eipcp Policies Anticipating European Cultural Policies
11 2002
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Europäische Kulturpolitiken vorausdenken

Therese Kaufmann / Gerald Raunig, eipcp.

Übersetzung aus dem Englischen: Therese Kaufmann

Therese Kaufmann / Gerald Raunig

Therese Kaufmann

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Gerald Raunig

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Therese Kaufmann (translation)

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Im Auftrag von IG Kultur Österreich und EFAH,  mit Unterstützung des BKA, Kunstsektion, Abt. II/7.

Einleitung


„Man erzählt uns über die Zukunft Europas und von der Notwendigkeit, Banken, Versicherungen, Binnenmärkte, Unternehmen, Polizei zu vereinheitlichen, Konsensus, Konsensus, Konsensus – aber das Werden der Leute?“ (Gilles Deleuze)

  Der europäische Konvent strebt die Erarbeitung einer umsetzbaren Konstitution für eine ebenso vertiefte wie erweiterte Europäische Union an. Dieser Konstituierungsprozess ist eher als später Versuch zu sehen, die existierenden Verträge und ihre Verbindungen untereinander transparent, kontrollierbar und kritisierbar zu machen, denn nur als Zentralisierungsmechanismus, der die Rechte der in Europa lebenden Menschen minimiert. Vielmehr ist dies eine Gelegenheit, die viel weit reichendere, über einen reinen Konsens der europäischen Regierungen und die bevorstehende Ratifizierung neuer Verfassungsdokumente hinausreichende, Konsequenzen nach sich zieht. Es geht um einen konstituierenden Prozess, der eine fortwährende konfliktuelle Diskussion über die Zukunft Europas begründen und in einer formativen Entwicklung europäischer Öffentlichkeiten für die in Europa lebenden Menschen resultieren muss.

Der vorliegende Text will diese Diskussion durch eine Stärkung des Bewusstseins über die spezifischen Funktionen des zeitgenössischen kulturellen Felds, seiner AkteurInnen und Institutionen in der zukünftigen Entwicklung Europas intensivieren. Diese Auseinandersetzung muss von den bestehenden Grundlagen ausgehen, den gesetzlichen Rahmenbedingungen und aktuellen Ansätzen zum Thema Kulturpolitiken auf EU-Ebene. In einer Betrachtung der historischen Entwicklung sowie einer Re-Lektüre und Diskussion der existierenden Dokumente und ihrer einzelnen Paragraphen wird deshalb im ersten Teil des vorliegenden Texts die aktuelle kulturpolitische Diskussion auf EU- Ebene untersucht.

Im zweiten Teil sollen Konzepte vorausgedacht wer„Man erzählt uns über die Zukunft Europas und von der Notwendigkeit, Banken, Versicherungen, Binnenmärkte, Unternehmen, Polizei zu vereinheitlichen, Konsensus, Konsensus, Konsensus – aber das Werden der Leute?“ (Gilles Deleuze)den, die die engen, sich nur allzu oft entweder auf ihren primären Gegenpol, den Markt, oder aber auf sich selbst konzentrierenden kulturpolitischen Diskurse hinter sich lassen. Kulturpolitik in Europa dreht sich heute vornehmlich um veraltete Begrifflichkeiten mit geringem Bezug zu zeitgenössischen diskursiven und theoretischen Ansätzen. Die Basis der Kulturpolitik scheint vor allem aus den Gerüchten von den Brüsseler Korridoren und dem auf Flügen von und nach Brüssel verbreiteten Tratsch zu bestehen. Um diesen Kreislauf traditionellen kulturpolitischen Jargons und seiner hohlen Phraseologie zu durchbrechen und zeitgenössische Theorien mit aktuellen kulturpolitischen Themen zu verknüpfen, schlagen wir im zweiten Teil des vorliegenden Texts eine Reihe von neuen Begrifflichkeiten und Konzepten für diese Diskurse vor. Wir konzentrieren uns auf allgemeinere zentrale Konzepte, die als Basis für ein neues Verständnis von Kulturpolitik dienen sollen: Politiken der Differenz, temporäre Autonomie im kulturellen Feld, neue Formen der Subjektivität im kulturellen Feld, Transversalität, Partizipation und die Herstellung kritischer Öffentlichkeiten.

Im dritten Teil des Texts schlagen wir schließlich eine vorläufige Liste adäquater Maßnahmen zur Stärkung des zeitgenössischen kulturellen Felds und zur Unterstützung der Umsetzung neuer Kulturpolitiken innerhalb des rechtlichen Rahmens der EU vor. Intention dieser vorläufigen Forderungsliste ist es, eine nachhaltige Debatte über konkrete Maßnahmen und Programme in Gang zu bringen, die in der Lage ist, über die Gemeinplätze aktueller Kulturpolitik hinauszugehen. Es ist uns durchaus bewusst, dass es sich bei dieser Liste nur um einen Beginn handelt. Trotzdem glauben wir, dass es notwendig ist, ein – wenn auch fragmentarisches – Modell für die Entwicklung verschiedener konkreter Vorschläge aus den abstrakten Konzepten heraus zu erarbeiten. Es ist unser Ziel, die Arbeit an dieser Verknüpfung fortzusetzen und uns über die nächsten Monate und Jahre – sowohl von Seiten des eipcp als auch mit der Unterstützung EFAHs und der Netzwerke, Institutionen und AkteurInnen im kulturellen Feld in Europa – in die Diskussion einzuklinken.

Da die drei Teile dieses Texts drei unterschiedliche politische Ebenen repräsentieren (von einer analytischen über eine konzeptuelle zu einer pragmatischen Ebene), unterscheiden sie sich notwendigerweise auch stilistisch, und  die diskursiven Lücken und Brüche zwischen ihnen sollen nicht verborgen werden. Ebenso wie diese Differenzen implizit kennzeichnend sind für die betreffenden Diskurse, ist es eines der Ziele und eine grundlegende Konzeption des eipcp, die Linien zu untersuchen, die die verschiedenen Ebenen von Theorien, Praxen und Politiken verbinden und überschreiten.

Für die Arbeit an diesem Text haben wir nicht bei Null begonnen, sondern  wir stützen uns auf die Ideen, Gedanken, Fragestellungen und Vorschläge, die in zahlreichen Dokumenten, Diskussionspapieren und Diskussionen von vielen Personen und Organisationen im kulturellen ebenso wie im akademischen Feld entwickelt wurden. Einige dieser Dokumente und Materialien führen wir in der Literaturliste an, doch war es uns nicht möglich, allen Linien der AutorInnenschaft der letzen Jahre zu folgen und all jene anzuführen, die zu einem Prozess der Konzeptualisierung europäischer Kulturpolitiken beigetragen haben.

Wir nehmen im vorliegenden Diskussionspapier einen kritischen Standpunkt gegenüber nationalistischen und lokalistischen Perspektiven ein, die –  u. a. auf  der Basis eines zwanghaft engen Verständnisses des "Prinzips der Subsidiarität" – gewissenhaft jede Erwähnung europäischer Kulturpolitiken vermieden haben. In gewisser Weise wird dies hier umgedreht. Wir berücksichtigen keine anderen kulturpolitischen Ebenen, sondern konzentrieren uns hier ausschließlich auf mögliche Szenarien europäischer Kulturpolitiken und auf die Argumentation, warum diese dringend notwendig sind. Nicht spezifisch auf Fragen der Aufteilung von Kompetenzen zwischen den lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Ebenen einzugehen, bedeutet allerdings nicht, das Prinzip der Kompetenzenteilung ganz aufzugeben. Stattdessen geht es uns darum, nachdrücklich zu betonen, dass das Konzept der Subsidiarität nicht als Entschuldigung gebraucht werden sollte, um einer kritischen Diskussion und konkreten Aktionen in Bezug auf die Verantwortung und die Möglichkeiten der EU auszuweichen. Dieser Text konzentriert sich deshalb auf die Förderung von Vielfalt und einer Politik der Differenz durch die Umsetzung konkreter europäischer Kulturpolitiken.

Mit besonderem Dank an
Frédérique Chabaud und Dragan Klaic (EFAH), Andrea Hummer, Raimund Minichbauer und Stefan Nowotny (eipcp)


I. Voraussetzungen für Kulturpolitiken in der Europäischen Union: eine Rekonstruktion


"Kultur" in der EU – eine ambivalente Situation

Was die Praxis anbelangt, scheint die derzeitige EU-Politik für Kultur in einem Zustand der Ambiguität gefangen, geprägt durch das Auseinanderklaffen zwischen großen Ambitionen einerseits und einem Mangel an politischem Pouvoir andererseits, zwischen finanzieller Vernachlässigung, Desinteresse und einer gleichzeitigen Instrumentalisierung von Kultur als ideologisches Schlachtfeld. Trotzdem haben inter- und transnationale Aktivitäten im kulturellen Feld in Europa und darüber hinaus in bedeutendem Ausmaß zugenommen, und es zeigt sich deutlich, dass dem kulturellen Feld eine wesentliche Funktion im Kontext aktueller politischer und sozialer Entwicklungen innerhalb der EU ebenso wie in einem globalen Kontext zukommt.

Diese schwierige Situation ist zu einem großen Teil dadurch begründet, dass Kultur in der EU an einen relativ engen rechtlichen Rahmen gebunden und das diesem Bereich zuerkannte Budget extrem bescheiden ist. Die verfügbaren Mittel entsprechen weder den Bedürfnissen des kulturellen Sektors (z. B. Netzwerke, Mobilität, transversale und interdisziplinäre Aktivitäten) noch den von policy makers entwickelten prestigeträchtigen Programmen, wie den Rahmenprogrammen für Kultur. Was die rechtliche Basis anbelangt, wird Kultur hauptsächlich von einem einzigen Artikel (Art. 151) unterstützt. Doch hat dieser in den 10 Jahren, seit er in den Vertrag über die Europäische Union aufgenommen wurde, weder die intendierten Effekte erzielt, noch konnte seine vollständige Umsetzung erreicht werden.

Da gleichzeitig von geringer Bedeutung und ideologisch hoch aufgeladen, stellt "Kultur" ein kontroversielles Thema dar – vor allem, wenn es um die Diskussion über die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geht. Im Kontext der Debatte im Europäischen Konvent und der Versuche, Interessen- und Machtkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten zu überwinden, bedeutet dies, dass Kultur sicherlich nicht Top-Priorität ist. Zu groß sind außerdem die Befürchtungen, dass Kultur einer jener Punkte sein könnte, die nicht verhandelt werden können, ohne das Aufbrechen neuer, nicht leicht überbrückbarer Gräben zwischen den Mitgliedstaaten zu riskieren.

Politiken und Programme, die das kulturelle Feld betreffen, bleiben in der EU auf "harmlose Bereiche" wie Austausch und Kooperation beschränkt, u. a.  weil sie an eine zu rigide Interpretation des Prinzips der Subsidiarität gebunden sind. Um zu sehen, dass die Grenzen dieser Bereiche längst überschritten wurden, reicht ein Blick auf die real stattfindenden Aktivitäten – auf der Ebene der verschiedenen AkteurInnen des kulturellen Felds ebenso wie auf jener der so genannten Cultural oder Creative Industries – und selbst auf die Diskussion innerhalb der EU-Institutionen.

 
Argumente für Kulturpolitiken auf EU-Ebene

Der kulturelle Sektor, der seit langem innerhalb der EU und über ihre Grenzen hinaus transnational und transdisziplinär aktiv ist, reagiert auf die Programme und EU-Haushaltslinien für Kultur mit riesigem Interesse und Engagement. In der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Feld im europäischen Kontext und seinem Verhältnis zu anderen politischen Bereichen und Themen gibt es mittlerweile eine Reihe ernst zu nehmender, konkreter Vorschläge und Ansätze. Und doch bleibt die reine Erwähnung "europäischer Kulturpolitiken" noch immer im Bereich des Unaussprechbaren, ein Tabu.

In diesem Text wollen wir für die Weiterentwicklung europäischer Kulturpolitiken eintreten, und zwar basierend auf zwei Punkten: Erstens würde eine solche Weiterentwicklung nur die logische Konsequenz einer kontinuierlichen Entwicklung darstellen, die sich durch die gesamte Geschichte der EU, von ihren Anfängen bis zur Aufnahme des Artikels 151 in den Vertrag über die Europäische Union und darüber hinaus verfolgen lässt. Zweitens bestehen heute in der EU bereits Politiken, die auf das kulturelle Feld einwirken, selbst wenn sie nicht seinen Notwendigkeiten und den Herausforderungen in einem sich verändernden Europa und einem "globalen Kontext" entsprechen. Dies gilt beispielsweise für die transnationalen Aktivitäten einer Vielzahl kultureller Initiativen, Netzwerke, KünstlerInnen und TheoretikerInnen mit Unterstützung nationaler und internationaler Einrichtungen sowie der EU, die – trotz aller Hindernisse und des Mangels an finanziellen Mitteln – weit über die kulturellen Aktivitäten der Außenministerien ihrer Länder hinausgehen. Darüber hinaus ist das kulturelle Feld längst zu einem wesentlichen Faktor für die Bereiche Beschäftigung, urbane Entwicklung und Strukturentwicklung sowie in verschiedenen Produktions- und Dienstleistungssektoren geworden. Allerdings – und dies betrifft vor allem den audiovisuellen Sektor und den üblicherweise als "Cultural Industries" bezeichneten Bereich – besteht hier die Tendenz zu einem einseitigen, sich hauptsächlich auf die kommerziellen Aspekte von Kultur konzentrierenden, Blick.

"Europäische Kulturpolitiken" müssen konkrete Maßnahmen gegen diese Entwicklung in Richtung eines eindimensionalen, neoliberalen, von Erfolg und Profit getriebenen Verständnisses von Kultur, das das Argument für die "Erhaltung und den Schutz kultureller Vielfalt" ausschließlich für protektionistische Anliegen nützt, setzen. Es müssen angemessene rechtliche, finanzielle und politische Voraussetzungen geschaffen werden, um es dem kulturellen Feld zu ermöglichen, seine Rolle als Teil der demokratischen Entwicklung der EU, der Entwicklung kritischer Öffentlichkeiten, wahrzunehmen. Dies verlangt nach einem progressiven Zugang zu (kultureller) Vielfalt, Differenz und Konflikt und nach einer aktiven Auseinandersetzung mit den Themen sozialen Wandels, der so genannten Wissensgesellschaft, mit Bildung, Migration, Globalisierung, usw. – kurz, einer Berücksichtigung der felderübergreifenden  Qualität des kulturellen Felds. Dies ist nicht im Sinne einer Legitimation und Rechtfertigung der Unterstützung für Kultur gemeint, sondern, um die politische Dimension des kulturellen Felds in einem offenen und demokratischen Europa zu stärken, die Durchlässigkeit seiner Grenzen und die Überschreitung abgeschotteter Felder zu ermöglichen.

 
Chronologie einer Entwicklung

Kultur in der EU: von den Anfängen bis zur Aufnahme in die Verträge

Mit dem Vertrag von Maastricht, der im Dezember 1991 vom Europäischen Rat beschlossen wurde, fügte die EU zum ersten Mal einen Artikel zum Thema Kultur in die Verträge ein. Bis dahin wurde Kultur nicht als europäische Kompetenz anerkannt, doch hatte eine allmähliche Entwicklung zu dieser legislativen Regulierung multilateraler Kooperation geführt. Diese Entwicklung kann durch die gesamte Geschichte der EU, entlang der Veränderung von einer Wirtschafts- zu einer politischen Union, verfolgt werden und ist vor allem mit dem Aspekt der "europäischen Integration" verknüpft. Eine andere Maßnahme in Zusammenhang mit Kultur, wenn auch eher ökonomisch motiviert, bestand in der Schaffung von Regelungen für "kulturelle Güter und Dienstleistungen" im gemeinsamen Markt. In beiden Fällen waren und sind die damit zusammenhängenden Diskussionen mit der Idee der Förderung und des Schutzes der "kulturellen Vielfalt" in der EU verknüpft, unterstützt von einer Reihe von Konventionen, Deklarationen und anderen Instrumenten.

Obwohl davor keine spezifischen gesetzlichen Regelungen bestanden, wurden kulturelle Aspekte in Europa schon in einer relativ frühen Phase berücksichtigt. In den Verträgen von Brüssel 1948 und Paris 1954 (Westeuropäische Union) wurde kulturelle Kooperation nur "begrüßt", aber bereits 1949 wurde der Europarat mit den Zielen der Förderung von Demokratie, Menschenrechten und kultureller Kooperation gegründet.

Die Betonung auf den internationalen, weltweiten Kontext der Förderung kultureller Kooperation legend und mit dem International Institute of Intellectual Co-operation (IICI) als Vorläufer, wurde 1945 in London die UNESCO mit dem Ziel gegründet, "durch Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Völkern in Bildung, Wissenschaft und Kultur zur Wahrung des Friedens und der Sicherheit beizutragen". Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 verankerte "das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen", als Grundrecht, und fügte Kultur damit in einen viel breiteren politischen Kontext ein.

1954 wurde die Europäische Kulturkonvention verabschiedet, auf deren Basis der Europarat allmählich die Verantwortung der Cultural Affairs Commission der WEU übernahm. 1957 legte der Vertrag von Rom die Ausnahme "nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert" (Art. 36) vom freien Warenverkehr fest.

Die Entwicklung von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu einer politischen Union brachte auch eine stärkere Berücksichtigung von Kultur mit sich: Bereits 1961 definierte der Fouchet-Plan Kooperationen in Wissenschaft und Kultur als eines der Ziele der Union, und zwischen den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren wurde Kultur auch mit – in der Union als inhaltliche Ansätze neuen – sozialen und regionalen Fragestellungen verknüpft.

Insbesondere von 1977 an regte die Europäische Kommission durch eine Reihe von "Mitteilungen” eine Debatte über Kultur an (1977 "Community action in the cultural sector”, 1982 "Stronger Community action in the cultural sector”, 1987 "A fresh boost for culture in the European community”). Die dritte dieser Mitteilungen enthielt auch ein Kapitel über kulturelle Kooperation, das zur Grundlage des Artikels 128 des Vertrags von Maastricht (dem heutigen Artikel 151 des Vertrags von Amsterdam) wurde.

Während der 1980er Jahre erfuhren kulturelle Aspekte einen generellen Aufschwung in der EU, beispielsweise durch die 1983 in Stuttgart unterzeichnete Feierliche Deklaration zur Europäischen Union, die die Mitgliedstaaten zu gemeinsamen Aktivitäten im kulturellen Bereich aufforderte. In dieser Zeit wurde auch an ersten Finanzierungsmodellen gearbeitet, was vor allem den Bemühungen des Europäischen Parlaments zu verdanken ist. Der Europäische Rat verabschiedete eine Reihe von Entschließungen, die verschiedene kulturelle Initiativen einleiteten, von der Europäischen Kulturstadt 1985 (heute: Kulturhauptstadt Europas) bis zur Einrichtung von "grenzüberschreitenden Kulturreiserouten" (1986), von denen einige als erste Pilotprogramme und Vorläufer für die später von der Europäischen Kommission initiierten Förderungsprogramme angesehen werden können. Die Treffen der KulturministerInnen wurden 1987 institutionalisiert, der Kulturausschuss des Europäischen Parlaments wurde 1988 gegründet.

 
Die weitere Dynamisierung durch Gemeinschaftsprogramme 

Der Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht) enthielt einen speziell der Kultur gewidmeten Artikel (Art. 128, heute Art. 151 des Vertrags von Amsterdam), der der EU zum ersten Mal formal Kompetenzen im kulturellen Bereich zusprach. In Verbindung damit präsentierte die Kommission 1992 eine Mitteilung über "New Prospects for Community Cultural Action”. Obwohl die Finanzierungsmöglichkeiten immer sehr eingeschränkt waren und neue Programme für Kultur immer nur nach äußerst langwierigen Verhandlungen zustande kamen, kam es zu einer weiteren Dynamisierung kultureller Aktivitäten.

1994 präsentierte die Kommission Vorschläge für die Programme "Kaleidoskop” (Programm zur Förderung künstlerischer und kultureller Initiativen mit europäischer Dimension) und "Ariane” (Bücher und Lesen), ein Jahr später für ein Programm im Bereich des Kulturerbes. 1996 wurde der "Erste Bericht der Kommission über die Berücksichtigung der kulturellen Aspekte in der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft" mit einer ersten Beurteilung der Umsetzung von Artikel 151 publiziert. Im selben Jahr wurde das Programm "Kaleidoskop" beschlossen, die Programme "Ariane" and "Raphael" ein Jahr später (1997).

1998 schließlich präsentierte die Kommission das Rahmenprogramm zur Finanzierung kultureller Kooperation, "Kultur 2000", und organisierte das erste Europäische Kulturforum, in dessen Rahmen eine rückblickende Betrachtung der Aktivitäten der EU im kulturellen Feld seit 1993 stattfand. Während die Programme "Kaleidoskop" and "Ariane" verlängert wurden, wurde 1999 "Connect” ins Leben gerufen, das erfolgreich die Bereiche Bildung und Kultur verknüpfte.

Im Jahr 2000 beschlossen das Europäische Parlament und der Europäische Rat das Programm "Kultur 2000" mit einem Budget von 167 Millionen Euro für fünf Jahre (2000-2004). Das Programm wurde inzwischen bis 2006 verlängert, und es werden Diskussionen über Nachfolgeprogramme geführt.

 
Eine kontinuierliche Entwicklung auf mehreren Ebenen

Diese Chronologie einer kontinuierlichen Entwicklung von Aktivitäten der EU im kulturellen Bereich, die von den 1970er Jahren an, und vor allem während der 1980er und 1990er Jahre, erweitert und intensiviert wurden, zeigt deutlich, dass keine der Aktivitäten erst 1993 begann. Schon bevor der Vertrag von Maastricht (und damit der "Kulturartikel”) in Kraft trat, gab es eine Vielzahl von Initiativen und Aktivitäten.

Eine Bestätigung für diesen Trend lässt sich auch in der Unterstützung der Europäischen Film- und Fernsehindustrie (z.B. "MEDIA"), der Direktive "Fernsehen ohne Grenzen" von 1989, der Berufsbildung im kulturellen Bereich, Bildung ("Leonardo", "Sokrates"), der Kultur in Regionalprogrammen und in Forschung und Technologie finden.

Eines der bemerkenswertesten Beispiele in diesem Zusammenhang stellt die Finanzierung von kulturellen Projekten durch die Strukturfonds dar, die den mit Abstand größten Anteil an EU-Mitteln für Kultur stellen. Hauptziel der vier zu den Verteilungsmechanismen der Strukturfonds zählenden Gemeinschaftsinitiativen-Programme INTERREG, LEADER, EQUAL und URBAN, von denen auch das kulturelle Feld sehr stark profitiert hat, ist es, die zwischen den Regionen und Mitgliedstaaten der Union bestehenden Entwicklungsdisparitäten abzubauen und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken. Das kulturelle Feld wird so als wesentlicher Faktor zur Erreichung diese Ziele erkannt, namentlich in den Bereichen Beschäftigung, soziale Kohäsion, Regionalentwicklung, IT, Tourismus, etc. Dies deutet wieder auf die transsektoriale Qualität des kulturellen Felds und seine Verbindung mit beinahe jedem Aspekt heutigen Lebens hin – weit hinausreichend über jenen der "kulturellen Zusammenarbeit" als Hauptziel aktueller Kulturpolitik in der EU. Allerdings sollte dieses Argument nicht zu einer Instrumentalisierung oder einer reinen Rechtfertigung des kulturellen Felds herhalten müssen, sondern eher darauf hinweisen, dass die Kulturpolitik ebenso wie die Regional-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik diese Vielzahl von Querverbindungen mit anderen Bereichen berücksichtigen sollte.

Parallel zu dieser Entwicklung auf der Ebene der EU-Institutionen, ihr aber meist vorangehend, gab es eine kontinuierliche Dynamisierung grenzüberschreitender Kooperationen, Interaktionen und Austauschprojekte im so genannten dritten Sektor, zwischen unabhängigen kulturellen Initiativen, Gruppen und Organisationen. Dies schloss auch die Schaffung formeller und informeller europaweiter Netzwerke ein, die ihre Aktivitäten und Kompetenzen kontinuierlich ausbauten und entwickelten. Darüber hinaus haben die Netzwerke in zunehmendem Maße einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung in Bezug auf europäische Themen geleistet und fungieren als Schnittstellen zwischen den europäischen Institutionen und dem kulturellen "Feld".

Diese Netzwerke waren und sind auch jetzt noch besonders von der prekären Finanzierungssituation betroffen, die oft noch dadurch verschärft wird, dass nationale und regionale Stellen sich nicht für ihre Unterstützung verantwortlich fühlen, während die Europäischen Institutionen über keine ausreichenden Mittel dafür verfügen – schon gar nicht mit einer mittel- oder langfristigen Perspektive. Trotzdem haben – wie das Beispiel des European Forum for the Arts and Heritage (EFAH) und vieler anderer zeigt –, die Aktivitäten von Netzwerken von 1992 an stark an Intensität zugenommen. Einige waren bereits in den 1980er Jahren, parallel zur Verstärkung der Maßnahmen der EU im kulturellen Feld, gegründet worden. Die Netzwerke richteten Koordinationsbüros ein, hielten konstituierende Meetings ab, erweiterten den Kreis ihrer Mitglieder und förderten den gegenseitigen Austausch, die Mobilität und Kooperation in den verschiedensten Bereichen des kulturellen Felds.

 
Der rechtliche Rahmen: eine kritische Analyse von Artikel 151

Es gibt drei Artikel im Vertrag von Amsterdam, die eine explizite Erwähnung von "Kultur" beinhalten: Artikel 3q besagt, dass die Aktivitäten der Gemeinschaft "einen Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung sowie zur Entfaltung des Kulturlebens in den Mitgliedstaaten" umfassen sollen, und schreibt damit eine gewisse Verantwortung der Gemeinschaft in diesem Feld fest. Artikel 87(3)d befasst sich mit Kultur in Verbindung mit den Handelsvorschriften der EU. Er ermächtigt die Mitgliedstaaten zu "Beihilfen zur Förderung der Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes" – vorausgesetzt, dass diese mit dem gemeinsamen Markt kompatibel sind.

Die wichtigste gesetzliche Regelung für kulturelle Aktionen in der EU aber ist Artikel 151 des Vertrags von Amsterdam (ex-Artikel 128 des Vertrags von Maastricht). Er fordert die EU auf, von ihren Instrumenten Gebrauch zu machen, um kulturelle Initiativen zu unterstützen, und zwar unter der Zielsetzung, dass die EU "einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes" leistet (Paragraph 1).

Diese grundsätzliche Erklärung evoziert bereits die Spannung zwischen den zwei wesentlichsten konzeptionellen Elementen: einerseits jenem einer angenommenen Gemeinsamkeit, die durch die Idee einer gemeinsamen Geschichte und eines geteilten kulturellen Erbes getragen wird, andererseits der kulturellen Vielfalt in Europa, die es zu schützen und zu erhalten gilt. Generell wird diese Spannung nicht so sehr als Widerspruch wahrgenommen, sondern scheint leicht vereinbar im Diktum der "unity of diversities”.

Die Konstruktion eines "gemeinsamen kulturellen Raums", basierend auf der Beschwörung einer gemeinsamen Geschichte und eines gemeinsamen Erbes mit der Intention, ein "europäisches Bewusstsein", also ein erhöhtes Zugehörigkeitsgefühl, zu fördern, muss als problematisch angesehen werden, wenn dadurch eine ausschließende, fixierte und scheinbar kohärente Konzeption von Europa als kulturellem Raum gefördert wird, die auf einer binären Opposition von Innen und Außen basiert. Eine konservative Interpretation von Diversität beharrt auf stabilen Identitäten und zwingt das Konzept zurück in einen essenzialistischen Rahmen der Übereinstimmung und der Vereinheitlichung – und wird damit ebenso leer wie reaktionär.

Wenn kulturelle Vielfalt aber nicht nur die Differenzen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten oder Regionen, sondern auch innerhalb dieser berücksichtigt, und wenn sie verstanden wird als ein kontinuierlicher Prozess des Austauschs, als Auseinandersetzung mit Schnittpunkten, Wechsel und Differenzierung in Raum und Zeit, kann sie zu einem produktiven Konzept werden. Ein progressives Verständnis von Diversität schließt nicht nur eine Auseinandersetzung mit politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen wie Migration oder aktuellen Prozessen zunehmender Differenzierung und Individualisierung in der Gesellschaft mit ein. Weder leugnet es auf defensive Weise Differenz, noch scheut es konfliktuelle Auseinandersetzungen, sondern impliziert die Förderung der Idee dynamischer Differenzen, die Gegenstand konstanten Austauschs und fortdauernder Neuverhandlung sind.

 
Zusammenarbeit und Austausch

Paragraph 2, Art. 151 definiert den Umfang der EU-Aktivitäten bezüglich Kultur folgendermaßen:

-   Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker,
-   Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung,
-   nichtkommerzieller Kulturaustausch,
-   künstlerisches und literarisches Schaffen, einschließlich im audiovisuellen Bereich

Dies kann eindeutig als Verantwortung der EU in Bezug auf Kultur interpretiert werden, von der Ebene der künstlerischen/kulturellen Produktion, über die Ebene der Verbreitung kultureller Produkte inklusive der historischen Kenntnisse darüber, bis zur Ebene der Erhaltung. Eine progressive Lesart letzterer umfasst nicht nur, was heute Teil der Geschichte und des – materiellen und immateriellen – kulturellen Erbes geworden ist, sondern auch das, was permanent im Werden ist und bereichert wird durch alles, was ganz aktuell im kulturellen Feld in Europa produziert wird oder stattfindet. In seiner Hauptsache aber konzentriert sich der Artikel auf die Zusammenarbeit, vor allem auf nichtkommerziellen Kulturaustausch, was nicht nur ein bemerkenswert klares Statement ist, sondern auch ein unerlässliches Erfordernis darstellt in Bezug auf die zunehmende Dominanz der so genannten "Cultural Industries” in den transnationalen Aktivitäten in Europa ebenso wie auf globaler Ebene.

Doch sollten wir die Tatsache nicht übersehen, dass diese Aktivitäten im Artikel auf die "Kultur und Geschichte der europäischen Völker" eingeschränkt werden. Hier wird wieder eine feststehende und homogene kulturelle "Entität" konstruiert, während Geschichte und Kulturen, die nicht einfach den "europäischen Völkern" zugeschrieben werden können, automatisch von diesem Diskurs des Von-einander-Lernens, des Austauschs und der Kooperation ausgeschlossen werden – egal, wie signifikant ihre Einflüsse auf und ihre Überschneidungen mit Europa im Laufe der Zeit gewesen sein mögen. Die in diesen Zeilen skizzierten Ziele und Aktivitäten schließen nicht alle, die in Europa leben, mit ein.

Paragraph 3 besagt: "Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten fördern die Zusammenarbeit mit dritten Ländern und den für den Kulturbereich zuständigen internationalen Organisationen, insbesondere mit dem Europarat". Dies stellt eine gewisse Öffnung dar, wenn auch nicht in Richtung der "Nicht-EuropäerInnen" in der EU. Die Union ist hier bereit, über ihre Grenzen hinaus zu agieren und eine breitere Konzeption von Europa in ihren Aktivitäten zu berücksichtigen, was sicherlich auch in Zusammenhang mit den Ansätzen und Tätigkeiten des Europarats zu sehen ist, die auf vielen Ebenen den Aktivitäten der EU im kulturellen Feld vorangegangen sind. Mit der Unterstützung durch Abkommen wie der euro-mediterranen Partnerschaft (1995) für die Mittelmeerregion oder dem Cotonou-Partnerschaftsabkommen "zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean und der Europäischen Gemeinschaft" (2000) würde der Artikel nicht nur Kooperationen in Ost- und Südosteuropa ermöglichen, sondern auch im Mittelmeerraum oder in postkolonialen Kontexten.

Was die Implementierung von Artikel 151 anbelangt – und dies wird noch viel stärker auf die Situation nach der EU-Erweiterung zutreffen –, müssen die finanziellen und rechtlichen Grundlagen für eine wirkliche Realisierung seiner Zielsetzungen kritisch überprüft werden. Es stellt sich die Frage, ob alle Mitgliedstaaten, Regionen und im Kulturbereich Tätigen innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen über die gleichen Rechte und Möglichkeiten verfügen, um an Kooperationsprogrammen wie "Kultur 2000" teilzunehmen – auch wenn sie dazu formal berechtigt sind. Es gibt große Ungleichheiten zwischen den einzelnen Staaten und Regionen, z. B. im Steuergesetz, der Anerkennung von Zeugnissen oder den Bedingungen nationaler und regionaler Fördermöglichkeiten. Die Divergenzen zwischen den Kulturadministrationen oder Finanzierungsmodellen in den einzelnen Ländern können große Schwierigkeiten für die Kooperation darstellen, und diese problematische Situation wird umso virulenter in der Kooperation mit den neuen Mitgliedstaaten der EU und den Mitgliedern des Europarats.

Ein anderer wesentlicher Punkt besteht darin, dass eine zukunftsorientierte und progressive Implementierung des Artikels endlich die konservative Logik bilateraler Kooperation hinter sich lassen muss. Bisher konnte in der EU kein wirkliches Verständnis für die Notwendigkeiten und Bedingungen neuer Formen multilateraler transnationaler Zusammenarbeit erlangt werden, die oft viel komplexer, risikoreicher, experimenteller und teurer sind. Diese neuen Formen der Kooperation und des Austauschs schließen u.a. auch Netzwerk-Projekte über eine größere Zeitspanne mit ein, für welche die Mitgliedstaaten aber in den meisten Fällen keine Verantwortung zu übernehmen bereit sind. Basierend auf Artikel 151 sollte die EU in weitaus größerem Ausmaß in diese Form transnationaler Aktivitäten investieren. Außerdem müssten Konzeptionen für kulturelle Zusammenarbeit nicht nur von einem erweiterten, offenen Europabegriff ausgehen und besonders den Austausch mit vernachlässigten oder bisher oft ausgeschlossenen Regionen fördern, sondern auch auf eine globale Dimension angewendet werden in Kooperationsprogrammen mit AkteurInnen in Asien oder Afrika.

 
Das Prinzip der Subsidiarität

Artikel 151 beschreibt zwei verschiedene elementare Tatsachen: Auf der einen Seite spricht er eindeutig von der Verantwortung und Verpflichtung der EU, im kulturellen Bereich aktiv zu sein, auf der anderen Seite ist der Handlungsspielraum dafür aber relativ eingeschränkt und festgelegt auf die oben beschriebenen Handlungsfelder, vor allem auf "Zusammenarbeit" und "Austausch". Das Wesentlichste aber ist, dass die Umsetzung des Artikels – wie in Paragraph 5 des Artikels festgehalten – Gegenstand einer dreifachen Restriktion ist: dem Prinzip der Subsidiarität, dem "Ausschluss von Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten" und der Erfordernis der Einstimmigkeit. Dies trifft auf alle formellen Instrumente der EU für den kulturellen Bereich zu.

Was Bereiche wie Kultur oder Bildung anbelangt, die nicht in ihre alleinige Zuständigkeit fallen, besagt Artikel 5(2) des Vertrages, dass "die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig (wird), sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". Die EU ist also verpflichtet, die Aktionen der Mitgliedstaaten zu ergänzen und zu unterstützen, kann aber nur unter der Bedingung handeln, dass bestimmt Ziele von den Mitgliedstaaten selbst nicht erreicht werden können und die Aktivität der EU größere Effizienz garantiert. Dass dies sehr oft mehr als gerechtfertigt ist, bestätigt die Vielzahl aktueller transnationaler Kooperationen, insbesondere der europäischen Netzwerke. Wie in Artikel 151 niedergelegt, entsprechen diese Aktivitäten auch eindeutig den gemeinsamen Zielen der Mitgliedstaaten.

Doch der Vertrag enthält keine klare Aussage zur Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, und die Beschwörung des Prinzips der Subsidiarität dient manchen nur dazu, jegliche weitere Entwicklung von Politiken, Programmen, Ideen oder Visionen auf EU-Ebene zu vermeiden. Eine zu eng gefasste Anwendung des Prinzips der Subsidiarität hat – zusammen mit der verlangten Einstimmigkeit im Ministerrat unter Einsatz des Mitentscheidungsverfahrens mit dem Europäischen Parlament – die Entwicklung und Beschließung von Kulturprogrammen enorm verlangsamt und die Umsetzung des Artikels erschwert.

Dies bedeutet nicht, dass das Prinzip der Subsidiarität und der Aspekt der Teilung von Kompetenzen im kulturellen Feld gänzlich aufgegeben werden sollten. Doch muss eine sinnvolle und zukunftsorientierte Klärung der Kompetenzenteilung auch den Blick auf jene spezifischen Aspekte im kulturellen Bereich offen halten, wo gemeinsame Zielvorstellungen besser und wirkungsvoller auf EU-Ebene erreicht werden können. Vergleichbarerweise wurde dies etwa in den Bereichen Bildung oder Forschung notwendig, um höhere Qualitätsstandards und die Verbesserung von Langzeitstrategien gewährleisten zu können. Diese Kriterien legitimieren nicht nur eine teilweise Verlagerung von Kompetenzen und Verantwortung von der nationalen auf die EU-Ebene im kulturellen Bereich. Eine vollständige Umsetzung würde zur Förderung von Projekten ebenso beitragen wie zur Schaffung von Öffentlichkeiten, die sich spezifisch und aktiv mit der kulturellen Dimension der europäischen Integration auseinander setzen.

 
Das Potenzial von Paragraph 4 und seine mangelhafte Umsetzung

Paragraph 4 ist Gegenstand eines der wesentlichsten Punkte in der aktuellen Diskussion über die Implementierung von Artikel 151: "Die Gemeinschaft trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrags den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrnehmung und Förderung der Vielfalt der Kulturen.” Verglichen mit anderen Festlegungen im Artikel lässt die Formulierung dieses Paragraphen auf weitreichende Konsequenzen schließen und könnte erhebliche Auswirkungen haben, auch wenn er keine klare Aussage über das Ausmaß dieser Verpflichtung enthält.

Einerseits markiert Paragraph 4 die bedeutende Anerkennung, dass kulturelle Aspekte über viele verschiedene Segmente reichen, und stellt eine formale Verbindung zwischen dem kulturellen Feld und anderen Sphären des Lebens, der Arbeit, der Gesellschaft, etc. her. Dies erlaubt es kulturellen AkteurInnen auch, Anspruch zu erheben auf Ressourcen aus anderen Programmen, die nicht primär auf den kulturellen Bereich abzielen (z.B. Strukturfonds). Andererseits fordert der Artikel eine kritische Einschätzung der möglichen Auswirkungen und Effekte von Entscheidungen in anderen Policy-Bereichen auf das kulturelle Feld ("Kulturverträglichkeitsklausel"). Hier wird berücksichtigt, dass das kulturelle Leben und Entwicklungen im kulturellen Feld durch andere Entscheidungen geschädigt werden könnten, was u.a. auf Wettbewerbs- und andere Handelsbestimmungen zutrifft.

Die Erfahrung der letzten zehn Jahre hat gezeigt, dass die Umsetzung von Paragraph 4 keineswegs zufriedenstellend ist. Durch eine ernsthafte Umsetzung könnte allerdings ein besseres Verständnis für die Relevanz des kulturellen Felds für eine Reihe anderer Gebiete und das Bewusstsein für kulturelle Themen und ihren Zusammenhang mit anderen Bereichen und Politiken geschaffen werden. Dies sollte nicht einfach einer Instrumentalisierung des kulturellen Felds für die Förderung einzelner Sektoren in Wirtschaft und Beschäftigung dienen, sondern zu einem erhöhten Verständnis für die Transsektorialität des kulturellen Felds führen.

 
Themen der aktuellen Diskussion

Vor diesem historischen und rechtlichen Hintergrund lohnt sich ein Blick darauf, wie und in welche Richtung sich die Debatte in der EU in der letzten Zeit entwickelt hat. Während der belgischen Präsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2001 nahmen die drei Institutionen der Gemeinschaft wieder die Diskussion über die Zukunft kultureller Aktivitäten in Europa auf. Der Gipfel von Laeken im Dezember 2001, der die Parameter für die bevorstehende Debatte über die Zukunft Europas im Europäischen Konvent in Vorbereitung auf den Regierungsgipfel 2004 festsetzte, und die Tatsache, dass der Artikel zu diesem Zeitpunkt fast 10 Jahre lang in Kraft war, stellten eine Gelegenheit für eine Evaluation seiner Umsetzung und seiner Auswirkungen dar. Doch gab es weder hinsichtlich der Deklaration von Laeken noch in Bezug auf den Konvent konkrete Aktionen von Seiten der Institutionen.

Bereits im Juli davor (2001) hatte das Europäische Parlament den "Bericht über die kulturelle Zusammenarbeit in der Europäischen Union" von Giorgio Ruffolo publiziert, der die Diskussion in weiterer Folge sehr stark bestimmte. Der Bericht kritisiert nicht nur die aktuelle Situation des kulturellen Felds, indem er vor allem erneut auf mangelnde Kooperationen und die chronische Unterfinanzierung kultureller Maßnahmen in der EU hinweist (0,1% des Gesamtbudgets für 2000), sondern schlägt auch eine Reihe konkreter Maßnahmen vor, u.a. die Errichtung einer europäischen Beobachtungsstelle für kulturelle Kooperation mit dem Ziel der Förderung des Informationsaustauschs und der Koordination zwischen den Kulturpolitiken der Mitgliedstaaten und der EU ("European Cultural Observatory"). Weiters verlangt der Bericht explizit verstärkte Maßnahmen im kulturellen Bereich und schlägt deshalb vor, "dass im Rahmen einer künftigen Revision des Vertrags die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit ausgeweitet wird, um eine Förderung der Maßnahmen im kulturellen Bereich zu gewährleisten". Basierend auf diesem Bericht verabschiedete das Europäische Parlament eine "Entschließung des Europäischen Parlaments zur kulturellen Zusammenarbeit in der Europäischen Union" mit dem Ziel, diese zu erweitern.

Am 23. Mai 2002 verabschiedete der Europäische Rat unter der Spanischen Präsidentschaft eine Resolution zur Implementierung eines neuen Arbeitsplans für europäische Kooperation im kulturellen Bereich mit den Prioritäten, Mechanismen zur Sicherstellung der Berücksichtigung von Kultur in anderen Handlungsbereichen der EU und einen permanenten institutionellen Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen kulturellen Sektoren zur Förderung der Mobilität von KünstlerInnen und künstlerischen Produkten zu schaffen.

In der Zwischenzeit veröffentlichte die Europäischen Kommission die "Studie über die Mobilität und den freien Verkehr von Personen und Produktionen im kulturellen Bereich" (April 2002). Die dänische Präsidentschaft konzentrierte sich u. a. auf die Analyse und Definition des europäischen Mehrwerts (European added value) im kulturellen Feld. Diese Beispiele illustrieren, dass von Seiten der Institutionen keine elementaren Vorstöße unternommen werden, auch nicht hinsichtlich einer weiteren Entwicklung des rechtlichen Rahmens für Kultur im bevorstehenden Vertrag. Auch wenn die genannten Themen an sich interessante Aspekte behandeln, sind sie nicht Bestandteil eines größeren kontextuellen und politischen Vorhabens, und es fehlt an einer aktiven Auseinandersetzung mit der Zukunft europäischer Kulturpolitiken.

 
Perspektiven für die Zukunft?

Zusammenfassend lässt sich zu Artikel 151 sagen, dass er trotz aller Unzulänglichkeiten eine Grundlage für eine aktive Rolle der Gemeinschaft für Aktivitäten im kulturellen Feld darstellt, aber die tatsächlichen Ergebnisse insgesamt eher enttäuschend sind. Seit der Artikel in die Verträge aufgenommen wurde, hat es die Gemeinschaft versäumt, dieser Rolle und ihrer Verantwortung wirklich gerecht zu werden.

Die Gefahr, dass Artikel 151 im Zuge einer Neuverhandlung der Kompetenzverteilung aus den zukünftigen Verträgen entfernt werden könnte, scheint gebannt. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird er in seiner derzeitigen Form bestehen bleiben, d.h. mit einer Konzentration auf den Aspekt der Zusammenarbeit mit der doppelten Zielsetzung, zum kulturellen Leben der Mitgliedstaaten beizutragen und gleichzeitig besonders der kulturellen Vielfalt in der EU Rechnung zu tragen – inklusive des Paragraphen über die Verpflichtung, kulturelle Aspekte in anderen Bestimmungen des Vertrages zu berücksichtigen. Von einem pragmatischen Standpunkt aus gesehen, ist dies nicht die schlechteste Situation. Wenn das kulturelle Feld aber eine aktive Rolle in einem als zukunftsorientiertes politisches Projekt verstandenen Europa einnehmen soll, müssen die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen dafür erheblich verbessert werden. Erstens verlangt dies nach einer Interpretation des Subsidiaritätsprinzips, die nicht länger die steigende Präsenz und die spezifischen Bedürfnisse transnationaler multilateraler Aktivitäten im kulturellen Feld leugnet, die definitiv außerhalb der Möglichkeiten und Politiken der einzelnen Mitgliedstaaten liegen. Zweitens erfordert es die Ersetzung des Erfordernisses der Einstimmigkeit in den Abstimmungsverfahren, das eine dynamischere Entwicklung von Kulturpolitiken auf EU-Ebene behindert, durch qualifizierte Mehrheit. Generell müssten die oft sehr zögerlichen und langen Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse, die meist in keinerlei Verhältnis zu den fraglichen Budgets stehen, vereinfacht und beschleunigt werden. Dasselbe gilt für zukünftige Programmentwicklungen, insbesondere das Design des neuen Rahmenprogramms für Kultur, das "Kultur 2000" im Jahr 2006 nachfolgen soll.

Obwohl das Potenzial der derzeitigen rechtlichen Bestimmungen bis heute nicht voll ausgeschöpft wird und eine vollständige Implementierung breitere Ansätze für kulturelle Kooperation ermöglichen würde, wird Artikel 151 in seiner derzeitigen Formulierung auf lange Sicht weder ausreichen noch eine adäquate Antwort auf die drängenden Fragen in der kulturellen Praxis und Politik in Europa darstellen. Abgesehen von den Formulierungen, die zum Teil von einer rigiden und ausschließenden Konzeption des europäischen Raums ausgehen, müsste der Artikel hinsichtlich der Rolle, die dem kulturellen Feld in der weiteren Entwicklung Europas zukommen sollte, weitergedacht werden. Dies betrifft vor allem die Funktionen des kulturellen Felds in Bezug auf Fragen der Demokratieentwicklung, StaatsbürgerInnenschaft, Transversalität, des Zugangs und der Partizipation. Darum muss eine Diskussion geführt werden, um die eher defensiven Strategien der AkteurInnen in diesem Bereich zu überwinden und offensive Entwicklungslinien für europäische Kulturpolitiken zu entwerfen.


II. Für eine Überwindung des Gefasels von "Kultur". Neue Begrifflichkeiten für die Kulturpolitik

Kultur als solche ist nicht notwendigerweise gut. Im Interesse des Gemeinschaftslebens verbannte Plato symbolisch die Künstler, weil er dachte, sie würden den idealen Staat gefährden. Die Frankfurter Schule hat uns über den "affirmativen Charakter der Kultur" (Marcuse) aufgeklärt und über den Schaden, der Gesellschaften durch die Kulturindustrie zugefügt wird (Adorno/Horkheimer), und die Cultural Studies üben fundamentale Kritik an den unzerstörbaren, konservativen und kolonisierenden Konzepten von Kultur und ihre Trennung in "Hoch-" und "Populärkultur".

Im Alltagsleben begegnen wir auch den negativen Aspekten von Kultur, die benützt wird, um Menschen zu mobilisieren und zu steuern, zu kontrollieren und zu beeinflussen: In den Bahnhöfen und U-Bahnstationen von Hamburg und Wien etwa werden Mozart und Beethoven, verzerrt von den dort platzierten Lautsprechersystemen, instrumentalisiert, um marginalisierte Gruppen von ihren vertrauten Orten zu vertreiben. Mit dem Hype der Kreativwirtschaft sind KünstlerInnen und im kulturellen Feld Tätige zunehmend gezwungen, in den experimentellen Bereichen der Hyperflexibilisierung und – ohne jemals danach gefragt worden zu sein – als PionierInnen der New Economy zu arbeiten. Und in den Diskursen von "cultural clashes" und vom "Krieg der Kulturen" wird "kulturelle Identität" als absolut feststehend vorausgesetzt, als etwas, das Menschen voneinander trennt oder sogar aufhetzt, einander zu töten.

Kulturelles Erbe entwickelt sich so zu einem Instrument der Beschränkung von Öffentlichkeiten, Kulturindustrien entpuppen sich als Verursacherinnen postfordistischer Prozesse von (Selbst-) ausbeutung, und kulturelle Identität wird zu einem Konzept der Rechterfertigung von Ausschluss und Krieg.

Trotz dieser theoretischen und praktischen Evidenzen finden wir im kulturpolitischen Diskurs (unabhängig ob rechts oder links) noch immer die gleichen Gemeinplätze von der "Kultur an sich", die Identität konstituiert und den Menschen Frieden und Harmonie bringt. Die gängigen Rechtfertigungsstrategien für "Kultur an sich" gebrauchen nach wie vor, ohne jede weitere Argumentation, das klassische humanistische Argument: Wenn Theater und Museen geschlossen zu werden drohen, wird ins Treffen geführt, Kultur sei Teil des menschlichen Seins. Um dies zu widerlegen, ist es nicht einmal notwendig, Adornos Aussage über die Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, zu zitieren. Da solche Kultur als positiver Aspekt von Zivilisation und Menschlichkeit immer schon der kleinen Gruppe von Weißen, Heterosexuellen und Bürgerlichen vorbehalten war, hat dies nie ein demokratisches Argument dargestellt. Es wird vollends unangemessen unter den postmodernen Bedingungen der Kontrollgesellschaft, insbesondere dann, wenn universelle Rechte für Partikularinteressen instrumentalisiert werden.

Es ist dringend notwendig, die hohle Phraseologie über Kultur zwischen hohem Pathos und technokratischer Sprache zu ersetzen, die Begrifflichkeiten und Definitionen benützt, die gar nichts aussagen. Dies trifft nicht nur auf das Konzept "Kultur" zu, sondern auf alle kulturpolitischen Begrifflichkeiten und Konzepte, die zu lange und extensiv als ideologische Ornamente gedient haben, sodass sie jeden Sinns entleert wurden.

Der Begriff der kulturellen Identität kann dafür als Beispiel dienen: In den meisten kulturpolitischen Papieren und Reden wird kulturelle Identität als das wichtigste positive Argument für die Unterstützung von Kultur verstanden – aber wiederum entweder ohne jede Begründung oder mit den unterschiedlichsten vorstellbaren Argumenten:

- das nationalistische/lokalistische Argument: Von manchen wird "kulturelle Identität" in Verbindung mit dem defensiven, chauvinistischen Argument der Bewahrung ihrer "Heimat", des nationalen, regionalen oder lokalen Hintergrunds, benützt. Diese Taktik der Homogenisierung und Standardisierung einer bestimmten geographischen Gegend und seiner EinwohnerInnen wird indessen in der Realität zu einem zunehmend wichtigen Instrument populistischer Machtstrategien. Die Konstruktion eines künstlichen "Wir" gegen ein absolutes Außen der "Anderen" ebnet den Weg für exklusivistische und rassistische Politik. Eine Kulturpolitik, die einem solchen Diskurs folgt, benützt das Konzept kultureller Identität, um uns an eine große Vergangenheit erinnernde Denkmäler zu errichten oder große Kulturereignisse zu organisieren, die sich für vereinigende Kollektivgefühle eignen. Auf europäischer Ebene löst die Idee der "Identität ohne Nation” das Problem nicht, sondern verschiebt es nur auf die supranationale Ebene.

- das neoliberale Argument: Andere benützen die "kulturelle Identität" im ökonomischen Kontext des "Brandings" im Sinne einer Verbesserung des Images und der Marktfähigkeit von Orten, Städten, Ländern. In diesem Verständnis kultureller Identität dient Kultur der Generierung eines Eindrucks von Authentizität und Einzigartigkeit für Werbezwecke. Kultur wird zum perfekten Aneignungsinstrument für die Valorisierung städtischer oder nationaler Bilder als komplementäre Maßnahme zu Werbung und Marketing.

- das Sichtbarkeitsargument: Schließlich benützen manche die "kulturelle Identität" in einem kleineren, administrativen Kontext, wobei jeder Sinn für Proportionen abhanden kommt. Kulturelle Identität bedeutet für sie, dass Kultur das perfekte Feld für die Herstellung von Sichtbarkeit der Europäischen Union darstellt, für das Design einer Corporate Identity für Europa mittels weniger Brosamen wie dem EU-Budget für kulturelle Kooperation. Tausende EU-Logos auf Flyers und Websites sollen die Herzen der EuropäerInnen erobern.

Wenn wir nicht an diesem Hintergrund intellektueller Leere mit den bekannten Argumenten festhalten oder uns auch nur auf die Annahme verlassen wollen, dass Kultur gut sei, müssen wir nach neuen Argumenten suchen und eine Reihe neuer Begriffe und Themen vorschlagen, die sicherstellen, dass kulturpolitische Konzepte auf einer solideren Basis entwickelt werden können. Durch diese neuen Argumente muss Kulturpolitik zu einem Kernstück von Demokratiepolitik werden. Deshalb müssen wir, um etwas über die – positiven, produktiven – politischen Funktionen von Kultur in einem zukünftigen Europa herauszufinden, riskieren, die Pfade des vertrauten kulturpolitischen Gefasels zu verlassen und versuchen, neue Begriffe zu finden, um neue, oder überhaupt, Konzepte auszudrücken. Im Sinne solcher neuen Konzepte wollen wir einen Rahmen von Kategorien einführen, die als neue Basis für europäische Kulturpolitiken und für die verschiedenen kulturpolitischen Ebenen und ihre konkreten Handlungsfelder dienen.

 
Temporäre Autonomie im kulturellen Feld

„Wenn die Überreste öffentlicher, staatlicher Kultur darauf abzielen, Kunst für die WählerInnenschaft nützlich erscheinen zu lassen als eine Form von Sozialleistung oder für die Tourismuswirtschaft, wie lange können dann die Idee künstlerischer Autonomie und ihr Zelebrieren individueller Freiheit – sogar in ihrer heutigen, offenkundig bankrott gegangenen, Form – noch von Nutzen sein für die deterritorialisierten Bedürfnisse des globalen Kapitals?“ (Gregory Sholette)

Zu sagen, es gebe keinen positiven Begriff von Kultur als solcher, und die politischen Funktionen von Kultur zu untersuchen, bedeutet nicht, jedes Autonomiekonzept im kulturellen Feld aufzugeben. Im Gegenteil: die AkteurInnen im kulturellen Feld benötigen eine klare Vision davon, welche die Funktionen von Kultur und Kulturpolitik sind und sein werden, um ihre Autonomie gegenüber den Angriffen der neoliberalen Globalisierung, ihrer Catchwords und Kategorien wie Cultural/Creative Industries, Kultur-Entrepreneurs und dem ewigen Versprechen von Brot und Spielen zu verteidigen.

Deshalb muss das kulturelle Feld in der heutigen Situation neue Formen der Autonomie zurückgewinnen. Damit meinen wir nicht ideologische Konstruktionen von Autonomie als imaginäres Feld der Unabhängigkeit. Nach mehr als einem Jahrhundert Ästhetizismus und einigen Dekaden Postfordismus ist das, was von der alten Form künstlerischer Autonomie übrig geblieben ist, nur das spezialisierte Marketing-Instrument eines konservativen Elitismus ebenso wie der Massenmedienindustrien. Genauso wenig wollen wir uns auf ein deskriptiv-soziologisches Konzept der Autonomie des kulturellen Felds oder des Kunstfelds (vgl. Niklas Luhmann oder Pierre Bourdieu) beziehen, das von der offensichtlichen Tatsache ausgeht, dass jedes Feld seine eigenen Regeln und Strukturen und deshalb seine relative Autonomie hat.

In einer Zeit, in der die Ökonomie die Grenzen und Schranken zwischen allen Feldern niederreißt und durchbricht, verwenden wir lieber prekärere Konzepte einer Autonomie, die ununterbrochen erkämpft werden muss; Konzepte der Kritik von Macht, Subversion und subversiver Affirmation, die auf eine temporäre Form der Autonomie abzielen. Das ist eher eine Autonomie der Kollektive, als von autonomen Individuen. Sie zielt auf die Selbstbestimmung und Selbstorganisation dieser nur für bestimmte Zeit existierenden Kollektive, und das kulturelle Feld scheint hier als Labor für das Experimentieren mit neuen Formen der Organisation zu funktionieren.

Dies ist selbstverständlich ein politisch-normatives Autonomiekonzept, das im Grunde propagiert, dass jede Initiative und jedes Projekt im kulturellen Feld so unabhängig wie nur möglich agieren und gleichzeitig eine spezifische Funktion im Kampf gegen die allgemeine Dominanz der globalen Ökonomie einnehmen sollte. Autonom zu sein heißt dann, nicht gezwungen zu sein, dem ideologischen Druck der GeldgeberInnen oder anderer Machtstrukturen nachzugeben, und gleichzeitig durch diese – temporäre, prekäre und kollektive – Autonomie Teil eines kulturellen Felds zu werden, das Räume bietet für Vielfalt und Differenz im Kontrast zu den voranschreitenden und homogenisierenden ökonomischen Tendenzen.

 
Pluralisierung von Öffentlichkeiten

„Deshalb kann es, normativ betrachtet, auch keinen europäischen Bundesstaat geben, der den Namen eines demokratischen Europas verdient, wenn sich nicht im Horizont einer gemeinsamen politischen Kultur eine europaweit integrierte Öffentlichkeit bildet, eine Zivilgesellschaft mit Interessenverbänden, nicht-staatlichen Organisationen, Bürgerbewegungen usw., ... kurz: ein Kommunikationszusammenhang, der über die Grenzen der bisher nur national eingespielten Öffentlichkeiten hinausgreift.“ (Jürgen Habermas)

Über das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit zu klagen, ist in den letzten Jahrzehnten schon zum Gemeinplatz geworden, und doch taucht nirgendwo eine solche einheitliche Sphäre auf. Im Gegenteil, die Situation scheint sich zu verschlimmern. Die Ursache dafür liegt nicht nur in der Stärke der einzelnen nationalen Rahmen und ihrer Öffentlichkeiten oder der offensichtlich ansteigenden Dominierung der Medienmärkte durch einige wenige transnationale Medienkonglomerate (was eine komplementäre ebenso wie paradoxe Entwicklung darstellt). Sie liegt vielmehr auch in einem grundlegenden Missverständnis über die Möglichkeiten, das Ausmaß des Einflusses und die wünschenswerte Größe von Öffentlichkeiten und öffentlichen Räumen. Eine einzige europäische Öffentlichkeit ist nicht nur unmöglich, sondern wäre auch absolut nicht produktiv, solange sie nicht in der Mehrzahl verstanden wird. Was zählt, ist nicht die Forderung nach oder die Konzeptualisierung einer einzelnen Öffentlichkeit (egal, ob sie als privilegierten Klassen vorbehaltene oder als allumfassende Meta-Öffentlichkeit vorgestellt wird), sondern die permanente Konstituierung vieler Öffentlichkeiten, die mit den vielen Facetten der in Europa lebenden Menschen korrespondieren: eine Vielheit von Öffentlichkeiten, nicht statisch vorgestellt, sondern als das Werden artikulatorischer und emanzipatorischer Praxen.

Solche dynamischen Öffentlichkeiten stellen die Voraussetzungen für den gegenseitigen Austausch verschiedener Positionen, für das Differente im Verhältnis zum Differenten dar. Ihre Grenzen sind durchlässig, sie selbst sind weder exklusiv-ausschließend noch inklusiv-uniformierend. Es geht deshalb nicht um die konsensuelle Vereinheitlichung existierender Öffentlichkeiten in Europa in eine einzige, machtvolle gesamt-europäische Öffentlichkeit, sondern darum, diese konfliktuell zu öffnen und zu vervielfältigen. Was zählt, ist nicht die Homogenisierung, sondern die permanente Auseinandersetzung, die ununterbrochene Neuverhandlung unterschiedlicher Positionen.

Demgemäß sollte "Kultur" weder als letzter Schutzraum zur Konstruktion und Reproduktion nationaler Identitäten benützt, noch für den Versuch der systematischen Konstruktion einer europäischen Identität instrumentalisiert werden. Sie sollte vielmehr als Laboratorium für exemplarische Modelle einer prozessualen, konstruktiven Dynamisierung von Differenzen verstanden werden. Solche Modelle haben in verschiedenen Teilen Europas eine besonders starke und vielfältige Qualität entwickelt. Konkrete kulturelle Initiativen, von soziokulturellen Zentren und deren Experimenten in realen kollektiven Räumen bis zu den virtuellen Räumen von Medienprojekten, von Community Arts bis zu den vielfältigen Formen interventionistischer Praxen und Performances zwischen Theater und bildender Kunst, von freien Radios bis zur "Netzkultur", haben bewiesen, dass sie spezifische politische Räume und Öffentlichkeiten zu schaffen vermögen.

Ihr erster Vorteil besteht darin, dass sie Positionen und Partizipation von Minderheiten gegen alle Formen von Mehrheitshomogenisierung fördern. Außerdem setzen diese Öffentlichkeiten im kulturellen Feld eine Struktur voraus, die in Opposition zu zwei gefährlichen Phänomenen heutigen Populismus’ steht: Die Pluralisierung kultureller und medialer Landschaften muss entschieden gegen eine zunehmend transnationalisierte Medienkonzentration unterstützt werden. Die wachsende Instrumentalisierung von Verfahren direkter Demokratie durch populistische Politik ist zu bekämpfen, indem mehr Menschen der Zugang zu fundierter, seriöser und vielfacher Information und niederschwelligen Entscheidungsprozessen ermöglicht wird. Innerhalb einer Vielheit von Öffentlichkeiten ist es ihnen möglich, ihre Bedürfnisse aktiv auszudrücken und auszutauschen. Und wo könnten diese Sphären und Räume zu finden sein, wenn nicht im kulturellen Feld?

Aber während die oben genannten Formen konkreter Kulturinitiativen auf den Prinzipien von Temporarität und Veränderung basieren, scheinen sich die entsprechenden Kulturpolitiken auf das Gegenteil zu konzentrieren, nämlich eine rückschrittliche Tendenz, Institutionen zu unterstützen und Initiativen zu institutionalisieren, den Stillstand von Bewegung zu organisieren. Obwohl 1968 oft als Markierung eines großen Wandels in der (Kultur)Politik mystifiziert wurde, waren die Veränderungen seither eigentlich nur kosmetischer Natur, wenn es um die öffentliche Unterstützung für Non-Profit-Organisationen im kulturellen Feld im Vergleich zu großen öffentlichen Institutionen ging.

Es ist die Aufgabe der Mitgliedstaaten und der EU, die Voraussetzungen für die Schaffung von vom Staat unabhängigen Öffentlichkeiten herzustellen. Das bedeutet, dass die Staaten die Bedingungen für öffentliche Auseinandersetzungen, für kulturelle und intellektuelle Foren in der breitest möglichen Form auf allen Ebenen garantieren müssen. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, die Freiheit der Kunst bedeuten mehr, als frei zu sein von Druck und Zensur. Gegen die vorherrschende Entwicklung hin zur Kontrolle (kultureller) Märkte durch Monopole und Oligopole muss eine aktive Unterstützung durch den Staat für die Aktivierung und Pluralisierung von Meinung, Presse und Kunst bestehen, sodass diese frei sind für die Schaffung öffentlicher Diskussionen.

Wenn dies auf regionaler und nationaler Ebene der Fall ist, besteht noch viel größerer Handlungsbedarf auf europäischer Ebene. Während in den europäischen Staaten Öffentlichkeiten – mehr oder weniger – existieren und gedeihen, bestehen fast keine Maßnahmen und Foren europäischer Auseinandersetzungen, gibt es kaum europäische Öffentlichkeiten. Doch hat dies auch eine gute Seite: In der Herstellung europäischer Öffentlichkeiten haben wir die Möglichkeit, neu zu beginnen. Kleine und mittelgroße Kulturinitiativen und Medien könnten eine wesentliche Rolle in der Ermöglichung eines Europas spielen, das radikal partizipationsorientiert ist. Kulturpolitik hat die Pflicht, dazu beizutragen, diese Initiativen in eine heterogene Landschaft europäischer Öffentlichkeiten zu transformieren.

 
Spezifische Intellektuelle.
Neue Formen der Subjektivierung im kulturellen Feld

„Der Einsatz von KünstlerInnen, AutorInnen und WissenschaftlerInnen in sozialen Auseinandersetzungen wird zunehmend wichtiger, vor allem heute, da die Macht vollkommen neue Formen annimmt. Die Geschichtswissenschaft hat genügend Beweise für die Rolle akademischer Think Tanks in der Entwicklung und Ausbreitung der die heutige Welt beherrschenden neoliberalen Ideologie geliefert. Diesen konservativen Think Tanks und ExpertInnen müssen kritische entgegengesetzt werden, in denen ‚spezifische Intellektuelle’ (im Foucaultschen Sinn ExpertInnen mit Kompetenzen in spezifischen Bereichen und Angelegenheiten) in intellektuellen Kooperationen zusammenarbeiten und in der Lage sind, Ziele und Absichten für ihre Aktionen zu definieren.“
(Pierre Bourdieu)

Als der französische Philosoph Pierre Bourdieu das Konzept seines Kollegen Michel Foucault aufgriff, wollte er eine Waffe gegen die neoliberale Ideologie vorschlagen. KünstlerInnen und Intellektuelle sollten nicht instrumentalisiert werden und sich nicht als KomplizInnen der Macht darstellen, sondern ihre Kompetenzen mit ExpertInnen anderer Felder verknüpfen, um Widerstand zu leisten gegen die Macht, um Widerstand zu leisten gegen Majoritätsstrukturen.

Lange haben sich Intellektuelle als FürsprecherInnen des Universellen positioniert, in einer langen Traditionslinie von Zola zu Sartre, von Karl Kraus zu Günter Grass. Foucault aber schlägt etwas vollkommen anderes vor: Entgegen einem traditionellen Konzept des/r universellen Intellektuellen, der/die über und für andere denkt und spricht, fordert Foucault ein Konzept des/r spezifischen Intellektuellen, der/die mit ihnen und als eine/r von ihnen denkt und spricht. Während die Struktur des/r universellen Intellektuellen Repräsentation und hierarchische Kommunikation verdoppelt und dazu neigt, in die Position der Mehrheit, der konstituierten Macht, zu gelangen, bevorzugen spezifische Intellektuelle kollektive Arbeit und nicht-repräsentationistische Praxen. In einem ahierarchischen System spezifischer Querverbindungen formen die verschiedenen Kompetenzen einen Strom konstituierender Macht (die niemals zur konstituierten Macht werden soll).

In Kontexten wie diesen verstehen KünstlerInnen und Intellektuelle sich nicht länger als (Teilzeit-) Citoyens, deren politischer Aktivismus unabhängig von ihrer Arbeit als TheoretikerInnen oder KünstlerInnen besteht. Stattdessen weben sie ihre Kompetenzen in Netzwerke, die eine klare Trennung zwischen politischen Aktivitäten auf der einen Seite und Wissenschaft oder Kunst auf der anderen verweigern. In Folge ist die traditionelle Trennung zwischen Theorie und Praxis, zwischen intellektuellem Alltagsleben und politischem Ausnahmefall, zwischen Ästhetik und Politik aufgelöst in temporären Overlaps und öffnet den Weg zu vielfachen Interaktionen und Überlagerungen innerhalb der Subjekte selbst.

Foucaults Konzept stellt tatsächlich die Basis eines sehr progressiven Verständnisses der politischen Funktion dar, die den AkteurInnen des kulturellen Feldes zuzuschreiben ist. Nur wenn Intellektuelle, KünstlerInnen und KulturarbeiterInnen die Strategien der Repräsentation abwerfen, können sie eine aktive Rolle in der Überwindung zweier aktueller Modelle des/r universellen Intellektuellen im Zeitalter neoliberaler Instrumentalisierung einnehmen: 1. Intellektuelle, die neoliberale Machtverhältnisse unmittelbar über Think Tanks unterstützen, 2. "Medienintellektuelle" (Bourdieu), die die Maschinen des Spektakels nähren und jede komplexe Auseinandersetzung durch reduktionistische und populistische Kommentare unmöglich machen. Um diesen Relikten und Remodellierungen falscher Universalität entgegenzutreten, müssen progressive Kulturpolitiken Strategien und Programme entwickeln, die Modelle der Vernetzung spezifischer Kompetenzen und transversaler Kooperation unterstützen, und die eher Formen der Subjektivierung wie jener des "Autors als Produzent" (Walter Benjamin) fördern als die Mystifizierung und Instrumentalisierung von KünstlerInnen und Intellektuellen.

 
Von der Interdisziplinarität zur Transversalität

Zusammen mit Gilles Deleuze und Félix Guattari führte Michel Foucault den Begriff der Transversalität ein, der – zumindest in den Kontexten des kulturellen Felds – als offensiver Nachfolger des Begriffs der "Interdisziplinarität" zu verstehen ist. Während Interdisziplinarität zum Mainstream-Thema und Gemeinplatz in allen Ausprägungen gegenwärtiger Kunst- und Theorieproduktion geworden ist, überschreitet Transversalität die Grenzen des Kunstfelds, des akademischen oder des politischen Felds. Das Konzept der Transversalität impliziert nicht die Verkettung einzelner Punkte oder Disziplinen, sondern eine Fluchtlinie, die neue Richtungen jenseits existierender Punkte konstituiert und ständige Veränderung erzeugt. Der Begriff der Transversalität ist so mehr als ein deskriptives Instrument aus dem Kunst-Kontext, es wird ein Konzept für politische Kämpfe.

Erstens sind transversale Kämpfe solche, die "nicht auf ein bestimmtes Land beschränkt sind" (Foucault). So besteht eine Bedeutung von Transversalität darin, dass sie eine radikale Aufgabe nationaler Diskurse darstellt. Natürlich ist das kulturelle Feld exemplarisch, wenn es um die Entwicklung von Konzepten und Realitäten Europas geht, ein Feld, das kontinuierlich voranschreitet in Bezug auf die Erweiterung, oder breiter gesprochen, multilaterale transnationale Kooperation. Doch sind solche Formen der multilateralen Kooperation kompliziert, riskant und folglich teuer. Das macht sie zu einem wesentlichen Thema der Kulturpolitik, und muss durch Programme weiterentwickelt werden, die die von so vielen KulturpolitikerInnen bevorzugte bilaterale Logik zu durchbrechen vermag; durch Programme, die nicht bereits existierende Verbindungen und Hierarchien im kulturellen Feld konsolidieren, sondern versuchen, jene Strukturen zu stärken, die "außerhalb" oder "jenseits" liegen.

Zweitens greift Transversalität als Begrifflichkeit eindimensionale, beschränkende und partikularisierende Konzepte an. Im kulturellen Feld bedeutet das sektorenübergreifende Aktivitäten und Kooperationen mit verschiedenen Feldern wie Bildung, Politik oder Wissenschaft. Wieder bedeutet dies nicht, Gemeinplätze der Interdisziplinarität wie "Grenzüberschreitungen zwischen Theater und bildender Kunst" zu wiederholen, sondern neue Formen kollektiver Kooperationen zwischen Einzelnen und Organisationen aus den unterschiedlichsten Feldern vorzuschlagen und zu unterstützen.

Natürlich werden im kulturellen Feld immer schon neue Vernetzungspraktiken kreiert, die an den Schnittpunkten verschiedener Staaten und verschiedener, sonst voneinander getrennter Wissensbereiche erscheinen. Doch was hier zur Diskussion steht, ist die permanente Förderung von Praktiken, die diese Methoden nützen, um eine Transversalisierung der Gesellschaft zu erreichen. Die Grundlage für diese Art der Transversalität ist eine Vielheit transversaler Strukturen, die nicht partikulare, isolierte (Sub-)Kulturen darstellen, sondern viele verschiedene Situationen in einem Patchwork der Minderheiten durchkreuzen. Die Vielzahl von Formen kultureller Initiativen in Europa sind zu unterstützen, damit sie nicht dem Druck der Homogenisierung und Partikularisierung nachgeben müssen. Diese Erfahrungen und die Vorteile transversaler Praktiken im kulturellen Feld sind als Prototypen anzusehen für eine zukünftige Republik und deshalb als Modelle für andere Felder zu verbreiten.

 
Zugang neu formulieren.
Culture Commons statt Cultural Industries

In den letzten 30 Jahren erkannte die Kulturpolitik in vielen Teilen Europas die Wichtigkeit der Förderung von Culture Commons und versuchte, den Zugang zu Kultur und kulturellen Institutionen zu maximieren. Diese Entwicklungen, oft verbunden mit dem Fortschritt der Sozialdemokratien in Europa (mit Konzepten wie "Kultur für alle" in Deutschland) entbehren jedoch nicht gewisser problematischer Aspekte: Billige Eintrittskarten für Theater, Oper und Museen können nicht alle Probleme ästhetischer Qualität und politischer Relevanz lösen, und der emanzipatorische Ansatz von "Kultur für alle" verkehrte sich oft in jenen der Produktion staatlich unterstützter Spektakel als Teil populistischer Politik. In den negativsten Fällen führte dies zu unfairen Wettbewerbsbedingungen für unabhängige Kulturinitiativen.

Und doch hat das Recht auf allgemeinen Zugang nicht nur die Oberfläche dessen verändert, was als "Hochkultur" bezeichnet wird, sondern auch Standards für neu erstehende Sektoren gesetzt. Um neue, partizipatorische Formen von StaatsbürgerInnenschaft zu erforschen und zu propagieren, müssen Politiken öffentlichen Zugangs nicht nur gewährleistet, sondern offensiv erweitert und andauernd für neue Formen der Produktion – wie beispielsweise im Feld der Medienkunst oder digitalen Kunst, der elektronischen oder der Netzkultur – angepasst werden.

Andererseits scheint auf Grund des Konzepts und des Hypes der "Creative Industries” eine Tendenz zu bestehen, sich mehr auf die Möglichkeiten ökonomischer Nutzung als auf das kritische, partizipatorische und politische Potenzial kultureller Inhalte zu konzentrieren. Die Kreativindustrien als postfordistische Versionen der riesigen Kulturindustrien (vgl. Horkheimer/Adorno) vermindern eher die Bandbreite und die Konzepte dessen, was als "Kultur” in Umlauf ist. Sie oligopolisieren den Zugang und befinden sich so in scharfem Kontrast zur Auffassung von Kultur als öffentlichem Gut (Culture Commons) und zum öffentlichen Zugang ebenso wie zu Entwicklung und Empowerment weiterer und aktiverer Öffentlichkeiten.

Pluralistische Entwicklungen, Programme zur Förderung des öffentlichen Zugangs und Modelle der allgemeinen Zugänglichkeit der Angebote im kulturellen Feld sind die einzigen Maßnahmen, um die Fragmentierung und den Ausschluss durch von Geschäftsinteressen geleitete, ihre Einnahmequellen optimierende kulturelle Cluster zu bekämpfen. Um der einseitigen Ausrichtung auf eine ökonomische Argumentation (Publikumsauslastung, indirekte Profitabilität, Evaluationen, etc.) etwas entgegenzusetzen, ist es notwendig, die Aspekte öffentlichen Zugangs und der Partizipation auf allen politischen Ebenen wieder zu stärken.

 
Transparenz und Partizipation zusammen bedeuten Kritik

Wenn es um die Problematiken der Transparenz auf der einen Seite, und der Partizipation auf der anderen geht, denken EurokratInnen, diese hätten mit den Image-Problemen der Europäischen Union oder dem Euroskeptizismus ihrer BürgerInnen zu tun. Diese Logik leugnet den wesentlichen Aspekt der Verschränktheit beider Themen. Die Hauptkriterien der meisten Reformvorschläge für die Administration der EU, jene der Partizipation und der Transparenz, bleiben bedeutungsleer, wenn sie nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden. Worin besteht der Nutzen von Transparenz, wenn niemand davon Gebrauch macht? Und worin besteht der Nutzen von Partizipation, wenn nur nationale RepräsentantInnen berechtigt sind, auf der Ebene von Entscheidungsprozessen teilzunehmen?

Die Mechanismen, die notwendig sind, um Transparenz effektiv zu machen, bestehen nicht in der Erlangung von Konsens oder der Stimmenmehrheit von RepräsentantInnen, sondern in der Aktivierung der größtmöglichen Anzahl Einzelner und von Teilöffentlichkeiten. Dies ist die einzige und dringende Alternative zu den heute in postmodernen Demokratien in bedenklicher Form grassierenden Sicherheits- und Kontrolldiskursen. Im Kontext der heutigen Kontrollgesellschaft dürfen die klassischen Ängste vor dem abstrakten Staat (die Angst vor dem Verlust des Rechts der Partizipation und der Selbstorganisation, die Angst vor anonymen Bürokratien und der Umverteilung von Ressourcen) nicht bekämpft werden mit einer monströsen Kopie der politischen Mechanismen des Nationalstaats, die auf supranationaler Ebene transformiert und multipliziert werden. Stattdessen muss Transparenz erweitert werden zusammen mit der Anregung zu einem fortdauernden und konstruktiven kritischen Momentum.

Kritische Auseinandersetzung ist nicht nur der Motor der Demokratie, sondern auch die einzige Möglichkeit, Strategien der Transparenz nutzbar zu machen. Wenn keine intellektuellen, künstlerischen, politischen Diskurse entwickelt werden, die kritisieren, was in Europa vor sich geht, wird es keinerlei Interesse und keine Partizipation an europäischen Themen geben. Die jeweiligen Ressourcen, KünstlerInnen, Institutionen und Initiativen im kulturellen Feld müssen unterstützt und mobilisiert werden für eine kontinuierliche kritische Reflexion allgemeinerer europäischer Themen ebenso wie für die konstant ausgedehnte Teilnahme an Diskussionen und an einer Kritik der Strukturen und Diskurse des "offiziellen" Europas. Das kulturelle Feld bereitet den Boden für Debatten, Dispute und Konflikte, für Differenz und Vielfalt, für das permanente Werden der Menschen.


III. Vorläufige Liste von Empfehlungen

Multilateralität!
Maßnahmen zur Unterstützung multilateraler Kooperation in einem erweiterten Europa und über seine Grenzen hinaus

· Transnationale multilaterale Projekte unter Berücksichtigung ihrer Komplexität und ihrer spezifischen Erfordernisse zu ermöglichen, zu unterstützen und zu fördern
· Mobilität und grenzüberschreitende kulturelle Aktivitäten zu erweitern und dafür wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zwischen den EU-Mitgliedstaaten und anderen Ländern auszugleichen
· Multilingualität zu fördern und zu unterstützen
· Mechanismen positiver Diskriminierung für Förderungsprogramme zu installieren, an denen Initiativen aus einem erweiterten Europa, vor allem aus der Ukraine, Moldawien, Weißrussland, Russland, Jugoslawien und Albanien sowie den Nicht-EU-Ländern aus dem Mittelmeerraum teilnehmen
· Neue Programme aufzubauen und weiterzuentwickeln und neue Ziele kultureller Zusammenarbeit zu definieren in Kooperation mit afrikanischen und asiatischen Ländern sowie Nord-, Mittel- und Südamerika, u.a. indem existierende Verträge (z.B. EuroMed, Cotonou) genützt werden

Öffentlichkeiten!
Maßnahmen zur Unterstützung der Schaffung und Entwicklung kritischer Öffentlichkeiten

· Kulturinitiativen zu unterstützen, die zur Produktion kritischer Öffentlichkeiten beitragen, öffentliche Auseinandersetzungen aktivieren und pluralisieren
· Kulturinitiativen zu unterstützen, die sich aktiv mit demokratiepolitischen Themen wie Gleichheit, Gender, Migration, StaatsbürgerInnenschaft, etc. auseinandersetzen
· Öffentlichen Zugang und Modelle der Partizipation im kulturellen Feld, insbesondere auch in Hinblick auf neue Informationstechnologien, zu ermöglichen
· Zeitgenössische transversale Forschung, Entwicklung und Theorieproduktion im kulturellen Feld zu ermöglichen

Netzwerke!
Maßnahmen zur Unterstützung neuer Organisationsformen für Kooperationen im kulturellen Feld

· Neue Modelle transversaler (transsektorialer und transnationaler) Kooperation zu unterstützen
· Sowohl der EU als auch den Mitgliedstaaten die Verantwortung für die Unterstützung transeuropäischer Netzwerke zu übertragen - unabhängig davon, wo diese ihren Sitz haben
· Den Aufbau transnationaler Netzwerke kleinerer Initiativen und Organisationen zu unterstützen und ihre Teilnahme an Kulturprogrammen zu erleichtern

Verwaltung!
Maßnahmen für angemessene finanzielle und administrative Vorraussetzungen für kulturelle Aktivitäten in Europa

· Das EU Budget für kulturelle Aktivitäten zugunsten innovativer Projekte, die den Kriterien der Transversalität, multilateralen Kooperation und der Produktion kritischer Öffentlichkeiten gerecht werden, sichtbar zu erhöhen
· Stringenz und Sicherstellung der Umsetzung des Artikels 151, speziell jene on Paragraph 4 zu verbessern, und die Erfordernis der Einstimmigkeit zu streichen
· Kulturpolitische Entscheidungsprozesse zu beschleunigen und zu vereinfachen
· Die Unterstützung emblematischer und symbolischer Projekte einzustellen
· Anträge und Umsetzungsprozesse zu vereinfachen, den gesamten Entscheidungsprozess vorzuziehen, Verzögerungen bei Verträgen, Auszahlungen und Projektadministration zu vermeiden.


Literatur

Tony Bennett: Differing diversities. Transversal study on the theme of cultural policy and cultural diversity, Council of Europe, 2001

Culture, Trade and Globalisation. UNESCO. Questions and Answers. Draft Version, 2000

Gilles Deleuze: Unterhandlungen, Frankfurt/Main 1993

Rod Fisher: A step change in cross-border engagement? The potential of a European Observatory for Cultural Co-operation. An initial discussion paper for the European Cultural Foundation, October 2002

Christopher Gordon and Simon Mundy: European Perspectives on Cultural Policy, UNESCO, 2001

In from the margins. A contribution to the Debate on Culture and Development in Europe. Report by the Council of Europe and the European Task Force on Culture and Development, 1997

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Entschließung des Rates vom 19. Dezember 2002 zur Umsetzung des Arbeitsplans für die Europäische Zusammenarbeit im Kulturbereich: Zusätzlicher europäischer Nutzen und Mobilität von Personen und Umlauf von Werken im Kulturbereich,
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Erster Bericht der Kommission über die Berücksichtigung der kulturellen Aspekte in der Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft (KOM(96)0160 C4-0249/96)

Entschließung des Europäischen Parlaments zur kulturellen Zusammenarbeit in der Europäischen Union (2000/2323(INI)), 5 September 2001 (A5-0281/2001),
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Note from the Danish Presidency the Cultural Affairs Committee on European Added Value, July 2002 (10378/02)

Bericht über die kulturelle Zusammenarbeit in der Europäischen Union (2000/2323(INI)), Ausschuss für Kultur, Jugend, Bildung, Medien und Sport, Berichterstatter: Giorgio Ruffolo, (A5-0281/2001),
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Bericht über die Durchführung des Programms "Kultur 2000" (2000/2317(INI)), Ausschuss für Kultur, Jugend, Bildung, Medien und Sport, Berichterstatter: Vasco Graça Moura, 23.1.2002,
http://www2.europarl.eu.int/omk/sipade2?PUBREF=-//EP//NONSGML+REPORT+A5-2002-0018+0+DOC+PDF+V0
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Studie über die Mobilität und den freien Verkehr von Personen und Produktionen im kulturellen Bereich, angefertigt für die Europäische Kommission, DG EAC, von Olivier Audéoud / Université de Paris X, April 2002, Studie Nr. GD EAC/08/00
http://europa.eu.int/comm/culture/eac/mobility_de.pdf

 

Deklarationen

UNESCO Universal Declaration on Cultural Diversity, adopted November 2001

The Council of Europe Declaration on Cultural Diversity, adopted in December 2000

Mexico City Declaration on Cultural Policies, World Conference on Cultural Policies Mexico City 1982