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01 2005

Indymedia - Zur Verkettung von physikalischen und virtuellen Öffentlichkeiten

Marion Hamm

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journal
publicum

Seit einigen Jahren werden innerhalb der globalen Protestbewegungen permanent Öffentlichkeiten produziert, die nicht mehr trennen zwischen "wirklich" und "virtuell". Aus Begegnungen an den geographischen Orten der großen Mobilisierungen und lokal angebundenen Vorbereitungstreffen einerseits, und dem Dickicht der Webseiten, Webforen, Email-Listen, Chatrooms und Wikis andererseits, entsteht ein Kommunikationsraum, der das, was in den 1980er und 1990er Jahren mit viel Faszination als "Cyberspace" diskutiert wurde, weit in den Schatten stellt - denn die Verschmelzung von virtuellem und physikalischem Raum, Körper und Technologie gestaltet sich viel selbstverständlicher und alltäglicher, als man es sich vorgestellt hatte.

Wie sieht nun dieser Kommunikationsraum aus, was sind seine Voraussetzungen, unter welchen Bedingungen eröffnet er sich und wodurch ist er begrenzt?

Eine treffende Vision zeichneten die Zapatistas, als sie im August 1996 ihre Absicht erklärten, "ein Kommunikationsnetzwerk zwischen all unseren Kämpfen und Widerständen zu schaffen". Dieses "interkontinentale Netzwerk der alternativen Kommunikation" sollte gegen den Neoliberalismus gerichtet sein, ein Medium, über das die verschiedenen Widerstände miteinander kommunizieren würden. Es würde danach trachten, "Kanäle zu weben, damit die Worte auf allen Straßen des Widerstands reisen mögen". Es sollte keine Organisationsstruktur sein, noch sollte es einen zentralen Direktor oder Entscheidungsträger haben, noch eine zentrale Kommandoebene oder Hierarchien. Dieses Netzwerk, so die Zapatistas, "sind wir alle, die wir sprechen und zuhören."[1]

Diese Absicht beschreibt etwas noch nie da Gewesenes: Ein Gebilde, dessen Beschreibung als Kommunikationsnetzwerk an eine alternative Gegenöffentlichkeit anklingt, jedoch weder Zeitung oder Radioprogramm noch Webseite oder Email-Liste ist. Ein Gebilde, das in der Betonung der horizontalen, dezentralisierten Organisation an eine soziale Bewegung erinnert, aber kein einheitliches revolutionäres Programm einfordert; das im Gegenteil die Unterschiedlichkeit der Kämpfe auf der ganzen Welt betont. Beschrieben wird ein Kommunikationsraum, in dem die vielen verschiedenen Widerstände gegen das, was die Zapatistas seit 1994 als Neoliberalismus bezeichneten, ihre Kritik und Praxis formulieren würden. Dieses "interkontinentale Netzwerk der alternativen Kommunikation" erscheint als permanente Fortsetzung der großen Enquentros, zu denen die Zapatistas Mitte der 1990er Jahre aufgerufen hatten: Zusammenkünfte aller, die sich eingeladen fühlen, Orte des Austauschs und der Kommunikation ohne die Verpflichtung, zu einheitlichen Ergebnissen, einheitlichen Absichtserklärungen zu kommen: ein öffentlicher Raum, geschaffen durch permanenten horizontalen und dezentralen Austausch, an dem jede und jeder teilnehmen könnte.

Im folgenden Jahr rief Subcomandante Marcos in einer Grußadresse an das von diversen US-amerikanischen alternativen Medienprojekten organisierte "Freeing the Media" Treffen in New York City noch einmal zur Schaffung eines unabhängigen Mediennetzwerks auf, diesmal mit deutlicherem Bezug auf traditionelle Gegenöffentlichkeiten: Das Netzwerk sollte die Geschichte der Kämpfe in der ganzen Welt erzählen und damit den Lügen der kommerziellen Medien die Wahrheit der sozialen Kämpfe entgegensetzen.[2]

Schon im Jahr 2000 war die Besonderheit dieses quasi hybriden Kommunikationsraums erkennbar. Naomi Klein konstatierte: "Die Bewegung, mit ihren Hubs und Spokes und Hotlinks, ihrer Betonung von Information statt Ideologie, spiegelt das Werkzeug wider, das sie benutzt - sie ist das zum Leben erwachte Internet."[3] Umgekehrt, so die autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe, ist die Bewegung selbst daran beteiligt, das Internet hervorzubringen: "In einer Zeit, in der mediale Repräsentation als zentrale Ressource angesehen wird (Stichwort "Informationsgesellschaft"), schafft sich die Bewegung der People from Seattle die Infrastruktur zu ihrer Selbstdarstellung selbst."[4]

Die entstehende Kommunikations-Infrastruktur ist ein Raum der Repräsentation und Produktion zugleich, ein Raum, der permanent durch seine Nutzung geschaffen wird, der zugleich virtuell ist und sich in den Protesten auf der Straße und im Bewegungsalltag vor Ort materialisiert. Von traditionellen Gegenöffentlichkeiten, ob diese nun durch alternative, eigene oder souveräne Medien vermittelt werden, unterscheidet er sich unter anderem durch seine unmittelbare Interaktivität in Echtzeit, die Einbeziehung neuer und herkömmlicher Kommunikationskanäle, und durch seine globale Ausdehnung.

 

Enter: Indymedia

Ein besonders bekanntes und gleichzeitig paradigmatisches Beispiel ist das weltweite Netzwerk alternativer Nachrichtenwebseiten "Indymedia".

Als 1999, für die Proteste gegen die WTO in Seattle, das erste "Independent Media Center" (IMC) eingerichtet wurde, wirkte es wie eine Umsetzung der zapatistischen Aufrufe. Noch deutlicher wird dies, wenn man den Blick auf das innerhalb von fünf Jahren auf über 150 Webseiten auf allen fünf Kontinenten angewachsene Netzwerk der IMCs richtet. Wie Chris Shumway beschreibt, waren die MedienaktivistInnen, die 1996 anlässlich der Democratic National Convention in Chicago erstmals eine Berichterstattung auf einer gemeinsamen Webseite ausprobierten, tatsächlich vom Zapatismus inspiriert. Aber erst drei Jahre später waren alle Elemente für ein globales, interaktives Kommunikationsnetzwerk beisammen: alternative MedienmacherInnen, funktionierende Software, und das Konzept des Open Publishing.[5]

Vordergründig gesehen ist jedes Independent Media Center oder "Indymedia" einfach eine Webseite alternativer Gegenöffentlichkeit: Berichte über lokale und globale Proteste, Aufrufe zu Treffen und Veranstaltungen sowie Berichterstattung über dieselben, Themen wie Antirassismus, Gender, Militarismus, soziale Kämpfe, Biotechnik.

Diesen traditionell gegenöffentlichen Ansatz bestärkt das Mission Statement des ersten IMC, das viele IMCs in Teilen übernommen haben: "Indymedia is a collective of independent media organizations and hundreds of journalists offering grassroots, non-corporate coverage. Indymedia is a democratic media outlet for the creation of radical, accurate, and passionate tellings of truth"[6].

Bei allen globalen Mobilisierungen seit Seattle, von den Protesten gegen die Weltbank in Prag über den G8 in Genova bis hin zu den für das G8 Treffen im schottischen Gleneagles geplanten Aktionen im Jahr 2005 bedeutet "Independent Media Center" auch einen physikalischen Ort, eine Art alternatives Internetcafé in der Nähe des protestierenden Geschehens, mit Zugang zu Computern und der Möglichkeit, Ton-, Bild- und Textdokumente hochzuladen.

 

Open Publishing ist Free Software

Indymedia-Webseiten zeichnen sich durch das System des Open Publishing aus: Jede und jeder, der Zugang zum Internet hat, kann Dokumente hochladen, und zwar ohne Login, ohne Passwort, ohne Identifizierung welcher Art auch immer. Die "Postings" erscheinen auf den meisten Indymedia-Seiten umgehend auf der Startseite im sogenannten "Newswire". Damit ist die Voraussetzung zum Selbermachen von Medien geschaffen. Vom einfachen Text über Fotos und Ton bis hin zum Videoclip kann alles nicht nur produziert, sondern auch einer vernetzten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Was sich im Zeitalter der Blogger und Breitbandanschlüsse fast schon von selbst versteht, die technische Möglichkeit zum Hochladen verschiedener Medien, musste 1999 noch selbst gebaut werden. Die erste Version der Indymedia-Software mit dem schönen Namen "active" wurde ursprünglich für AktivistInnen vor Ort in Sydney entwickelt, dann beim als globalem Aktionstag ausgerufenen "Carnival against Capitalism" am 18. Juni 1999 weltweit und erfolgreich ausprobiert, und schließlich für das erste IMC in Seattle eingesetzt.

Die Betonung des Selbermachens ist charakteristisch für Indymedia und hat im Zusammenhang mit der Erstellung von "Code" noch eine ganz besondere, bereits ausgearbeitete Bedeutung. Alle Indymedia-Webseiten laufen auf "Free Software"[7], das heißt, jede/r kann sich die Programme anschauen, sie benutzen, kopieren und weiterverbreiten und sie entsprechend den eigenen Bedürfnissen verändern. Free Software ist durch eine besondere Lizenz geschützt, die GNU Public Licence. Damit wird sichergestellt, dass der Sourcecode frei einsehbar und damit veränderbar bleibt.

Free Software Programme entstehen aus der weitgehend internetbasierten Zusammenarbeit von unzähligen Einzelpersonen. Die rasante Perfektionierung und Verbreitung des freien Betriebssystems Linux während der letzten 3 Jahre zeigt, wie effizient diese Art des Zusammenarbeitens sein kann. Free Software bedeutet eine radikal offene Einladung zum Mitmachen, eingeschränkt neben dem Zugang zum Internet nur durch die Bereitschaft, sich in das entsprechende Thema einzuarbeiten und gewisse Regeln zu akzeptieren: kein Smalltalk, genaue Angaben machen und "das verdammte Handbuch lesen" (RTFM).

Durch die Offenheit wird gewissermaßen eine kollektive Intelligenz aktiviert, die sich theoretisch über den ganzen Globus erstrecken kann und praktisch zumindest diejenigen geographischen Regionen, in denen Internetzugang möglich ist, und diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die sich denselben beschaffen können, einschließt.

Indymedia hat sich diesen Ansatz weitgehend zu eigen gemacht.[8] Für Matthew Arnison, der an der Entwicklung des "active" Codes für Indymedia beteiligt war, ist Open Publishing nichts anderes als die Fortsetzung der Free Software Produktionsweise: "Open Publishing ist Free Software"[9]. Das Produkt ist eine Öffentlichkeit der globalen Bewegung, entstehend aus vielschichtigen Kollaborationen beim Erstellen von Bild-, Text- und Tonberichten ebenso wie beim Codeschreiben und beim Zusammenbasteln von Hard- und Software für Server und Independent Media Centers vor Ort.

Technisch gesehen kann bei Indymedia alles veröffentlicht werden, politisch sind dieser Offenheit Grenzen gesetzt. In den "Principles of Unity" des Netzwerks heißt es: "All IMCs (...) shall not discriminate, including discrimination based upon race, gender, age, class or sexual orientation". Diskriminierende Beiträge können aus dem Newswire auf der jeweiligen Startseite herausgenommen, "versteckt" werden.

 

Körper und Handeln im virtuellen Raum

Die Indymedia-Webseiten mit ihren Demoberichten aus aller Welt stellen die Oberfläche eines komplexen Kommunikationsnetzwerks dar, dessen digitaler Teil im Frühjahr 2003 aus zwischen 600 und 700 Email-Listen, einem Wiki mit über 600 NutzerInnen auf 2723 Seiten und durchschnittlich 70 IRC Chatrooms bestand. Dazu kommen die unzähligen Begegnungen im Rahmen der Proteste gegen G8, Weltbank oder WHO und den regelmäßigen Treffen der Indymedia-Kollektive vor Ort.

In diesem digitalen Backoffice drücken sich die "kollektiven Ausdrucksgefüge" aus, die Maurizio Lazzarato in den Tagen von Seattle wahrnahm: "Eine Mischung von Körpern (mit ihren Aktionen und Passionen), welche aus individuellen und kollektiven Singularitäten zusammengesetzt ist" und "ein Gefüge sprachlicher Aussagen, eine Ordnung des Ausdrucks, die aus einer Vielfalt von sprachlichen Anordnungen gebildet wird (...)." Für Lazzarato drücken sich diese kollektiven Aussagegefüge "nicht allein durch die Sprache aus, sondern auch durch die technologischen Ausdrucksmaschinen (Internet, Telefon, Fernsehen etc.). Beide Gefüge sind in Hinblick auf die aktuellen Verhältnisse der Macht und des Begehrens konstruiert."[10]

In der Praxis führt die permanente Kommunikation in diesem digitalen Backoffice zu seltsamen Verschiebungen zwischen virtuellem und realem Raum. Beim landesweiten Treffen der britischen Indymedia Centers konnte man zum Beispiel eine Teilnehmerin sagen hören: "Me is not happy about this". Beim Chatten würde der in die Eingabezeile eingetippte Satz:

/me is not happy about this
für alle Chat-TeilnehmerInnen kursiv erscheinen:
xy is not happy about this

Für die ans Chatten gewöhnte Leserin hat dies quasi die Funktion einer Regieanweisung, und kann ähnliche Gefühle hervorrufen wie ein unzufriedenes Gesicht. Im Face-to-Face Kontakt sind solche Regieanweisungen eigentlich unnötig. Dass sie trotzdem verwendet werden, zeigt, wie sehr die Konventionen des virtuellen Raums der Nutzerin buchstäblich "in Fleisch und Blut" übergehen können. Der chattende Körper kann auf häufig verwendete Abkürzungen wie "brb" ("be right back") oder "lol" ("laughing out loud") ganz ähnlich reagieren, wie auf das körpersprachliche Äquivalent - mit Enttäuschung (Warum geht sie jetzt weg?) oder Amüsement.

Ein Feedback, das nach den Protesten gegen den G8 Gipfel in Evian im Jahr 2003 von einer Teilnehmerin an der Indymedia-Berichterstattung per Wiki gepostet wurde, zeigt, wie körperlich diese Aktivität erfahren wurde:

"It was exciting, but at times, it was too much, even though we were more people than ever before. The fastness, the urge to do 10 things at a time, a lack of pre-structuring and priority setting pushed us to the limits - no teargas for the webheads, but exhaustion after days on end at the computer, completely forgetting about basic physical needs. It was matrix. One person stayed online for 36 hours. Direct media. The dynamics of 'being there' spread from the streets to the virtual world."[11]

Während der Berichterstattung über große Mobilisierungen summt das Indymedia Backoffice vor Aktivität, entsprechend sind die IMC-Webseiten dann am lebendigsten, wenn auf den Straßen etwas passiert. Nachrichten über die Vorgänge auf den Straßen werden per SMS, Telefon, Radio- und Videostream, Email und Newswire-Postings übermittelt, innerhalb der Chatrooms überprüft, zusammengefasst und öffentlich gemacht. An dem permanenten Kommunikationsfluss sind diejenigen, die sich auf den Straßen, bei Blockaden oder in AktivistInnendörfern aufhalten, ebenso beteiligt wie diejenigen, die an den Computern sitzen. Das Internet ist bei solchen Anlässen nicht mehr nur ein Kommunikationswerkzeug, sondern verlangt unerbittlich wie ein physikalischer Raum Präsenz.[12]

Das in den 1990er Jahren vielgepriesene Potenzial des Internet zum freien Spiel der Identitäten hat sich in eine Alltagspraxis übersetzt. Viele Indymediamacher und -macherinnen verwenden in Emails, Wikis und Chatrooms Nicknames, aus denen Geschlecht, Alter und Herkunft nicht unbedingt ersichtlich sind. In der intensiven Interaktion lernt man jedoch schnell, wie sich einzelne Nicknames verhalten, wie sie arbeiten und kommunizieren, was von ihnen zu erwarten ist und was nicht. Dazu ist es nicht nötig, nach den oben genannten Identitäten zu fragen - und manchmal ist die Überraschung groß, wenn man sich dann tatsächlich von Angesicht zu Angesicht trifft.

 

Videos - Flugblatt im neuen Gewand?

Aus der permanenten, weltweiten Kommunikation entsteht ein Pool von Berichten in Bild, Text und Ton, aus dem eine Anzahl von Videos hervorgegangen ist. Wie Hito Steyerl am Beispiel der Indymediaproduktion Showdown in Seattle zeigt, zeichnen sich diese Videos nicht durch experimentelle Ästhetik aus. Herkömmliche Stilmittel des Dokumentarfilms werden nicht hinterfragt, politische Positionen werden dargestellt in einer "ästhetischen Form der Verkettung, die die Prinzipien ihrer Organisation unhinterfragt vom Gegner übernimmt"[13]. Hinten heraus, so kritisiert Steyerl, kommt eine nicht näher definierte "voice of the people"[14]. Ein manchmal naiv anmutender Bezug auf "the truth" innerhalb der Indymedia Ideologie lässt sich nicht bestreiten, obwohl sich manche IMCs in ihren Mission-Statements anders darstellen[15]: "While the mainstream media conceal their manifold biases and alignments, we clearly state our position. Indymedia UK does not attempt to take an objective and impartial standpoint: Indymedia UK clearly states its subjectivity". Steyerl zufolge unterscheidet sich auch die Selbstdarstellung des Produktionsprozesses in Showdown in Seattle nicht grundlegend von konventioneller Informationsproduktion in kommerziellen Medien. Hier ist anzumerken, dass zu dem durchaus vergleichbaren Produktionsablauf deutliche Unterschiede hinzukommen.

Physikalische Independent Media Centers kommen durchgängig mit einem Minimalbudget aus, das "Personal" wird nicht bezahlt und organisiert seine Arbeit selbst. In diesem Prozess der Selbstorganisation werden Probleme anders gelöst als bei der Nutzung eines herkömmlichen Newsrooms.[16] Zudem sind die IMCs, wie die brutale Polizeiattacke bei den Protesten in Genova 2001 bisher am deutlichsten gezeigt hat, kein sicheres Arbeitsumfeld. Beides führt dazu, dass die Independent Media Centers mehr sind als ein Produktionsraum. Mindestens ebenso wichtig ist ihre Funktion als "Hub" im Netzwerk des entstehenden Kommunikationsraums, und als Station bei der Aneignung von Technologie, insbesondere von Free Software.

Seit Showdown in Seattle wurden Dutzende von Indymedia-Videos, manchmal respektlos als "riotporn" beschrieben, gemacht, die oft erst Monate nach dem Protest, den sie beschreiben, herauskommen. Dabei werden kollektive Produktionsweisen ausprobiert. Red Zone über den G8-Protest von Genova beispielsweise wurde von VideoaktivistInnen aus Italien, Irland und Großbritannien zusammengestellt. Der Prozess war langwierig und konfliktreich und stieß oft an die Grenzen unbezahlter, freiwilliger, nicht-hierarchischer Zusammenarbeit zwischen Gruppen mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung und unterschiedlichem ästhetischen Anspruch.

Im Hinblick auf die Verschmelzung von digitalem und materiellem Raum sind die Aktivismus-Videos noch aus einem anderen Grund interessant. Schon seit Jahren experimentieren MedienaktivistInnen mit internetbasierten Videostreams in Echtzeit, die meistens nur von wenigen am eigenen Computer gesehen werden und somit stark der digitalen Seite des entstehenden Kommunikationsnetzwerks verhaftet sind. Mit der zunehmenden Verbreitung von Videoaktivismus innerhalb der globalen Bewegung hat sich als zusätzlicher Kommunikationskanal und kulturelle Praxis eine Art dezentralisierte Videodistribution herausgebildet. Während noch Red Zone im Jahr 2002 auf Videokassetten vertrieben wurde, werden Videos heute oft aus dem Internet heruntergeladen und (oft am Arbeitsplatz) auf DVD oder CD-Rom gebrannt. Gleichzeitig erlebt das Kino eine Renaissance: Video-Screenings sind zum integralen Teil des Unterhaltungsprogramms der Bewegung zumindest im Westen geworden, sowohl vor Ort als auch während der großen Mobilisierungen. Besonders dort, wo die Bewegungs-Multitude viele verschiedene Sprachen spricht, haben die bunten Bilder vielleicht eine ähnliche Funktion wie die Flugblätter früherer Jahrzehnte: die Herstellung einer gemeinsamen Basis, vielleicht mehr noch, ein Bezugspunkt für eine gemeinsame Identität. Manchmal werden sie auch zum Protestwerkzeug, wenn etwa, wie 2003 während des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) in Genf geschehen, das Video nächtens auf die Wandfläche öffentlicher Gebäude projiziert wird. In Genf war es die World Information Property Organisation (WIPO), die als Leinwand für einen Film über Intellectual Property Rights herhalten musste.

 

Grenzen des übergreifenden Kommunikationsraums

Heißt das, dass wir schon mittendrin sind in der Science Fiction, technisch vermittelt unmittelbar anwesend überall dort, wohin das Internet reicht?

Natürlich nicht. Die erste Voraussetzung für die Entstehung einer physikalisch und digital vermittelten Öffentlichkeit ist ein soziales Netzwerk aus realen Personen und Gruppen, in dem gewisse politische Grundüberzeugungen selbstverständlich, bestimmte Themen bekannt sind, ein bestimmtes Maß an Vertrauen besteht. Dazu kommt die Vielfalt der genutzten Kommunikationskanäle. Das im virtuellen Raum permanent zugängliche soziale Netzwerk berührt immer wieder auch den materiellen Alltagsraum. Man trifft sich im Netz und dann auch zu Hause und umgekehrt. Reisepläne werden oft via Mailinglists angekündigt in der Hoffnung, Bekannte zu treffen. Einzelne kennen sich von früheren Anlässen, bei denen man gemeinsam Kabel gesteckt hat.

Technisches Wissen, Hardware und Software sind wichtig, aber sie reichen nicht aus, um diesen Raum zu schaffen. Schon bei der Beschaffung der technischen Ausstattung hilft es, vernetzt zu sein. Viele IMC-Kollektive multiplizieren ihre Kameras, Minidiscs und Laptops durch kollektive Nutzung.[17] Man unterstützt sich bei der Aufrüstung von alten Computern mit passender Software, zusätzlichem Memory, Harddrives und Ähnlichem.

Obwohl der Kommunikationsraum durch Dezentralisierung der Server, Verschlüsselung und die Nutzung vertrauenswürdiger Internet Service Provider bis zu einem gewissen Grad geschützt werden kann, ist Informationstechnik nicht außerhalb des hegemonialen Systems angesiedelt. Wie die Beschlagnahmung von zwei in Großbritannien betriebenen Indymedia Servern kurz vor Beginn des Europäischen Sozialforums in London 2004 zeigt, kann Teilen des Kommunikationsraums ganz schnell der Saft abgedreht werden.[18] Bis heute ist die rechtliche Grundlage dafür unklar. Indymedia-Aktivist Micah spekulierte kurz nach der Beschlagnahmung: "So this is about Swiss police, on a French site, on a server in England, taken away by American federal police…"[19]

Als Ergebnis fieberhafter Aktivität im Backoffice wurde umgehend eine Pressegruppe ins Leben gerufen, und die meisten der betroffenen 20 IMC-Webseiten konnten schnell zumindest teilweise wiederhergestellt werden.

Die Kommunikation selbst ist im Backoffice von Indymedia weitgehend auf Projektorientiertes und Pragmatisches beschränkt. Politische Diskussionen werden dann interessant, wenn sie sich auf konkreten Entscheidungsbedarf beziehen. Die Interpretation der Selbstverpflichtung gegen jegliche Diskriminierung etwa wird von jedem Indymedia-Kollektiv vor Ort ständig neu verhandelt. Bei IMC UK finden solche Diskussionen regelmäßig statt, wenn entschieden werden muss, welche Artikel vom "open publishing newswire" entfernt und als "versteckt" markiert werden sollen. Wo ist die Grenze zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus? Wann hat ein Witz die Grenze zum Sexismus überschritten? Was wird als "non-news" versteckt, was wird toleriert?

Grenzen des Kommunikationsraums entstehen auch gerade durch die Offenheit, die ihn überhaupt erst ermöglicht. Jede Email-Liste wird chronologisch archiviert, jede Email, jede Seite auf dem Wiki liegt auf der gleichen "Wichtigkeitsebene". Es gibt keinen zentralen Ort, an dem verbindliche Dokumente zuverlässig archiviert sind. Das zentrale Problem der Bewegung im eigenartigen Raum des Internet ist das der Orientierung[20], am ehesten möglich durch das Wissen, das durch Mitmachen entsteht. Manche Texte heben sich aus der Masse des Materials dadurch heraus, dass vielfach zu ihnen gelinkt wird. Trotzdem ist das Ganze so unübersichtlich, dass etwa ein Forschungsteam bei einer ausführlichen Untersuchung von fünf IMC-Fallstudien schlicht 2 Städte miteinander verwechseln konnte[21].

 

Vorläufiges Fazit

Besonders an den Independent Media Centers ist ihre Funktion für den Kommunikationsraum der globalen Bewegungen. Am lebendigsten sind die IMC-Webseiten dann, wenn auf der Straße etwas passiert, doch die oft minutengenauen Berichte von großen Protesten verlieren schnell ihre Aktualität. Auch die Verschmelzung von virtuellem und physikalischem Raum und den dazugehörigen kulturellen Praktiken ist dann am intensivsten. Vielleicht ist dies der innovativste Beitrag von Indymedia zu einer weltweiten Öffentlichkeitsalternative: "Kanäle zu weben, damit die Worte auf allen Straßen des Widerstands reisen mögen".

Kanäle, die aus Software bestehen und aus der kompetenten Nutzung alter und billiger Hardware, aus Bandbreite und gespendeten Servern, aus regelmäßig gewarteten Webpages. Aus der Kombination von Protest, einer Ideologie der Offenheit und Free Software entsteht ein öffentlicher Raum, der sich weder auf Internethype noch auf das unbedingte Primat der Straße festlegen lässt und in dem das Ereignis nicht mehr von seiner Repräsentation zu trennen ist: "Die Zeichen, Bilder und Aussagen spielen eine strategische Rolle in diesem doppelten Werden: Sie tragen dazu bei, das Mögliche entstehen zu lassen, und sie tragen zu seiner Verwirklichung bei".[22]

Möglich wird dies durch die zupackende Selbstverständlichkeit, mit der MedienaktivistInnen, SoftwareprogrammiererInnen, Demonstrierende sich neue Technologien zu eigen machen, als Teil ihrer materiellen Alltagsumgebung ebenso wie als Mittel der Kommunikation über den halben Globus hinweg, ohne sich groß um die meist implizierte Trennung zwischen "virtuell" und "real" zu kümmern.[23] Diese Allgegenwärtigkeit, in der lokale Ereignisse und Aktivitäten zu globalen Themen werden, korrespondiert mit einer Behauptung von Antonio Negri und Michael Hardt, die Gerald Raunig herausstellt: "Überall könne das Empire angegriffen werden, an jeder beliebigen Stelle. Das ist eine der stärkeren Ansagen in Empire: dass es keine horizontale Verkettung der Kämpfe geben müsse, um das Empire anzugreifen. Im Gegenteil: Wenn die Mechanismen der Macht ohne Zentrum und ohne zentrale Steuerung funktionieren, müsste es auch möglich sein, sie von jedem Ort aus, aus jedem lokalen Kontext anzugreifen".[24]



[1] Zitiert in: Ruggiero, Greg. Microradio and Democracy: (Low) Power to the People. New York: Seven Stories Press, 1999, S. 43. (Übersetzung d.A.)

[3] Vgl. in Katharine Viner: "Hand-to-brand-combat" in: The Guardian, 23.9.2000.

[4] Autonome a.f.r.i.k.a gruppe: Stolpersteine auf der Datenautobahn. Politischer Aktivismus im Internet. Vorabdruck in: ak Nr. 490 / 17.12.2004.

[5] Vlg. Chris Shumway: Participatory Media Networks: A New Model for Producing and Disseminating Progressive News and Information, 2001. Online: http://chris.shumway.tripod.com/pmn.htm

[7] Definition von Free Software, vgl. online: http://www.gnu.org/philosophy/free-sw.de.html

[8] Mehr zu den Verbindungen zwischen Indymedia und der Free Software Bewegung bei Biella Coleman: Indymedia's Independence: From Activist Media to Free Software. Online: http://journal.planetwork.net/article.php?lab=coleman0704&page=1

[9] Matthew Arnison: Open Publishing is Free Software. Composed March 2001. Online: http://www.cat.org.au/maffew/cat/openpub.html

[10] Maurizio Lazzarato: Kampf, Ereignis, Medien. In: Gerald Raunig (Hg.): Bildräume und Raumbilder. Repräsentationskritik in Film und Aktivismus, Wien 2004, S. 175-184, hier S. 176.

[12] Vgl. Marion Hamm: ar/ctivism in physikalischen und virtuellen Räumen, In: Gerald Raunig (Hg.): Bildräume und Raumbilder. Repräsentationskritik in Film und Aktivismus, Wien 2004, S. 34-44.

[13] Hito Steyerl: Die Artikulation des Protestes. In: Gerald Raunig (Hg.): TRANSVERSAL. Kunst und Globalisierungskritik, Wien 2003, S. 19-28, hier S. 23.  http://www.eipcp.net/transversal/0303/steyerl/de

[14] Steyerl übersetzt "the voice of the people" als "Stimme des Volkes". In dieser Redewendung klingt jedoch auch die "Stimme der einfachen oder normalen Leute" an.

[15] Vgl. dazu Sara Platon, Mark Deuze: Indymedia journalism. A radical way of making, selecting and sharing news? In: Journalism 4 (2003), S. 336-355, hier S. 345.

[16] Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen der Produktion von Information bei Indymedia und im herkömmlichen Journalismus wurden von Platon und Deuze ausführlich dargestellt, vgl. ebd., S. 350.

[17] Vgl. From Indymedia UK to the United Kollektives, In: Media Development 4 (2003), S. 27f. Online: http://www.indymedia.org.uk/en/2004/12/302894.html

[18] Vgl. Ahimsa Gone and Returned: Responses to the Seizure of Indymedia Harddrives, 09.11.04. Online: http://www.indymedia.org.uk/en/2004/11/300886.html

[20] Vgl. zur Orientierung im Internet: Stolpersteine auf der Datenautobahn, a.a.O.

[21] Jankowski und Jansen betrachten IMC Oxford und IMC UK als getrennte Webseiten, obwohl beide dieselbe Datenbank nutzen, und datieren die Eröffnung der Webseite von IMC Oxford einige Monate nach der Eröffnung von IMC UK. Da IMC Oxford erst im Juni 2003 nach der Migration der gesamten IMC UK Webseite zu einer neueren Software online ging, ist zu vermuten, dass es sich um eine Verwechslung mit Indymedia Bristol handelt, das tatsächlich schon im September 2001 separat von IMC UK gegründet wurde. Vgl. Nicholas W. Jankowski, Marieke Jansen: Indymedia: Exploration of an Alternative Internet-based Source of Movement News. Konferenzpapier, 2003.

[22] Vgl. Maurizio Lazzarato: Kampf, Ereignis, Medien, a.a.O., S. 175

[23] Vgl. Marion Hamm, Michael Zaiser: com.une.farce und indymedia.uk - zwei Modi oppositioneller Netznutzung. In: Argument 238, S. 755-764.

[24] Vgl. Gerald Raunig: Here, There AND Anywhere. Online: http://www.eipcp.net/transversal/0303/raunig2/de