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06 2004

"Wir fühlen unsere Freiheit"

Einbildungskraft und Urteil im Denken Hannah Arendts

Linda M. G. Zerilli

"Es hat […] im Zeitalter der Moderne keine 'Ästhetisierung' der Politik gegeben, denn diese ist ihrem Prinzip nach ästhetisch."
Jacques Rancière[1]

In ihren Vorlesungen Über Kants Politische Philosophie hält Arendt beharrlich daran fest, dass Kants Darstellung einer reflektierenden und ästhetischen Urteilskraft in der dritten Kritik ein Modell für politisches Urteilen bereitstelle: Ein solches Urteilen beruft sich auf Universalität, vermeidet aber Wahrheitskriterien und die Subsumption unter Regeln, die kognitive und logische Urteile charakterisieren. "Wenn Sie sagen: 'Was für eine schöne Rose', so kommen Sie zu diesem Urteil nicht, indem Sie zunächst einmal sagen: 'Alle Rosen sind schön, diese Blume ist eine Rose, deshalb ist diese Rose schön'"[2], schreibt Arendt. Was uns in einem reflektierenden Urteil gegenübertritt, ist demnach nicht die allgemeine Kategorie "Rose", sondern die besondere, diese Rose. Dass diese Rose schön ist, ist nicht in der universellen Natur von Rosen gegeben. Die Behauptung der Schönheit gehört der Struktur des Empfindens an, nicht jener der Begriffe. Schönheit ist keine Eigenschaft der Blume selbst, schreibt Kant[3], sondern nur ein Ausdruck des Wohlgefallens, das vom urteilenden Subjekt im reflektierenden Modus ihrer Apprehension empfunden wird.

Arendts Beharren darauf, dass politische Urteile keine Wahrheitsbehauptungen sein können, hat ihre ansonsten wohlgesinnten LeserInnen verblüfft. Am berühmtesten unter ihnen ist Jürgen Habermas, der meint, dass Arendts Weigerung, eine "kognitive Grundlage" für Politik und öffentliche Debatte bereitzustellen, "zwischen Erkenntnis und Meinung einen Abgrund klaffen" lässt, "der mit Argumenten nicht geschlossen werden kann."[4]

Bevor wir eine solche Kritik unterschreiben, sollten wir fragen, warum Arendt eine Betrachtung der Urteilskraft für nötig erachtete. Ronald Beiner, dem Herausgeber der Kant-Vorlesungen, zufolge war Arendts Anliegen dieses: "Wie kann die Freiheit bejaht werden?" Arendt habe in der Urteilskraft etwas gesehen, das uns "ein Gefühl des Wohlgefallens an der Zufälligkeit des Besonderen zu empfinden"[5] erlaubt. Nach einer scharfsinnigen Identifikation der Bedeutung des Affekts sowie des zentralen Problems der Freiheit in Arendts Arbeit über das Urteil billigt Beiner im Weiteren – aus meiner Sicht ziemlich unerklärlicherweise – die Kritik von Habermas, die das Thema der Freiheit verkennt und das Problem des Urteils strikt als eines der Feststellung intersubjektiver Geltung entwirft. Seyla Benhabib macht sich diese entscheidende interpretative Geste zu Eigen, wenn sie, gleichermaßen mit dem Versuch beschäftigt, Arendts Hinwendung zur dritten Kritik zu verstehen, schreibt: "Was Arendt in Kants Doktrin des ästhetischen Urteils gesehen hat, war […] eine Prozedur zur Feststellung intersubjektiver Übereinstimmung im öffentlichen Bereich."[6] Diese "Prozedur" ist der Prozess, imaginativ von Standpunkten aus zu denken, die nicht die eigenen sind, und das auszubilden, was Kant als "erweiterte Denkungsart" bezeichnet hat. Kaum ist dieser interpretative Schachzug vollzogen, hält auch Benhabib die Hinwendung zu Kant für nicht nur merkwürdig, sondern zutiefst unangebracht.

Und vielleicht ist sie das. Wenn das primäre Anliegen in der Feststellung intersubjektiver Geltung im Reich des Politischen besteht, warum sollte man sich dann nicht einer empirischen und praktischen Form der Rationalität wie dem aristotelischen Begriff der phronesis zuwenden? Warum sich an einen philosophischen Text wenden, der im besten Fall eine hochgradig formalisierte Betrachtung der Geltung anbietet, die zwar das Einverständnis der anderen postuliert, aber keinen Bedarf an deren effektiver Übereinstimmung hat? Schlimmer noch, warum eine Form der Geltung billigen, die nicht objektiv, sondern subjektiv ist, weil sie auf nichts als das dem Subjekt eigene Gefühl des Wohlgefallens verweist und die Zustimmung aller bloß antizipiert? Bevor wir entscheiden, wer "Recht" hat, Arendt oder ihre KritikerInnen, sollten wir zuerst zu verstehen versuchen, was diese Urteilskraft ist und warum sie für demokratische Politik relevant sein könnte.

Im weitesten Sinne des Begriffs ist die Urteilskraft das Vermögen, das uns unserer Erfahrung Ordnung und Sinn zu geben erlaubt. Ob es sich um die Besonderheit von Gegenständen handelt, die um des Erkennens willen in ein Verhältnis zu Begriffen gesetzt werden muss, oder um die Besonderheit von Ereignissen, die im Hinblick auf das politische Leben zu Narrativen organisiert werden muss, das Urteilen verleiht der menschlichen Erfahrung Kohärenz und Bedeutung. Ob das, was ich da drüben sehe, ein "Baum", ob was ich im Radio höre, ein Kommentar zur "letzten Hungersnot in Afrika", oder ob was ich in der Zeitung lese, ein Editorial über den "Geschlechterkampf" ist, ich bin darin zugleich in die Praxis des Urteilens verwickelt und Zeuge bzw. Zeugin dieser Praxis. Das Problem ist, dass entsprechend der Logik des (Wieder‑)Erkennens, die im "bestimmenden Urteil" am Werk ist und die Besonderheiten unter Regeln subsumiert, schwer zu verstehen ist, wie es einen neuen Gegenstand oder ein neues Ereignis geben könnte, etwas, das nicht als Fortsetzung einer vorangehenden Reihe oder in Begriffen des bereits Bekannten erklärt werden kann. Was Arendt jedoch als "Problem des Neuen" bezeichnet, ist mehr als die erkenntnistheoretische Frage, wie wir Erkenntnis von Besonderheiten haben können. Das Problem des Neuen ist eine politische Frage, die Frage nämlich, wie wir als Mitglieder demokratischer Gemeinschaften in einer Welt von Gegenständen und Ereignissen, deren Ursachen und Wirkungen wir weder kontrollieren noch mit Gewissheit vorhersagen können, menschliche Freiheit als eine politische Realität affirmieren können. Arendt hält die Schwierigkeit fest, die wir in dieser Affirmation haben: "Wann immer wir mit etwas schreckerregend Neuem konfrontiert sind, ist unser erster Impuls, es in einer blinden und unkontrollierten Reaktion zu erkennen, die stark genug ist, um ein neues Wort zu prägen; unser zweiter Impuls scheint darin zu bestehen, dass wir die Kontrolle wiedergewinnen, indem wir leugnen, überhaupt etwas Neues gesehen zu haben, indem wir so tun, als wäre uns etwas Ähnliches schon bekannt; erst ein dritter Impuls kann uns zu dem zurückführen, was wir am Anfang sahen und wussten. Eben hier beginnt wahres [politisches] Verstehen."[7] Was im politischen Urteil auf dem Spiel steht, ist der Versuch, in einer aus Verhältnissen und Ereignissen, die wir uns nicht ausgesucht haben, bestehenden Welt zuhause zu sein, ohne den diversen Formen des Fatalismus oder Determinismus zu erliegen, deren Kehrseite die Idee der Freiheit als Souveränität ist.

Arendt meint, dass gerade all das, was keinen Gegenstand der Erkenntnis bildet, eine Gelegenheit für die Entwicklung der kritischen Aspekte der Urteilskraft selbst darstellt. Eben dort, wo das bestimmende Urteilen überfordert ist oder versagt, beginnt das wahre Urteilen. In Fällen, in denen kein Begriff gegeben ist, ist die Harmonie der Vermögen, die in einem Urteil vorliegt, nicht länger der Gesetzgebung des Verstandes (d. h. dem Vermögen der Begriffe) unterworfen, sondern diese gelangen zu einem freien Übereinkommen. In einem "freien Spiel der Vermögen" ist die Einbildungskraft nicht länger an die Logik des Erkennens gebunden, die die Wiedergabe oder Reproduktion abwesender Objekte in Übereinstimmung mit der begriffsgeleiteten linearen Zeitlichkeit des Verstandes erfordert. Einbildungskraft, wenn sie in ihrer Freiheit betrachtet wird – nichts zwingt uns dazu, sie so zu betrachten –, ist produktiv und spontan, sie re‑produziert nicht bloß das schon Gewusste, sondern generiert neue Formen und Figuren.

Indem ich die produktive Rolle der Einbildungskraft im Urteilsvermögen in den Vordergrund stelle, greife ich Arendts unvollendetes Projekt der Entwicklung einer Theorie des politischen Urteils auf und weiche zugleich von ihm ab. Trotz ihres starken Vertrauens in Kants dritte Kritik betrachtete sie die Einbildungskraft nie wirklich in ihrer Freiheit, denn sie hielt sie nie für mehr als reproduktiv. Arendts eingeschränkter Blick auf die Einbildungskraft ist umso merkwürdiger, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die reproduktive Einbildungskraft an das Vermögen des Verstandes und damit an Begriffe in einer Weise gebunden ist, die mit ihrer eigenen energischen Zurückweisung der Erkenntnis als Aufgabe des politischen Urteils schwerlich in Einklang zu bringen ist. Eine solche Vernachlässigung des freien Spiels der Einbildungskraft ist einer der Gründe, warum Arendts Reflexionen über das Urteilen geeignet waren, von Denkern wie Habermas, für die sich die Geltung als die einzige unbeantwortete Frage abzeichnet, die Arendts gesamte Darstellung inkohärent werden zu lassen droht, sowohl angeeignet wie auch kritisiert zu werden. Arendt hat eine Antwort auf die Frage der Geltung, die ihre KritikerInnen beschäftigt, allerdings mit einem wichtigen Vorbehalt: Im Unterschied zu diesen hält sie nicht die Geltung an sich für das zentrale Problem oder die zentrale Aufgabe des politischen Urteils – sondern die Bejahung der menschlichen Freiheit.

In jenen Teilen dieses Essays, die ich hier aus Platzgründen nicht präsentieren kann, zeige ich, dass Arendt jene Geltung, die demokratischer Politik angemessen ist, als abseits von Pluralität undenkbar neu entwirft. Für ihre KritikerInnen ist Geltung an die Unparteilichkeit gebunden, die durch die Abtrennung partikularer von allgemeinen Interessen erreicht wird – was aber bleibt, ist nichtsdestoweniger eine Form des Interesses, nur dass dieses Interesse nun für vernünftig und universell in einem nicht-transzendentalen Sinn genommen wird. Was Arendt unter Unparteilichkeit versteht, ist etwas anderes; es ist dem verwandt, was Kant meint, wenn er sagt, dass Begriffe keinerlei Rolle in einem ästhetischen Urteil spielen können, weil sie ein Interesse einführen, das heißt jenes Wohlgefallen oder Mögen, das wir an die Fähigkeit eines Gegenstands, einem Zweck zu dienen, knüpfen. Begriffe müssen ausgeschlossen werden, weil sie Urteile in eine Ökonomie des Gebrauchs und den Kausalnexus verwickeln.

Da nach Arendt kein Begriff die Bildung eines Urteils bestimmt, kann diese Bildung nicht – nicht an erster Stelle – mit dem Verhältnis des Subjekts zum Objekt verbunden sein, durch welches kognitive Urteile definiert sind. Vielmehr ist das Verhältnis zum Objekt durch das Verhältnis des Subjekts zu den Standpunkten anderer Subjekte vermittelt, oder genauer: durch die Berücksichtigung der Gesichtspunkte anderer hinsichtlich desselben Objekts. Arendt beschreibt dies als "repräsentatives Denken":
"Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie so mit repräsentiere. Dieser Vergegenwärtigungsprozess akzeptiert nicht blind bestimmte, mir bekannte, von anderen vertretene Ansichten. Es handelt sich hier weder um Einfühlung noch darum, mit Hilfe der Vorstellungskraft irgendeine Majorität zu ermitteln und sich ihr dann anzuschließen. Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden [being and thinking in my own identity where actually I am not*]."[8]

Die Einbildungskraft vermittelt: Sie bewegt sich weder über den Perspektiven, so als wären diese im Namen reiner Objektivität zu transzendieren, noch auf derselben Ebene wie diese Perspektiven, so als wären sie Identitäten, die unserer Anerkennung bedürften. Vielmehr ermöglicht es die Einbildungskraft, "in meiner eigenen Identität zu sein und zu denken, wo ich das eigentlich nicht bin".

Betrachten wir, um diese merkwürdige Formulierung einer erweiterten Denkungsart auszufalten, die spezielle Kunst, auf der sie basiert, nämlich "dass man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen" (DU 61), wie Arendt es nennt. Iris Marion Young hat in ihrem Kommentar zu dieser Kunst des imaginativen Einnehmens der Standpunkte anderer argumentiert, dass diese von einer Reversibilität hinsichtlich sozialer Positionen ausgeht, die strukturierte Machtverhältnisse und letztlich Differenz leugnet. "DialogteilnehmerInnen sind imstande, den Perspektiven anderer Rechnung zu tragen, weil sie gehört haben, wie diese Perspektiven ausgedrückt werden", schreibt Young, nicht weil "die urteilende Person imaginiert, wie die Welt aus anderen Perspektiven aussieht"[9]. Desgleichen bestehen Lisa Disch und Ronald Beiner darauf, das sich erweitertes Denken auf einen wirklichen Dialog gründen muss, und nicht auf einen imaginativen Dialog. Wir könnten dieser Kritik eingeschränkt Recht geben und sagen, dass die Einbildung kein Substitut dafür ist, andere Perspektiven zu hören, aber nichtsdestotrotz notwendig, weil wir, empirisch gesprochen, unmöglich alle relevanten Perspektiven hören können. Dies zu tun würde allerdings bedeuten, die Vorstellung von Einbildungskraft zu akzeptieren, die eine solche Kritik impliziert, dass dieses Vermögen nämlich im besten Fall einen Ersatz für reale Gegenstände bildet – einschließlich der effektiven Meinungen anderer Menschen –, und im schlechtesten Fall eine Verzerrung dieser Objekte gemäß den Interessen des Subjekts, das die Einbildung ausübt.

Im Gegensatz zur Betonung des wirklichen Dialogs, der auf gegenseitiges Verständnis in einer "Diskursethik" orientiert ist, beruft sich Arendt auf die Einbildungskraft, um auf eine dritte Perspektive hinweisen zu können, aus der man von anderen Standpunkten aus zu sehen versucht, aber in einer Distanz. Arendt tut die Bedeutung des wirklichen Dialogs keineswegs mehr ab, als Kant dies tat, aber sie betont – wiederum wie Kant – die einzigartige Position des Außerhalb, von dem aus wir Gegenstände und Ereignisse beurteilen, und zwar außerhalb der Ökonomie des Gebrauchs und des Kausalnexus beurteilen. "Being and thinking in my own identity where actually I am not", ist jene Position, die nicht dann erlangt wird, wenn ich, indem ich eine andere Person verstehe, mein privates zugunsten des allgemeinen Interesses aufgebe, sondern wenn ich die Welt aus vielfachen Standpunkten (nicht Identitätspositionen) betrachte, in Bezug auf welche ich immer etwas von einem/r AußenseiterIn – und ebenso etwas von einem/r AußenseiterIn mir selbst als handelndem Wesen gegenüber – haben werde. Das ist die Position des Zuschauers, die Arendt in ihren Kant-Vorlesungen beschreibt. Der Zuschauer ist jemand, der – durch den Gebrauch der Einbildungskraft – das Ganze in einer uninteressierten Weise reflektieren kann, das heißt in einer Weise, die nicht einfach frei von privatem Interesse, sondern frei von Interesse überhaupt ist, mithin von jedem beliebigen Maßstab der Nützlichkeit. Wäre die Einbildungskraft indes bloß reproduktiv und begriffsgeleitet (wie Arendt selbst anzunehmen scheint oder was sie zumindest niemals in Frage stellt), so wäre es eventuell möglich, zur Unparteilichkeit des allgemeinen Interesses zu gelangen. Aber wäre man in jener Schwebelage, aus der man Objekte und Ereignisse außerhalb der Ökonomie des Gebrauchs und des Kausalnexus – in ihrer Freiheit – zu verstehen bereit ist?

Aus einer solchen schwebenden Bereitschaft konnte Kant Enthusiasmus über das welthistorische Ereignis der Französischen Revolution zum Ausdruck bringen, wenn er sie auch, so Kant, vom Standpunkt eines moralischen handelnden Wesens zu verdammen gehabt hätte. Vom Standpunkt des Zuschauers aus jedoch inspirierte die Revolution in ihm ein Gefühl der "Hoffnung", wie Arendt schreibt, indem sie "neue Horizonte für die Zukunft" (DU 77) eröffnete. Sie zeigte an, was nicht erkannt werden kann, sondern zum Vorschein gebracht werden muss: menschliche Freiheit.

Durch das Freiheit bejahende Urteil des Zuschauers "wird einem nicht gesagt, wie zu handeln ist" (DU 61), schreibt Arendt über Kants Enthusiasmus. Nur wo die Einbildungskraft nicht durch einen (vom Verstand gegebenen) Begriff oder das (von der Vernunft gegebene) moralische Gesetz eingeschränkt ist, kann ein solches Urteil zustande kommen. Im freien Spiel steht die Einbildungskraft nicht länger im Dienst der Anwendung von Begriffen. Über Gegenstände und Ereignisse in ihrer Freiheit zu urteilen erweitert unseren Gemeinschaftssinn, nicht weil es uns sagt, was gerechtfertigt ist oder was wir tun sollen, sondern weil es unseren Sinn dafür verändert, was wirklich und kommunizierbar ist.

Urteilen ist eine Art und Weise, Gemeinschaft und ihre Grenzen zu konstruieren und zu entdecken, aber das heißt nicht, dass es sich in einen konkreten Entwurf politischen Handelns übersetzen lassen würde oder in einen solchen übersetzt werden sollte. Im Gegensatz zu dem, was KritikerInnen behaupten, kehrt Arendt der vita activa keineswegs den Rücken zu, und sie leugnet auch keineswegs die Bedeutung des Urteilens für die Politik. Sie weigert sich vielmehr, diese Aktivität in Begriffen der Produktion einer normativen Basis für politisches Handeln zu definieren. ZuschauerInnen produzieren keine Urteile, die dann als Prinzipien für das Handeln oder für andere Urteile dienen könnten; sie schaffen einen Raum, in dem die Gegenstände des politischen Urteilens, die Handelnden und Handlungen selbst, erscheinen können und verändern damit unseren Sinn dafür, was in die gemeinsame Welt gehört.

Wenn die Welt der Raum ist, in dem Dinge öffentlich werden, dann ist Urteilen eine Praxis, die verändert, was wir zu dieser Art von Dingen zählen werden. "[…] das Urteil des Zuschauers schafft den Raum, ohne den solche Gegenstände überhaupt nicht erscheinen könnten. Der öffentliche Bereich wird durch die Kritiker und Zuschauer konstituiert, nicht durch die Akteure oder die schöpferisch Tätigen. Und dieser Kritiker und Zuschauer befindet sich in jedem Akteur" (DU 85); der "Zuschauer" ist nicht eine andere Person, sondern einfach ein anderer Modus, sich zur gemeinsamen Welt zu verhalten oder in ihr zu sein. Das ist eine kopernikanische Wende im Verhältnis der Handlung zum Urteil: Ohne die urteilenden Zuschauer und die Artefakte des Urteils würde das Handeln verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen – es wäre keine Welt errichtende Tätigkeit. Arendt schreibt diese Wende Kant zu, aber es ist Arendt selbst, die in ihrer eigenwilligen Lektüre Kants behauptet, dass es die Urteilstätigkeit der ZuschauerInnen ist, die den öffentlichen Raum erzeugt, und zwar als Raum der Freiheit erzeugt.

Im Gegensatz zu Arendt deutet Kant an, dass die Transformation des öffentlichen Raums nicht nur das Urteil der ZuschauerInnen impliziert, sondern die kreative Tätigkeit des/der KünstlerIn und die bildende Kraft der produktiven Einbildungskraft, die Fähigkeit, Gegenstände in neuen, unvertrauten Weisen zu präsentieren – also das, was er "Genie" nennt. In seiner Diskussion der "ästhetischen Ideen" beschreibt Kant die Einbildungskraft als "sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt" (KdU §49, 414 [B 193]). In der Tat, "wir bilden [die Erfahrung] auch wohl um", fügt Kant hinzu, "wobei wir unsere Freiheit vom Gesetz der Assoziation (welches dem empirischen [d. h. reproduktiven] Gebrauche jenes Vermögens anhängt) fühlen" (ebd. 414 [B 194]; Hervorhebung hinzugefügt). Dieses Vorstellungsvermögen der Einbildungskraft "[veranlasst] viel zu denken, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann" (ebd. 413 f. [B 193]). Die Einbildungskraft, die in der Darstellung ästhetischer Ideen am Werk ist, schreibt Kant, "[erweitert] den Begriff selbst auf unbegrenzte Art" (ebd. 415 [B 194]). Wenn Begriffe weniger ausgeschlossen sind als vielmehr auf eine unbestimmte Art erweitert werden, so hat dies Konsequenzen hinsichtlich der Art und Weise, wie wir über unsere eigene politische oder ästhetische Aktivität nachdenken.

Diese Begriffe verändernde Tätigkeit der Einbildungskraft ist nicht auf das Genie beschränkt. Die Einbildungskraft befindet sich "in freiem Spiel" auch, wenn wir über Reflexivität urteilen, nicht nur wenn wir neue Gegenstände des Urteils erschaffen. Betrachten wir einen Text wie die Declaration of Sentiments, verfasst von Elizabeth Cady Stanton und gezeichnet von einer Menge von anderen VerfechterInnen von Frauenrechten im Jahr 1848 in Seneca Falls. Dieser Text streicht das Urteil heraus, dass Männer und Frauen gleich erschaffen sind und daher Anspruch auf gleiche politische Rechte haben. In den öffentlichen Raum hineingestellt, ist ein solches Dokument ein imaginativer "Gegenstand", der die Einbildungskraft von urteilenden ZuschauerInnen stimuliert und ihren Sinn für das Kommunizierbare erweitert, dafür, was sie als Teil der gemeinsamen Welt betrachten werden. Wie ein Kunstwerk irritiert ein solches Dokument potenziell Vertrautheiten: Indem es mit dem arbeitet, was kommunizierbar ist (z. B. der in der Declaration of Indepedence herausgestellten Idee, dass alle Männer/Menschen [men] gleich erschaffen sind), erweitert es unseren Sinn dafür, was wir kommunizieren können. Die Zustimmung aller postulierend ("wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich"), (re)präsentiert die Declaration of Sentiments kreativ den Begriff der Gleichheit, in einer Weise, die – um ein weiteres Mal Kant über die produktive Einbildungskraft zu zitieren – "das Gemüt [belebt], indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet" (KdU 415 f. [B 195]), was durch jede logische Präsentation des Begriffs der Gleichheit ausgeschlossen ist.

Wir verfehlen diese schöpferische Erweiterung des Begriffs, wann immer wir über die logische Erweiterung von so etwas wie Gleichheit oder Rechten sprechen. Der ursprüngliche Begriff von politischer Gleichheit ist letztlich ein bestimmter Begriff, der historisch in Bezug auf weiße, mit Eigentum ausgestattete, männliche Bürger konstituiert wurde. Die Declaration of Sentiments wandte diesen Begriff nicht einfach wie eine Regel auf einen neuen besonderen Fall (Frauen) an. Vielmehr stellte sie die Idee der Gleichheit in hohem Maße wie eine ästhetische Idee dar: "eine Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter […] Begriff adäquat sein kann", um noch einmal Kant zu zitieren. Was eine solche Vorstellung also "zu denken veranlasst", überschreitet immer das Bestimmungsfeld des Begriffs, es "[erweitert] den Begriff selbst auf unbegrenzte Art". Diese Erweiterung ist nicht logisch, sondern imaginativ: Wir kreieren neue Beziehungen zwischen Dingen, die keine haben (z. B. zwischen dem Begriff der Gleichheit und den Geschlechterverhältnissen oder zwischen den Rechten des Mannes/Menschen und der geschlechtlichen Arbeitsteilung). Jede Ausdehnung eines politischen Begriffs impliziert stets eine imaginative Öffnung der Welt, die uns Beziehungen zwischen Dingen zu sehen und zu artikulieren erlaubt, welche (in irgendeinem notwendigen, logischen Sinn) keine haben, und die uns Beziehungen zu kreieren erlaubt, die deren Bestimmungsfeldern äußerlich sind. Politische Verhältnisse sind ihren Bestimmungsfeldern immer äußerlich: Sie sind nicht so sehr mit der Fähigkeit verbunden, Besonderes unter Begriffe zu subsumieren, als mit der Fähigkeit, neue Verkettungen zu sehen oder zu schmieden.

Die Einbildungskraft, in ihrer Freiheit betrachtet, eröffnet eine Frage der Gemeinschaft, die nicht durch eine auf den Austausch von Beweisen konzentrierte Praxis der Politik beigelegt werden kann. Wenn sie einen durch Beweise gewonnenen Konsens zurückweist, so ist Arendts Punkt nicht, dass politische Urteile alle kognitiven Ansprüche vermeiden müssten. Er besteht vielmehr darin, uns daran zu erinnern, dass unser Verhältnis zu anderen und zur Welt sich auf etwas anderes als Erkenntnis gründet. "Das Wissen gründet sich auf der Anerkennung", beobachtet Wittgenstein, das heißt auf einem Modus des Etwas-als-etwas-Betrachtens, was die Bedingung von Erkenntnis bildet, aber auch auf einem Modus, etwas in Beziehung zu dem, was man weiß, zu tun. Beispielsweise zu sagen, dass ein politisches Thema wie die Homosexuellen-Ehe nach unserem Urteil ruft, bedeutet keine Absage an kognitive Fragen. Es bedeutet vielmehr, dass ein kognitives Urteil über die Existenz einer Sache (d. h. ihre Funktion oder Eignung dazu, einen Zweck zu erfüllen) nicht das ist, was wir zu treffen aufgerufen sind – nicht mehr als ein Botaniker, wie Kant sagt, dazu aufgerufen ist, die Blüte als ein reproduktives Organ einer Pflanze zu erläutern, wenn er die Blüte für schön erklärt. Man kann solche Dinge wohl über Pflanzen wissen, ebenso wie man wohl bestimmte Dinge über nicht-heterosexuelle Praktiken wissen kann. Ästhetisch oder politisch zu urteilen verlangt jedoch, dass wir das, was wir wissen, anders betrachten: die Blüte ganz abseits ihrer Verwendung als schön, nicht-heteronormative sexuelle Praktiken ganz unabhängig von jedweder sozialen Funktion, der sie dienen mögen, als Teil der gemeinsamen Welt. Und das erfordert Einbildungskraft. Ganz im Gegensatz zu den Vorwürfen ihrer KritikerInnen bestand Arendts Kritik kognitiver Ansprüche im Bereich des Politischen nicht darin, zu sagen: "Urteile niemals kognitiv, wenn du politisch urteilst"; sondern: "Verwechsle nie ein kognitives Urteil mit politischem Urteilen". Etwas anderes ist erforderlich, denn ein politisches Urteil enthüllt nicht irgendeine Eigenschaft des Gegenstands, sondern es enthüllt etwas, was von politischer Signifikanz ist, über denjenigen oder diejenige, der oder die es trifft.

Was wir in einem politischen Urteil bejahen, wird nicht als kognitive Verpflichtung auf ein Set von Grundsätzen gemäß einer rationalen Übereinkunft erfahren (wie diese etwa in einer Verfassung kodifiziert sind – wenn es auch ebenso als das erfahren werden kann), sondern als Wohlgefallen, als miteinander geteilte Sensibilität. "Wir fühlen unsere Freiheit", um die Formulierung Kants aufzugreifen, wenn wir ästhetisch oder, wie Arendt zeigt, politisch urteilen. Wenn das Wohlgefallen, das in einem Urteil liegt, nicht aus der unmittelbaren Erfassung eines Gegenstands hervorgeht, sondern aus der Reflexion (das heißt, in der Beziehung zu nichts anderem als dem Urteil selbst entsteht), dann sind wir auf uns selbst und unsere eigene Praxis zurückgeworfen: Wir finden Gefallen in dem, was wir geltend machen und vertreten (z. B. dass diese Wahrheiten selbstverständlich sind). Wie wir urteilen, ist es, was in uns ein Wohlgefallen erzeugt, das heißt: dass wir über Gegenstände und Ereignisse in ihrer Freiheit urteilen. Wir müssen diese Wahrheiten nicht für irgend selbstverständlicher halten, als wir Männer und Frauen für gleich oder die Rose für schön halten müssen; nichts zwingt uns. Es gibt nichts Notwendiges in dem, was wir vertreten. Dass wir aber solchermaßen etwas vertreten, ist ein Ausdruck unserer Freiheit. Im Urteil bejahen wir unsere Freiheit und entdecken Natur und Grenzen dessen, was wir gemeinsam vertreten. Das ist die einfache, aber entscheidende Lektion, die aus Arendts Betrachtung des politischen Urteils zu lernen ist.

 

Übersetzung: Stefan Nowotny


[1] Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, 69. – Teile des vorliegenden Essays werden erscheinen in Linda M. G. Zerilli, Feminism and the Abyss of Freedom, Chicago University Press 2005, sowie Linda M. G. Zerilli, "Aesthetic Judgment and the Public Sphere in the Thought of Hannah Arendt", Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 15/2004/3, 67-94.

[2] Hannah Arendt, Über Kants politische Philosophie, in: Dies., Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München: Piper 1998, S. 25 (im Weiteren zitiert als DU).

[3] Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Ders., Werke Bd. 8, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, § 32, S. 375 (B 136) (im Weiteren zitiert als KdU).

[4] Jürgen Habermas, "Hannah Arendts Begriff der Macht", in: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a M.: Suhrkamp 1981, 248. Für ein ähnliches Argument vgl. Albrecht Wellmer, "Hannah Arendt on Judgment: The Unwritten Doctrine of Reason", in: Judgment, Imagination, and Politics: Themes from Kant and Arendt, hg. v. Ronald Beiner and Jennifer Nedlesky, Boston: Rowman & Littlefield 2001, 165–181, 169.

[5] Ronald Beiner, "Hannah Arendt über das Urteilen", in: Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, a. a. O., 115–198, hier: 151.

[6] Seyla Benhabib, The Reluctant Modernism of Hannah Arendt, Thousand Oaks: Sage 1996, 188 f. Benhabib sieht eine "normative Lücke in Arendts Denken" und betrachtet die Hinwendung zur dritten – anstatt der zweiten – Kritik als ein weiteres "verstörendes" Beispiel für Arendts Weigerung oder Scheitern daran, der "normativen Dimension des Politischen" Rechnung zu tragen (ebd., 193 u. 194).

[7] Hannah Arendt, "Understanding and Politics", in: Dies., Essays in Understanding, 1930–1954, hg. v. Jerome Kohn, New York: Harcourt Brace & Company 1994), 307–327, hier: 325, Fußn. 7 [vgl. Hannah Arendt, "Verstehen und Politik", in: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München: Piper 2000, 110–127; die hier zitierte Fußnote ist in dieser – auf der englischen Erstveröffentlichung basierenden – deutschen Übersetzung des Aufsatzes jedoch nicht enthalten; Anm. d. Übers.]. – "Der Verlust der [ererbten] Maßstäbe", beobachtet Arendt, "ist also eine Katastrophe der moralischen [und politischen] Welt nur, wenn man annimmt, Menschen wären eigentlich gar nicht in der Lage, Dinge an sich selbst zu beurteilen […]; man könne [der Urteilskraft] nicht mehr zumuten, als bekannte Regeln richtig anzuwenden […]" (Hannah Arendt, Was ist Politik?, hg. v. Ursula Ludz, München: Piper 1993, 22).

[8] Hannah Arendt, "Wahrheit und Politik", in: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München: Piper 22000, 327–370, hier: 342. [* Der eingefügte englische Satzteil folgt der von Linda Zerilli zitierten englischen Textversion (Hannah Arendt, "Truth and Politics", in: Dies., Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought, New York: Penguin 1993, 227–264, hier: 241). Der in der deutschen Ausgabe von Zwischen Vergangenheit und Zukunft abgedruckten Version liegt eine von H. Arendt selbst erstellte deutsche Letztfassung ihres auf einen deutschsprachigen Rundfunkvortrag zurückgehenden, dann aber auf Englisch weiter ausgearbeiteten Aufsatzes zugrunde. Eine für den vorliegenden Kontext relevante Abweichung zwischen englischer und deutscher Version ergibt sich jedoch nur für den letzten Satz der zitierten Passage, weswegen hier die englische Formulierung hinzugefügt wurde. (Anm. des Übers.)]

[9] Iris Marion Young, "Asymmetrical Reciprocity: On Moral Respect, Wonder, and Enlarged Thought", in: Judgment, Imagination, and Politics, hg. v. Ronald Beiner und Jennifer Nedelsky, New York: Rowman & Littlefield 2001, 205–228, hier 225.