guten Eindruck. Die Familien sind nun auf der Straße, ihnen wurden bis dato keine annehmbaren Vorschläge von Seiten von Sozialarbeitern und Stadtregierung unterbreitet, das Wohnhaus wird nun doch vorzeitig abgerissen (eine Straße wird dorthin gebaut). Auch die in anderen Wohnhäusern befindlichen vom Collettivo Sottotetto besetzten Wohnungen sind von der Räumung bedroht.

Eine europäische Solidaritätskampagne wird dieses Wohnprojekt des Collettivo Sottotetto unterstützen und verurteilt die Maßnahmen der verantwortlichen PolitikerInnen: ein offener Brief, der an Bürgermeister und Stadtregierung von Reggio Emilia gerichtet ist, kann von Organisationen, Einzelpersonen, Projekten in ganz Europa unterzeichnet werden und dem Projekt eine wichtige europäische Stütze sein. Der von den UnterstützerInnen unterzeichnete Brief wird auf der Homepage www.globalproject.info veröffentlicht (etwa Mitte September) und nach Ende der Kampagne dem Bürgermeister von Reggio Emilia überreicht.

Im folgenden der offene Brief, wenn du ihn unterzeichnen möchtest, schick ein Mail mit Namen, bzw. Namen des Projekts und kurze Angabe über Projekt bzw. Person (evtl. Beruf o.Ä.) und Stadt an: soli_sottotetto@libero.it, wenn du eine eigens formulierte Unterstützungserklärung abgeben möchtest, sende sie ebenfalls an diese Mailadresse (sie wird dann auf Italienisch übersetzt). Diese Unterstützungskampagne ist zwar zunächst rein virtueller Art, das Wohnprojekt kann jedoch – solange es nicht gänzlich geräumt ist – nach Kontaktaufnahme auch real und konkret besucht werden.

 
Für weitere Information über das Collettivo Sottotetto einige Links:

Homepage Collettivo Sottotetto (Italienisch) http://sottotetto.noblogs.org/summary.php

Artikel in Il Manifesto vom 8.August 2008, http://www.globalproject.info/art-16648.html

Abit-azione, Zeitschrift des Kollektivs Sottotetto, zweite Ausgabe, Frühjahr 2008 (Italienisch)
http://www.globalproject.info/IMG/pdf/abit_azione2_pdf-2.pdf

Eröffnung des Museums zeitgenössischer Kunst in einer der ehemals leerstehenden Wohnungen im Viertel Compagnoni am 3.8.2008 http://www.globalproject.info/art-16623.html

Photos zur Eröffnung des Museums (sind durch Anklicken vergrößerbar)
http://www.globalproject.info/gal-16623.html
http://www.globalproject.info/gp_galleria.php3?id_article=16623&debut_doc=12

Räumung eines besetzten Wohnhauses im Quartiere Compagnoni am 13.8.2008
http://www.globalproject.info/art-16683.html

Photos der Räumung (vergrößerbar)
http://www.globalproject.info/gal-16683.html
http://www.globalproject.info/gp_galleria.php3?id_article=16683&debut_doc=12

Artikel zur Wohnrechtsbewegung in Reggio Emilia, in: Kulturrisse, Dezember 2007 (Deutsch)
http://igkultur.at/igkultur/kulturrisse/1199972006/1200659039

 
Für Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung (soli_sottotetto@libero.it).

 
Unterstützungskomitee des Collettivo Sottotetto
Reggio Emilia – Berlin – Bremen – Wien – Stockholm



[1] Reggio Emilia hatte vor gar nicht allzu langer Zeit den auch internationalen Ruf der Modellstadt Italiens: antifaschistische Tradition, linke Stadtregierung, Arbeit und Wohnung für alle, kurz: soziale Sicherheit verknüpft mit interessanten kulturellen Projekten.

Davon ist heute nicht viel übrig geblieben, die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse schreitet in Reggio Emilia als einer der reichsten italienischen Städte genauso wie im Rest des Landes ungebremst voran, oder besser gesagt, sie wird durch die Politik der jeweils Regierenden vorangetrieben. In Reggio ist es heute keineswegs mehr selbstverständlich, ein Dach über dem Kopf zu haben: die immer noch Mitte-Links regierte Stadt hat in den letzten 15 Jahren die Anzahl der Gemeinde- und Sozialwohnungen von 3900 auf 1021 auf beinahe ein Viertel gekürzt, während 850 Familien auf der Warteliste für eine dieser Wohnungen stehen. Im selben Zeitraum wurden 14000 neue private Wohnungen erbaut, Tausende Wohnungen stehen zu Spekulationszwecken leer. Immer mehr Menschen verschulden sich durch schwindlige Kredite oder schlicht und einfach, weil sie die viel zu hohen Mieten am privaten Wohnungsmarkt nicht mehr zahlen können. Reggio ist die Stadt in Italien mit der fünfthöchsten Anzahl an Räumungen und Zwangsdelogierungen. Die Fassade der Modellstadt bröckelt ab.

[2] Leerstehende Wohnungen zu besetzen ist eine in ganz Italien relativ weit verbreitete Praxis in Anbetracht der extrem geringen Anzahl geförderter Gemeindewohnungen und der in den Sternen stehenden Miet- und Kaufpreisen am privaten Immobilienmarkt; im Herbst 2007 wurde eine Frau in Rom vom Obersten Gerichtshof freigesprochen: Eine Wohnung aus Armut zu besetzen ist kein Vergehen, so der Urteilsspruch.