12 2011

Erinnerungskulturen in einer geteilten Gegenwart

Gedenkstätten als Kontaktzonen

Nora Sternfeld

Die Rolle von Gedenkstätten in der Gesellschaft hat sich in den letzten 30 Jahren sehr verändert: Nach jahrzehntelangen Kämpfen um Erinnerung und gegen das Ausblenden, Verleugnen und Vergessen der Geschichte der nazistischen Massenverbrechen von Überlebendenorganisationen, sind Gedenkstätten endlich staatlich organisierte und professionalisierte Institutionen, die keinesfalls mehr um öffentliche Aufmerksamkeit kämpfen müssen – eher haben sie sich sogar gegen zahlreiche übersteigerte Erwartungen zu wehren, die an sie herangetragen werden: Von der Idee einer „Schutzimpfung gegen Rechtsextremismus“ [1] bis zur Menschrechtserziehung reichen die öffentlichen Wünsche und Zuschreibungen. Die Praxis der Gedenkstätten ist heute also zu einem anerkannten Sektor der Kulturpolitik geworden.[2] Und so stellt sich längst nicht mehr die Frage, ob erinnert wird[3], sondern wie.

Denn so sehr die späte offizielle Auseinandersetzung mit den Orten der nazistischen Massenverbrechen als Errungenschaft zu werten ist, ist sie dennoch mit Fragen verbunden, denen mit diesem Text nachgegangen werden soll: Was ist die Aufgabe einer Gedenkstätte? Mit welchen geschichtspolitischen Abstrichen, Ausschlüssen und gouvernementalen Strategien ist die Anerkennung der negativen Erinnerung an die Verbrechensgeschichte verbunden? Welche verordneten Zwecke und Sinngebungen gehen mit der offiziellen Anerkennung und Transnationalisierung des Gedenkens einher? Und wieviel Raum gibt es in dieser Kulturpolitik der Gedenkstätten noch für geschichtspolitische Ansätze, die Brüche zulassen und antifaschistisch Position beziehen? Mit anderen Worten:


Wie gouvernemental ist die Transnationalisierung und Aktualisierung des Gedenkens?

Die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit aber auch die Verbrechensgeschichte der Orte bringen es mit sich, dass wir es hier mit einem sehr spezifischen Sektor des Ausstellungs- und Kulturbereichs zu tun haben, der nicht um Bezüge zu „gesellschaftlicher Relevanz“ ringen muss. Diese versteht sich einerseits von selbst und wird andererseits mittlerweile eben auch ständig und von verschiedenen Seiten an Gedenkstätten herangetragen:  „Nie sind Gedenkstätten nur Friedhöfe gewesen.“, schreibt Jan Philipp Reemtsma. „Die Orte sollen zugleich etwas anderes sein, etwas das über die engagierte Erinnerung der sich als Nachkommen fühlenden hinausreicht, ein Ort ‚für kommende Generationen’ und für die kommenden Generationen ‚aller Nationen’.“[4] Wir haben es also mit einem starken Appell an Gegenwart und Zukunft zu tun, offenbar verbunden mit einem transnationalen, gar universalen  Anspruch. Und genau diese beiden Aspekte – Aktualisierung und Transnationalität – sind in den Migrationsgesellschaften der Gegenwart zugleich notwendig und umstritten.[5] Denn die Tatsache der Migrationsgesellschaft muss endlich auch Implikationen für Erinnerungskulturen in einer geteilten Gegenwart haben: sie fordert dazu heraus die Monoperspektivität und die Ausschlüsse des immer noch vorherrschenden Nationalstaatspradigmas zu überschreiten. Allerdings wurde dieses zugleich in nicht unbedingt kritischer Weise längst transzendiert: Daniel Levy und Nathan Sznaider schreiben bereits 2001 – ein Jahr nach dem Holocaust-Forum in Stockholm – dass die „Kosmopolitisierung der Holocaust Erinnerung mittlerweile integraler Bestandteil europäischer Politik“ [6] geworden sei. Und Enzo Traverso macht auf die Gefahr einer damit verbundenen Entpolitisierung der Geschichtskultur aufmerksam. Diese besteht ihm zufolge „nicht darin, die Shoah zu vergessen, sondern die Erinnerung an sie zu missbrauchen, sie einzubalsamieren, in Museen einzusperren und ihr kritisches Potential zu neutralisieren, oder, schlimmer noch, sie apologetisch als Stütze der aktuellen Weltordnung zu benutzen.“[7] Auf dem Spiel steht also die Frage, welche Transnationalität und welche Gegenwartsbezüge sinnvoll, wichtig und zulässig erscheinen, mit welchen Mitteln diese hergestellt werden sollen und können und was demgegenüber von Gedenkstätten eben nicht geleistet werden kann und soll.

Denn in den letzten zwanzig Jahren hat sich „ein neues master narrative“ durchgesetzt[8], das es möglich macht, die negative Erinnerung an die nazistischen Verbrechen und den Holocaust in eine positive Identifikationserzählung zu integrieren. „Die heutigen öffentlichen Gedenkfeiern in Erinnerung an die Judenvernichtung zeugen zweifellos von einer verspäteten, aber realen Bewusstwerdung in allen europäischen Ländern.“, schreibt Enzo Traverso, „Allerdings kann man nicht behaupten, dass die Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz in Gegenwart von Dick Cheney, Wladimir Putin, Silvio Berlusconi, Jack Straw und Jacques Chirac von einem kritischen Gebrauch der Erinnerung zeugt.“[9] Vor diesem Hintergrund warnt die Historikerin Cornelia Siebeck vor zunehmend „normativ grundierten Gedächtnisgeschichten mit Happy End“, die als Zeichen einer europäischen Identität oder gar globalen Wertegemeinschaft interpretiert werden.[10] Wenn wir diese berechtigte Skepsis an einer zugleich moralisch aufgeladenen und jedes kritische Potential neutralisierenden neuen transnationalen Erinnerungskultur ernst nehmen und dennoch davon ausgehen wollen, dass Aktualisierung und Transnationalisierung heute wesentliche Aspekte der Gedenkstättenarbeit darstellen, was kann dann getan werden? Gibt es eine andere Transnationaliät? Und wie kann die Kulturpolitik einer Gedenkstätte aussehen, die in antifaschistischer und antirassistischer Hinsicht nicht beruhigen und belehren will, sondern repolitisieren?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zunächst weiterhin bei der Skepsis bleiben: Denn die Tendenz zur gouvernementalen Transnationalisierung der Erinnerung in Europa trifft auf nationale Geschichtskulturen, die in ihren Selbstverständnissen und Didaktiken noch weitgehend mehrheitsgesellschaftlich monoperspektivisch geprägt sind. Bisher gibt es hier noch wenige Ansätze, die der Migrationsgesellschaft gerecht werden. In ihrer Studie „Entliehene Erinnerung“[11] widmet sich Viola Georgi der Frage nach den Bezügen von jugendlichen MigrantInnen zu Nazismus und Shoah aus der Perspektive der Geschichtsbewusstseinsforschung und zeigt, dass sich diese sich nicht selten aus der Geschichtsvermittlung und ihren Narrativen[12] ausgeschlossen sehen. Aber auch eine Vermittlung, die die Mehrheitsperspektive herausfordern will, bleibt als Pädagogik in Schulen und Gedenkstätten in deren spezifische Logiken verstrickt und bringt zahlreiche Fragen und Probleme mit sich.[13] Eine besonders herausfordernde Aporie ist die Frage, wie die Monoperspektivität des Nationalstaatsparadigmas herausgefordert werden kann, ohne dabei wiederum ethnisierende Zuschreibungen und Differenzen vorzunehmen[14]. Mit anderen Worten:


Wie können wir über Differenz sprechen, ohne Differenz zu (re)produzieren?[15]

Dafür möchte ich den Begriff der „Contact Zone“ vorstellen, den  die beiden postkolonialen TheretikerInnen Mary Louise Pratt und James Clifford in den 1990er Jahren geprägt haben und mit Hilfe dessen in den letzten Jahren Museen und Bildungsprozesse als Verhandlungsräume gedacht wurden. Als Kontaktzonen beschreiben sie gesellschaftliche Räume, in denen unterschiedliche soziale und kulturelle Positionen aufeinandertreffen und miteinander täglich – mehr oder weniger konfliktuell – auskommen müssen und verhandelt werden.[16] Zwar dachten die beiden postkolonialen TheoretikerInnen, aus der Literaturwissenschaft[17] bzw. Museumstheorie kommend, wohl nicht an den postnazistischen Kontext, als sie ihr Konzept entwickelten und beschrieben. Dennoch erscheint die Idee der Kontaktzone für den Kontext von Gedenkstätten produktiv, weil es mit ihr gelingt, Verbindungen zwischen unterschiedlichen Positionen vor dem Hintergrund von nazistischer Verbrechensgeschichte zu denken, ohne dabei vereinnahmende oder vereinheitlichende Vorannahmen zu treffen. Der Begriff beschreibt geteilte[18] soziale Räume des Aufeinandertreffens und fordert dabei bestehende Konzepte von Gemeinschaft heraus: Er durchkreuzt Vorstellungen von „Authentizität“ ebenso sehr wie von „Ohnmacht“. Das heißt, dass verschiedene Geschichten, Bezüge und Machtverhältnisse in den Blick geraten können, ohne dass gleich kulturelle Andersheit angenommen oder konstruiert werden muss.

Hierarchien werden dabei weder als einziger Bedeutung produzierender Faktor betrachtet, noch werden sie außer Acht gelassen. Denn wenn alle in einer Kontaktzone zwar von spezifischen Bedingungen und Machtverhältnissen geprägt, aber dennoch nicht völlig durch diese bestimmt sind, wird es möglich, Handlungsmacht in Theorie und Praxis zu denken. Diese Möglichkeit zu Handeln steht allen Beteiligten in einer Kontaktzone zur Verfügung – allerdings vor dem Hintergrund bestehender Asymmetrien der Machtverhältnisse in jeweils unterschiedlicher Weise. Kontaktzonen sind also vermachtete Handlungsräume.

In diesen geteilten Räumen treten AkteurInnen unter unterschiedlichen Bedingungen miteinander in Interaktion. Das Produktive an dem Begriff ist, dass hier Subjektbildung nicht als dem Kontakt substantiell vorausgehend vorgestellt wird, sondern erst durch gemeinsames Handeln und Verhandeln entsteht:[19] Weder ist sie auf der westlichen, humanistischen Idee scheinbar universal gleich handelnder Menschen aufgebaut, noch auf kulturalistischen Vorstellungen einer Vorbestimmung durch Herkunft. So konstituieren sich Subjekte und AkteurInnen in der Theorie der Contact Zone eben nicht essentiell – einer der Interaktion vorgängigen Kultur oder sozialen Position entsprechend –, sondern im Prozess und im Verhältnis zu einander.

Eine weitere Ebene der Kontaktzone, die bei der Verwendung des Begriffs oft missverstanden oder vergessen wird, ist jene des Konflikts. Eine Begegnung in ungleichen Machtverhältnissen birgt selbstverständlich zahlreiche Konfliktpotentiale. Und diese sind in dem Begriff nicht verdrängt, sondern integral enthalten.[20] Kontaktzonen werden auf diese Weise nicht mehr bloß als mächtige Räume, sondern vielmehr als gewachsene Strukturen gesehen, in denen sich unterschiedliche soziale Kämpfe als ständige Prozesse des Ringens um Deutungsmacht niederschlagen. Daraus ergibt sich eine hegemonietheoretische Schlussfolgerung: Insofern es sich um gewachsene Strukturen handelt, die Ergebnisse von Kämpfen innerhalb von Machtverhältnissen sind, sind diese auch nicht unveränderlich, können in Frage gestellt werden und Neudefinitionen erfahren.


„Und was hat das mit mir zu tun?“ – Ein Projekt zwischen Forschung, Bildung und Ausstellung

Dass diese Orientierung an einer offenen und konfliktuellen Kontaktzone  in der Praxis mit vielen Fragen und Herausforderungen verbunden ist, soll hier nun anhand eines konkreten Projekts veranschaulicht werden: Von September 2009 bis September 2011 arbeiteten wir als transdisziplinäres Projektteam aus VermittlerInnen und WissenschafterInnen rund um das Wiener Büro trafo.K[21] im Rahmen des Projekts „Und was hat das mit mir zu tun?“ mit SchülerInnen an Perspektiven einer transnationalen Geschichtsvermittlung zu Nazismus und Holocaust in der Migrationsgesellschaft. In Kooperation mit VermittlerInnen, LehrerInnen[22], Studierenden[23], WissenschafterInnen[24] und GestalterInnen[25] entwickelten SchülerInnen Interventionen in eine Gedenkstätte[26], die an ihrer Schule  – dem Brigittenauer Gymnasium, an dessen Standort sich im Nazismus ein Gestapogefängnis befand – angesiedelt ist.

Um uns nun dem oben angesprochenen Dilemma zwischen Homogenisierung und der Zuschreibung von Differenz zu stellen, haben wir eine offene Projektstruktur entwickelt, bei der die Jugendlichen an möglichst vielen Stellen des Projekts wesentlich an dessen Verlauf mitbeteiligt waren. Diese war im Projekt so angelegt, dass wir anhand von Ausstellungsbesuchen und Inputs zwar Inhalte anboten, dabei aber eine Struktur generierten, in der die SchülerInnen ihre eigenen Fragen verfolgen konnten. Fest stand bloß, dass das Projekt innerhalb des Themenkomplexes Nazismus, Holocaust und Zweiter Weltkrieg angesiedelt ist. Welche konkreten Aspekte und Fragen in diesem Zusammenhang behandelt wurden, sollte sich erst im Zuge des Projektprozesses herausstellen. Zwei wesentliche Mittel dafür waren die Entwicklung eigener Recherchefragen von Seiten der SchülerInnen und die Einbeziehung von ExpertInnen zu genau diesen Fragen. Auf diese Weise sollte eine Formulierung von Schwerpunkten durch die SchülerInnen selbst möglich werden. Anhand von dieser grundsätzlich ergebnisoffenen Methode sollte die titelgebende Frage des Projekts „Und was hat das mit mir zu tun?“ jeweils spezifisch und unterschiedlich konkretisiert werden können. Ähnlich wie bei Forschungsfragen und Arbeitsthemen in der Wissenschaft stellt sich diese Frage im Laufe eines Projekts immer wieder und kann immer wieder anders beantwortet werden. Die konkrete Formulierung der Fragen erfolgte in Zusammenarbeit zwischen den SchülerInnen, den WissenschafterInnen, den VermittlerInnen und den LehrerInnen.

Mit Hilfe der konzeptiven Entscheidung, ExpertInnen zu involvieren, wollten wir einer gängigen alltagspädagogischen Tendenz entgegen arbeiten, die SchülerInnen so zu beraten, dass sie bloß Fragen stellen, die die VermittlerInnen selbst beantworten können bzw. mit deren Themenbereich sie vertraut sind. So ging es uns also darum, ein Setting zu schaffen, in dem wir keine Angst vor unserem eigenen Unwissen haben. Vielmehr war es ja gerade Ziel des Projekts, dass Aspekte des Themenkomplexes Nazismus, Holocaust und Zweiter Weltkrieg zur Sprache kommen können, die gemeinhin marginalisiert werden, die wir also vielleicht nicht kennen und daher auch nicht erwarten oder vorausplanen konnten.

So haben die Jugendlichen zwölf Recherchefragen entwickelt. Ihre Bandbreite kann einen sprechenden Einblick in die Bezüge geben, die Jugendliche für sich wählen, wenn sie das Thema, mit dem sie sich beschäftigen möchten, selbst formulieren: Welche Rolle spielte die Türkei im Zweiten Weltkrieg?[27] Warum begann der Balkankrieg? Gibt es Verbindungen mit dem Zweiten Weltkrieg?[28] Wer profitierte von den ‚Arisierungen’ und der Solidarität der „Volksgemeinschaft“?[29] Was sind die Organisations- und Ausdrucksformen von Rechtsextremismus in Österreich?[30] Wie funktioniert Propaganda (am Beispiel von Wahlplakaten)?[31] Wie geht die Gesellschaft mit Homosexualität um (vom „Dritten Reich“ bis heute)?[32] Wie ambivalent ist Assimilation?[33] Welche Rolle spielt die Gedenktafel für die Erinnerung an das Gestapo-Gefängnis im Brigittenauer Gymnasium?[34] Was geschah beim ›Anschluss‹ 1938?[35] Wie funktionierten Organisation und Alltag im Konzentrationslager Mauthausen?[36] Worin bestanden die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion? Wie werden diese in Schulbüchern dargestellt?[37] Wie definierte die NS-Medizin ›unwertes Leben‹?[38] Sowohl die Bandbreite als auch die Qualität der Ergebnisse macht deutlich, dass eine Geschichtsvermittlung, die die nationalen Grenzen des klassischen Geschichtsunterrichts überschreiten kann und dennoch ohne identitäre Zuschreibungen und Festlegungen auskommt, sehr produktive, intensive und für alle Beteiligten lehrreiche Prozesse ermöglicht.

In beiden Projektjahren waren wir allerdings nicht nur mit ernsthaften und gelungenen Arbeitsprozessen (die aus dem oben Beschriebenen wohl gut ersichtlich sind), sondern auch mit zahlreichen Formen von Abwehr und Desinteresse von Seiten der SchülerInnen konfrontiert.

Um der Konfliktualität der damit verbundenen Situationen theoretisch gerecht zu werden, scheint es sinnvoll, Cliffords Konzept der Kontaktzone um einen demokratietheoretischen Ansatz zu erweitern, der vom Umgang mit Dissens ausgeht: dem Konzept des Agonismus bei Chantal Mouffe.[39]  In einer Verdichtung von Clifford und Mouffe lassen sich unsere Prozesse mit der Idee einer „agonistischen Kontaktzone“ als zugleich offene und entschiedene Parteilichkeit beschreiben. In der agonistischen Kontaktzone geht es nicht um „sozial erwünschtes sprechen“, sondern um die Möglichkeit aller Beteiligten Position zu beziehen. Unsere Position ist dabei also nicht ausschließend, aber doch keineswegs neutral, sondern vielmehr dissensuell und überzeugend.


Geteilte Erinnerungsorte

Nehmen wir die beiden angesprochenen Probleme – eine allzu einfachen Sinnstiftung an den Orten des industriellen Massenmordes einerseits und die Gefahr der Ethnisierung bei dem Wunsch pädagogischer Transnationalisierung andererseits – ernst, so können daraus Schlüsse in Bezug auf die Öffnung gängiger Selbstverständnisse gezogen werden:

Wir haben es in Gedenkstätten mit zwei unterschiedlichen Aspekten zu tun: Erstens, dem was geschehen ist. Und zweitens, dem was es heute für die Gesellschaft bedeutet. Diese beiden Seiten der Geschichtsvermittlung unterscheiden sich kategorial von einander. Dem, was geschehen ist, können wir uns nur historisch annähern. Wir müssen uns an das konkrete Material halten (Dokumente, Spuren an den konkreten Orten, Aussagen von Überlebenden) und an die davon ausgehenden Auslegungen der Geschichtswissenschaft. Dies gilt es ernst zu nehmen und nicht durch allzu einfache Erhabenheitsgesten und Sinnstiftungen in den Hintergrund treten zu lassen. Darüber hinaus scheint eine Revision der Inhalte der Geschichtskulturen und –vermittlungsformen auf der Tagesordnung zu stehen. Was wissen wir über die europäischen Dimensionen der Verstrickungen in die Verbrechen? Warum steht in österreichischen Schulbüchern etwa nichts über die Verbrechen in Jugoslawien, über die Rolle der PartisanInnen? Wie vertraut ist uns die postkoloniale Perspektive auf den Nazismus? Wie differenziert können wir die Rolle der Türkei im Zweiten Weltkrieg sehen? Es gilt also weiterhin – gegen bloße Bekenntnisse und Rhetoriken – auf historische Arbeit und auf ihre Konkretion und Methodologie zu bestehen.

Zweitens geht es um eine davon kategorial unterschiedene partizipative Dimension: Aktuell verhandelt werden, kann nicht was war, sondern nur dessen Bedeutung für die Gegenwart. Insofern sich Gedenkstättenarbeit aber als partizipativ verstehen will, muss dies stets und jeweils gemeinsam geschehen. Im Sinne der Kontaktzone bedeutet dies, dass nicht alle Antworten auf das, was die Massenverbrechen der Nazis für uns bedeuten, bereits feststehen. Vielmehr gilt es einen Verhandlungsraum zu eröffnen, der offene Ziele hat und auch Dissens möglich macht. An dieser Stelle lohnt es sich den Begriff der Kontaktzone mit jenem das Agonismus von Chantal Mouffe zusammen zu denken. Denn dieser ermöglicht eine Demokratietheorie, die Konflikte zulässt: Mouffe spricht von einer „Art konfliktualen Konsens“, „der den Opponenten als ‚legitimen Feinden’ einen gemeinsamen symbolischen Raum erschließt.“[40] Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das heißt keineswegs, dass Geschichtsarbeit damit neutral sein soll. Ganz im Gegenteil, denn Agonismus bedeutet bei Mouffe Parteilichkeit: „Der fundamentale Unterschied zwischen der ‚dialogischen’ und der ‚agonistischen’ Perspektive liegt darin, daß letztere sich in eine tief greifende Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse und die Schaffung einer neuen Hegemonie zum Ziel setzt. Aus diesem Grund kann die agonistische Perspektive im eigentlichen Sinne ‚radikal’ genannt werden.“[41] In diesem Sinn soll hier für eine Geschichtsarbeit in geteilten Erinnerungsorten plädiert werden, die sich gleichermaßen als partizipativ und reflexiv wie als antifaschistisch und antirassistisch versteht.

Wenn Gedenkstätten nicht zu bloßen moralischen Instanzen der Selbstvergewisserung werden sollen, dann gilt es auf die Brüche und Fragen zu bestehen, die mit den Worten „Niemals vergessen“ verbunden waren, bevor sie zur leeren Worthülse wurden. Die beiden hier angesprochenen Aspekte der Geschichtsarbeit – das historische Material und die Kontaktzone – können dabei als gleich berechtigte Widerstände gegen Top-Down Sinngebungen verstanden werden. Denn sowohl der historische Gegen-Stand, als auch die Aktzeptanz einer Vervielfältigung von Bezügen zu Erinnerungsorten in der Kontaktzone können nicht in eine einfache Moral verpackt werden. Sie stellen oft unerwartete Begegnungen dar und zwingen Brüche zu akzeptieren und Sinngebungsansprüche zu revidieren.

 



[1] Der damalige Innenminister Ernst Strasser (ÖVP) meinte 2001 anlässlich der Vorstellung der Reformpläne für die Gedenkstätte KZ Mauthausen: „Wir wollen eine zeitgemäße Form des Gedenkens für nachfolgende Generationen schaffen. Wir wollen damit eine Art Schutzimpfung gegen Rechtsradikalismus, Menschenhatz und jede Form der Wiederbetätigung finden und Mauthausen als Zentrum der Wiederbetätigungsprävention sichern.“, www.bmi.gv.at/cms/BMI_OeffentlicheSicherheit/2001/03_04/Artikel_14.aspx. Ursprünglich stammt diese Idee einer Schutzimpfung von Adorno, der sich 1959 in dem Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ im Hinblick auf eine solche „Schutzimpfung“ für die Etablierung psychologischer und pädagogischer Propagandatricks ausgesprochen hat. Theodor W. Adorno, in: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit (1959), in: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1971, S. 10-28, hier S. 27.

[2] Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Wozu Gedenkstätten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25-26/2010, S. 3-9, hier S. 3. Volkhard Knigge – der Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald – spricht davon, dass in der Bundesrepublik „negatives Gedächtnis als staatlich geförderte, öffentliche Aufgabe“ etabliert werden konnte. Vgl. Volkhard Knigge, Zur Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25-26/2010, S. 10-16, hier S. 12.

[3] Volkhard Knigge macht darauf aufmerksam, dass die Frage nach dem „Ob“ – „die Frage nach der politischen Durchsetzbarkeit gegen nicht selten heftigste Widerstände“ bis in die 1980er Jahre im Vordergrund gestanden hatte. Volkhard Knigge, Gedenkstätten und Museen, in: ders., Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 378-389, hier S. 402f.

[4] Jan Philipp Reemtsma, Wozu Gedenkstätten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25-26/2010, S. 3-9, hier S. 4.

[5] „Der Umstand, dass alle westeuropäischen Gesellschaften inzwischen Einwanderungsgesellschaften sind, bringt die Notwendigkeit der Entwicklung einer transnationalen Erinnerungskultur mit sich.“ Harald Welzer, Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25-26/2010, S. 16-29, hier S. 17.

[6] Daniel Levy, Nathan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001, S. 210.

[7] Enzo Traverso, Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit. Geschichte, Erinnerung, Politik, Münster 2007, S. 71.

[8] Vgl. Cornelia Siebeck, Gedächtnis, Macht, Repräsentation. Zur (Un-)Möglichkeit demokratischer Gedenkstätten. Unveröffentlichter Abstract für einen Vortrag auf dem 16. Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager >Neue Perspektiven der Konzentrationslagerforschung: Ort, Ereignis und Gedächtnis<. Oświęcim/Gedenkstätte Auschwitz, 21. bis 25. May 2010.

[9] Enzo Traverso, Vom kritischen Gebrauch der Erinnerung, in: Thomas Flierl, Elfriede Müller (Hg.), Vom kritischen Gebrauch der Erinnerung, Berlin 2009, S. 27-46, hier S. 36.

[10] Cornelia Siebeck, Gedächtnis, Macht, Repräsentation. Zur (Un-)Möglichkeit ‚demokratischer’ NS-Gedenkstätten,  Abstract für einen Vortrag auf dem 16. Workshop zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager in der Gedenkstätte Auschwitz 2010, unveröff.

[11] Viola Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003.

[12] Denken wir etwa an die durch Raul Hilberg geprägte Trias “TäterInnen, Opfer, ZuschauerInnen“, die zeitgenössische Vermittlungsformen sehr stark geprägt hat und wenig Raum für mögliche andere historische Perspektiven (wie jene von PartisanInnen, SoldatInnen im Kolonialismus oder einer Armee der Alliierten etc.) lässt.

[13] Vgl. dazu die reflexiven Perspektiven von Astrid Messerschmidt (Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 2009) und Paul Mecheril (Paul Mecheril, Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive, in: ders. et al., Migrationspädagogik, Weinheim, Basel 2010).

[14] „Weder eine Ignoranz gegenüber dem Migrationsaspekt, noch dessen identitäre Aufladung entsprechen den gesellschaftlich-kulturellen Gegebenheiten. Anzustreben ist eher eine Kontextualisierung von Migration im Zusammenhang vielfältiger Differenzen und Zugehörigkeiten und ein Bezug zu den Erfahrungen in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Raum, in dem Geschichte repräsentiert wird.“, Astrid Messerschmidt, Involviertes Erinnern. Migrationsgesellschaftliche Bildungsprozesse in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus, in: Till Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010, S. 277-299, hier S. 278.

[15] Ich verdanke die konkrete Formulierung dieser Frage einer Arbeitsgruppe nach einem Vortrag von Paul Mecheril auf dem Symposium: Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft, Eine Arbeitstagung, 27. – 28. Mai 2011, Institut für Kunst im Kontext, Universität der Künste, Berlin

[16] Pratt gebraucht den Begriff – entsprechend ihrem Forschungsgegenstand – vor allem im Zusammenhang mit westlichen Expansionen und ethnografischen Explorationen. Clifford betont, dass sich dieser auch auf soziale Differenzierungen – etwa in einer Stadt – ausweiten lässt. Vor diesem Hintergrund eignet er sich zur Beschreibung geteilter Räume in der Migrationsgesellschaft: „The notion of a contact zone, articulated by Pratt in contexts of European expansion and transculturation, can be extended to include cultural relations within the same state, region, or city – in the centers rather than the frontiers of nations and empires. The distances at issue here are more social than geographic. For most inhabitants of a poor neighborhood, located perhaps just blocks or a short bus ride from a fine-arts museum, the museum might as well be another continent. Contact perspectives recognize that ‚natural’ social distances and segregations are historical/political products.“ (James Clifford, Routes, Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge 1997, 204).

[17] Der Begriff Contact Zone stammt der Literaturwissenschafterin Pratt zufolge aus der Linguistik: „I borrow the term ‚contact’ here from linguistics, where the term contact language refers to an improvised language that develops among speakers of different tongues who need to communicate with each other consistently, usually in the context of trade. Such languages begin as pidgins, and are called creoles when they come to have native speakers of their own. Like the societies of the contact zone, such languages are commonly regarded as chaotic, barbarous and lacking in structure. (Ron Carter has suggested the term ‚contact literatures’ to refer to literatures written in European languages from outside Europe.)“ (Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, New York, 2. Auflage 2008, S. 8.)

[18] Das Konzept der „geteilten Räume“ bezieht sich auf den doppelten Sinn von „shared“ und „divided spaces“, wie er in der potskolonialen Theorie in Bezug auf Grenzen und Konflikte thematisiert wird. Vgl. etwa Michael Chisholm/David Smith (Hg.), Shared Space, Divided Space: Essays on Conflict and Territorial Organization, London–New York 1990.

[19] Dies entspricht dem Stand der Debatten in der postkolonialen Theorie. Vgl. hier etwa die dekonstruktive Foucault-Rezeption und Relektüre bei Gayatri Spivak: Gayatri Chakravorty Spivak, Outside in the Teaching Machine, New York–London 1993.

[20] So ermöglicht die Kontaktzone bei Clifford – einmal bezeichnet er sie sogar als „contact (conflict) zone“ – eine Analyse des Museums als Ort, in dem sich Konflikte sedimentiert haben: „When museums are seen as contact zones, their organizing structure as a collection becomes an ongoing historical, political, moral relationship – a power-charged set of exchanges, of push and pull”. (Clifford, Routes, Travel and Translation, 192).

[21] Renate Höllwart, Elke Smodics-Kuscher, Nora Sternfeld und Ines Garnitschnig (Sozialwissenschafterin) gemeinsam mit Dirk Rupnow (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck)

[22] Die beteiligten LehrerInnen für Geschichte und politische Bildung waren Renate Pražak, Heldis Stepanik-Kögl und Michael Zahradnik. Ermöglicht wurde diese Zusammenarbeit auch durch die Unterstützung der Direktorin, Margaret Witek.

[23] Angelika Stephanie Böhm, Isabella Bugnits, Tobias Dörler, Cornelia Hauer, Werner Prokop, Anna Schähle, Melanie Wurth (Studierende am Institut für das künstlerische Lehramt, Akademie der bildenden Künste Wien, im Rahmen des Vertiefungsfachs ›Schule und Vermittlung‹ von Maria Hündler).

[24] Marty Huber, Jasmina Janković, Martin Krenn, Peter Larndorfer, Hannah Landsmann, Walter Manoschek, Radostina Patulova, Heribert Schiedel, Adalbert Wagner

[25] Toledo i Dertschei, http://tid.nextroom.at/

[26] Vgl. http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/gedaechtnisorte-gedenkstaetten/katalog/gedenkstaette_karajangasse

[27] An dieser Frage arbeiteten Ömer Apaydin, Tanju Ersungur und Mustafa Şahan.

[28] Von Milos Stanišić, Mario Talaić, Paul Schutting.

[29] Von Ali Asghari, Gentiana Kaba, Marijo Kajušić-Pavić.

[30] Von Julia Herko, Maria Li, Daniela Ujhazi, Nicolette Wikgolm, Natascha Wurm.

[31] Von Nina Aichinger, Besiana Grdela.

[32] Von Judith Frühwirth, Patrick Marksteiner, Shivam Subhash.

[33] Von Ahmed El Arby, Nikola Ilić, Baran Şengül.

[34] Paul Schutting, Ayşegül Şeker, Bernhard Teuschl

[35] Frederick Dabe, Harald Sattler, Miloš Stanišić

[36] Lisa Napravnik, Romana Prerad, Asmaa Soliman

[37] Emil Proksch, Artur Tsal-Tsalko

[38] Marijo Kajušić-Pavić

[39] Mouffe versteht Agonismus als „‚konfliktualen Konsens’ der den Opponenten als ‚legitimen Feinden’ einen gemeinsamen symbolischen Raum erschließt.“ Sie schreibt: „Anders als den dialogischen Ansatz betrachte ich die demokratische Diskussion als reale Konfrontation. […] Der fundamentale Unterschied zwischen der ‚dialogischen’ und der ‚agonistischen’ Perspektive liegt darin, daß letztere sich eine tiefgreifende Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse und die Schaffung einer neuen Hegemonie zum Ziel setzt.“ Vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007, 69–70.

[40] Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007, S. 70.

[41] Ebd.


Mit Untersützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, Abt.IA/4.

 

 

http://eipcp.net/policies/sternfeld/de
Erinnerungskulturen in einer geteilten Gegenwart