eipcp Projects Creating Worlds
02 2012
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Kognitiver Kapitalismus, General Intellect und die Politiken der „kollektiven Intelligenz“

Raimund Minichbauer

Raimund Minichbauer

biography

Enzo Rullani verwendet in seinem Standardwerk zur Ökonomie des Wissens[1] das Bild einer fiktiven Schulklasse, um den Begriff des „sozialen Wissens“ zu illustrieren: 100 Schüle­r_innen, die ein 100-seitiges Buch zu lernen haben. Dem – im Bildungsbereich nach wie vor hegemonialen – Konzept des individuellen Wissens folgend, müsste jede_r Schüler_in alle 100 Seiten lernen. Das soziale Wissen bringt demgegenüber eine enorme Effizienzsteigerung, indem jede_r Schüler_in nur noch eine einzige Seite zu lernen braucht, aber es bringt auch eine Menge an Koordinations- und Kompensationsnotwendigkeiten mit sich, anhand derer Rullani das Funktionieren von Wissensökonomien skizziert: Wie kann sichergestellt werden, dass bei einer Prüfung alle anwesend sind, um nötigenfalls das Wissen über ihre jeweilige Seite zur Verfügung zu stellen? Wie können alle motiviert werden, ihre Seite zu lernen, obwohl sie das Wissen selbst vielleicht nie direkt brauchen werden? Was bewirken die unterschiedlichen Wertigkeiten der einzelnen Seiten? etc.

Man könnte die Konzepte von „kollektiver Intelligenz“, wie sie im Folgenden analysiert werden, provisorisch in diesem Bild verorten, als ein bestimmtes Bündel von Strategien, um in diesem Meer verteilten Wissens Prozesse der Aggregation in Gang zu setzen und von den positiven Effekten daraus zu profitieren.

Erhöht man die Komplexität des Bildes etwas, um sich der konkreten Realität anzunähern, so sind zum verteilten Wissen vor allem auch andere Formen kognitiver Tätigkeit hinzuzufügen, wie das Aggregieren von Schlussfolgerungen und Prognosen, oder auch die Frage verteilter Kreativität. Und das mit weitgehender politischer Voraussetzungslosigkeit konnotierte Bild der Schulklasse weicht dem ganz anderen einer von Asymmetrien und Gewaltverhältnissen durchzogenen globalen Situation, in der sich der Neoliberalismus bis in den letzten Winkel verbreitet und die Ausbeutungsverhältnisse wieder zunehmend verschärft.

Die vorliegende Studie, die im Rahmen des eipcp-Projekts Creating Worlds erarbeitet wurde, geht aus von der Theorie des kognitiven Kapitalismus als einem kritischen Ansatz zur Analy­se der Wissensökonomien. Besonders herausgearbeitet wird dabei der Begriff des „General Intellect“, der den transindividuellen Charakter des Intellekts fokussiert, sowohl in seiner gegenwärtigen Funktion als Grundlage der kapitalistischen Produktion als auch in seinem emanzipatorischen Potenzial.

Das zweite Kapitel analysiert Konzepte „kollektiver Intelligenz“ zu Beginn des 21. Jahrhun­derts: Nachdem das Paradebeispiel der Mainstreamtheorien zur Wissensökonomie, die „New Economy“ der späten 1990er Jahre, im Dotcom-Crash von 2001 untergeht, konzentriert sich die Internet- und Softwareindustrie auf eine neue Ressource, von der sie sich eine Konsoli­dierung erhofft: „Harnessing collective intelligence“ wird zum neuen Paradigma. Es model­liert den Zugriff auf die kollektiven Grundlagen kognitiver wie kreativer Produktion, ent­wickelt eigene Aggregationsverfahren und Geschäftsmodelle, die auf ein Zur-Ware-Werden von Wissen und Kreativität und die damit einhergehenden klassischen Eigentumsverhältnisse nur noch bedingt angewiesen sind und den Hypes der letzten Jahre, von Web 2.0 bis Social Media, zugrunde liegen.

Die in Kapitel II analysierten, auf „kollektive Intelligenz“ bezogenen Konzepte und Praxen bilden einerseits ein Fallbeispiel, anhand dessen Elemente der Theorie des kognitiven Kapita­lismus konkretisiert werden können. Gleichzeitig schaffen die Theorie des kognitiven Kapitalismus und der Begriff des „General Intellect“ die Voraussetzungen dafür, um über die empirische Ebene und über die Kritik am Netzkapitalismus hinauszugehen und nach dem emanzipatorischen Impetus von „kollektiver Intelligenz“ zu fragen. Nachdem der theoretische Ansatz und das Fallbeispiel in den ersten beiden Kapiteln je für sich analysiert und (durch nur wenige Verbindungsstränge verbunden) einander gegenübergestellt wurden, setzt Kapitel III an, in der Form von vier Schlussfolgerungen die Zusammenhänge herauszuarbeiten.

In Bezug auf den Begriff der „kollektiven Intelligenz“ versteht sich die vorliegenden Studie als Teil einer Reihe, in der verschiedene Aspekte – jeweils in Bezug auf elektronische Netz­werke – fokussiert werden. Sie widmet sich dem Begriff vor allem in seiner Verwen­dung im Kontext von organisations- und managementtheoretischen Ansätzen. Eine Ausein­andersetzung mit weiteren Ansätzen – den Neuro-/Kognitionswissenschaften nahestehenden, den auf Konzepte von „Global Brain“ und „Noopolitics“ bezogenen – sowie die Analyse verschiedener medialer Praxen – vor allem Computer Games – folgen.


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[1] Enzo Rullani, Ökonomie des Wissens. Kreativität und Wertbildung im Netzwerkkapitalis­mus, Ü: Klaus Neundlinger, Wien: Turia + Kant 2011 (italienisches Original: 2004)