Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

06 2008

Konserven des Kolonialismus: Die Welt im Museum

Christian Kravagna

Seit den 1990er Jahren ist die kritische Reflexion ethnografisch-anthropologischer Repräsentationen in Text, Bild und Sammlung wichtiger Bestandteil postkolonialer und institutionskritisch ausgerichteter Kunst. KünstlerInnen wie Trinh T. Minh-ha, Renée Green und andere stehen für die Bedeutung solcher Themen und Praktiken in der Kunst des späten 20. Jahrhunderts. Die Arbeiten der Wiener Künstlerin Lisl Ponger folgen dem Projekt eines kritischen Abtragens jener Determinationen, die ein westliches Subjekt in Bezug auf seine Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Fantasien des Anderen formen. Die 1997–99 entstandene Arbeit „Ethnographia“ des nigerianischen Künstlers Olu Oguibe stellt typische Formen des historischen westlichen Schreibens über afrikanische Menschen und Gesellschaften in Kontrast zu heutigen Bildern realer Menschen – vor dem Hintergrund einer mit Utensilien wie Brille und Pfeife markierten Schreibstube der EthnografInnen, von wo aus das Bild/ der Text des Anderen produziert werden.

Zwei Interventionen, die meines Erachtens zum Besten zählen, was die zeitgenössische Kunst zum Thema museale Geschichtsdarstellung beigetragen hat, stammen von dem afroamerikanischen Künstler Fred Wilson. Wie die meisten der oben erwähnten KünstlerInnen ist auch Wilson an der kritischen Verknüpfung von tradierten institutionellen Präsentationsformen mit jenen politischen Realitäten interessiert, die sie gewöhnlich vergessen lassen. 1990 realisierte Wilson in der New Yorker Bronx die Ausstellung „Rooms with a View: The Struggle Between Cultural Content and the Context of Art“. Einer der Räume dieses Projekts wird im Folgenden von Fred Wilson beschrieben:

In einem Segment mit dem Titel The Colonial Collection zeigte ich in französische und britische Flaggen eingewickelte afrikanische Masken. Es war alles Handelsware, doch wenn die Dinge richtig repräsentiert werden, sehen sie plötzlich authentisch aus, was immer dieses Wort bedeutet. Ich ließ eine Vitrine bauen, die nach Jahrhundertwende ausschaute, und legte Lithographien hinein, die dieser Epoche entstammten. Diese Lithographien aus Harper’s Bazaar zeigten Strafexpeditionen zwischen Briten und Zulus sowie zwischen Briten und Ashanti. Die Masken hatte ich umwickelt, weil sie den Status von Geiseln haben – Geiseln des Museums. Wären sie seit der Jahrhundertwende im Museum gewesen – und viele Sammlungen stammen ja aus dieser Epoche –, müsste man davon ausgehen, dass sie während der kriegerischen Auseinandersetzungen mitgenommen worden sind. [...] Ihr Status wirft eine Menge von Fragen auf: soll man sie zurückgeben oder nicht? Mich interessiert aber vor allem, die Geschichte ins Museum einziehen zu lassen, weil ich den Eindruck habe, dass die ästhetische Zurichtung die historische Dimension betäubt und dem imperialen Blick innerhalb des Museums zuarbeitet und damit zugleich die Entwurzelung dieser Objekte betreibt.[1]

Zu einem Teil seiner 1992 durchgeführten Intervention „Mining the Museum“ in der Maryland Historical Society in Baltimore, wahrscheinlich seine berühmteste Arbeit, schreibt Wilson:

Das Museum verfügt über Berge von Silber. In eine Vitrine stellte ich getriebene Silberpokale und versah sie mit der Beschriftung ‚Metallarbeiten 1793-1880’. Ebenfalls aus Metall, aber tief in den Depoträumen der Historical Society versteckt, fanden sich Fußfesseln von Sklaven. Ich präsentierte beides zusammen; normalerweise hat man ja getrennte Museen für die schönen und die grausigen Dinge. Tatsächlich aber hatten beide Formen der Metallarbeit viel miteinander zu tun, die Produktion der einen beruhte auf Ausbeutung, welche durch die andere ermöglicht wurde.[2]

Aus demselben Zeitraum, dem Jahr 1991, stammt eine bemerkenswerte Äußerung des native american Künstlers Jimmie Durham:

Vor kurzem saß ich mit drei anderen Indianern auf einem Podium. Thema der Diskussion war die Rückgabe der Sammlungsstücke an die jeweiligen Stämme. Ein Mann wollte wissen, was wir denn zum Beispiel mit den Tausenden perlenbestickter Mokassins anfangen wollten. Wir hatten darauf keine Antwort. Was sollte man mit Tausenden perlenbestickter Mokassins tun? So pervers das klingt, aber das Smithsonian ist für sie der perfekte Ort.[3]

Mittlerweile machen einige Institutionen den Versuch, die historische imperialistische Sammelwut, auf der das ethnologische Museum beruht, bis zu einem gewissen Grad transparent zu machen. Im Stiegenhaus des Musée du quai Branly in Paris ist beispielsweise ein riesiger, glasverkleideter Zylinder aufgestellt, der den BesucherInnen Einblick ins Depot einer solchen Institution verschaffen soll. Tausende Flöten, tausende Bogen, tausende Speere lassen sich hier als Masse betrachten. Das Musée du quai Branly ist aber auch ein Beispiel für den Pro-forma-Charakter solcher Selbstreflexion, für die immer wieder auch zeitgenössische KünstlerInnen eingeladen werden, deren Interventionen dem Museum einen kritischen Anstrich verpassen sollen, vielleicht auch wirklich von Teilen des kuratorischen Personals ernst genommen werden, aber – wie im Fall des Pariser Beispiels – im größeren Ganzen einer spektakelhaften Inszenierung des Museums untergehen.

Wenn Fred Wilson von der Notwendigkeit spricht, die Geschichte ins Museum einziehen zu lassen, dann steht dieses Anliegen in einer Beziehung zur Kritik der Chronopolitik der Anthropologie und des ethnologischen Museums, wie sie auch von Seiten der kritischen Anthropologie formuliert wurde:

„The ethnographic present is the practice of giving accounts of other cultures and societies in the present tense“, schreibt Johannes Fabian in seinem 1983 erschienenen Buch „Time and The Other: How Anthropology makes its Objects”.[4] Für Fabian ist das Verhältnis der Anthropologie zu ihrem Gegenstand seit jeher in signifikanten Korrelationen von Oppositionen wie Here–There und Now–Then organisiert, die er als Techniken der Distanzierung zwischen Subjekt und Objekt der ethnografischen Praxis begreift, welche er wiederum in der übergeordneten kolonialen Distanzproduktion zwischen dem Westen und dem Rest begründet sieht. Neben der einst dominanten „evolutionist time“ die andere Kulturen auf früheren Stufen einer universalen Zeitachse der Entwicklung ansiedelt, deren Spitze die jeweilige Kultur des Anthropologen verkörpert, nennt Fabian die „encapsulated time“ die er mit funktionalistischen und strukturalistischen Ansätzen der Ethnografie in Verbindung bringt. Beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, zeichnen sich durch eine „Verweigerung von Gleichzeitigkeit“ („denial of coevalness“) aus: „By that I mean a persistent and systematic tendency to place the referent(s) of anthropology in a Time other than the present of the producer of anthropological discourse.“[5]

Diese „present tense“, stellt Fabian fest, „freezes a society at the time of observation; at worst, it contains assumptions about the repetitiveness, predictability and conservativism of primitives.“[6]

In den 1980er Jahren, als Fabians Buch erschien, entwickelte sich die sogenannte „Writing Culture“-Debatte. James Clifford spricht im Vorwort zu dem Buch „Writing Culture“, das eine Konferenz von 1984 dokumentierte, von einer „Krise der Anthropologie.“[7] Der Untertitel des Sammelbandes – „The Poetics and Politics of Ethnography“deutet die zwei hauptsächlichen Seiten an, von denen her sich die ethnografische Praxis in kritisches Licht gesetzt sieht: Die Repräsentation von anderen Kulturen wird einerseits zu einer Frage des Stils bzw. des Genres. Wie hoch ist der Anteil der Erfindung, der Fiktion im ethnografischen Schreiben? Wie deutlich lassen sich wissenschaftliche und literarische Schreibstile unterscheiden? Wie objektiv bzw. konstruiert sind die Darstellungen von Kulturen? Clifford Geertz hat dazu 1988 das einschlägige Buch „Works and Lives. The Anthropologist as Author“ vorgelegt, in dem er typische Erzählmuster ethnografischer Berichte herausarbeitet und sich den darin manifestierten Begehrensstrukturen ihrer AutorInnen widmet.[8] Die zweite Seite – die „Politics of Ethnography“ – verknüpft die wissenschaftliche Autorität der EthnografInnen mit den kolonialen Dominanzstrukturen, in deren Rahmen und auf deren Grundlage sie sich überhaupt entfalten konnte.

Johannes Fabian wirft in „Time and the Other“ auch die Frage der postkolonialen Rekonfiguration des Verhältnisses von Macht bzw. Diskurs und Zeit auf: „It takes imagination and courage to picture what would happen to the West (and to anthropology) if its temporal fortress were suddenly invaded by the Time of the Other.“[9]

In einem Buch mit dem Titel „Anthropology and the Colonial Encounter“, das 1973 von Talal Asad herausgegeben wurde, erscheint diese Festung bereits schwer beschädigt. „The plausibility of the anthropological enterprise which seemed so self-evident to all its practitioners a mere decade ago, is now no longer quite so self-evident“[10], schreibt Asad. Er spricht von „fundamentalen Veränderungen seit dem 2. Weltkrieg“, die zumindest Teilen der Disziplin verdeutlicht hätten, dass nicht nur sie die Welt erfasst, sondern dass die jeweilige Welt, in der sie tätig wird, die Art und Weise determiniert, wie sie die Welt betrachtet. Asad hebt die Prozesse der Dekolonisation in den 1950er und 1960er Jahren hervor und die damit verbundene Entstehung von indigenen, antikolonialen, nationalistischen Geschichtsschreibungen, die sich oft anklagend gegen die kolonialen Verstrickungen der Anthropologie wandten. „Anthropology and the Colonial Encounter“ nennt auch einige konkrete Ereignisse wie die Aufdeckung vom CIA finanzierter ethnografischer Forschungen im Kontext des Vietnamkrieges, von wo aus ein kritischer Blick zurück auf die Instrumentalisierung einer „angewandten Anthropologie“ für die Zwecke der „indirekten Herrschaft“ in den Kolonien zwingend wurde. 1967 erschienen außerdem posthum die Feldtagebücher von Bronislaw Malinowski, dem Begründer der modernen Ethnografie, mit ihrer Technik der Feldforschung und teilnehmenden Beobachtung, aus denen die Ängste, Aggressionen und tief sitzenden Rassismen des Forschers sprachen, die die Objektivität des Vaters des britischen Funktionalismus in ein neues Licht rückten.[11]

Von besonderem Interesse ist Asads Buch, weil es die kolonialen Verstrickungen der Anthropologie nicht nur als moralisch-politisches, sondern ebenso sehr als erkenntnistheoretisches Problem auffasst. Die Anthropologie hätte sich im Allgemeinen geweigert, die machtpolitischen Voraussetzungen ihrer Wissensproduktion zu berücksichtigen, und daher Gesellschaften in einer Form beschrieben, als existierten diese jenseits der kolonialen Ordnung.

Johannes Fabian hat gezeigt, wie die verschiedenen Ethnografen die von ihnen erforschten Kulturen als vergangene oder gerade im Verschwinden begriffene Kulturen beschreiben. Dies betrifft auch das Sammeln der Objekte. Die ethnografischen Objekte repräsentierten eine Vergangenheit, eine Kultur im Verschwinden. Sie dienten der Konstruktion „einer Vergangenheit, in die die Menschen Afrikas versetzt werden mussten, damit die Schemata der Wissenschaft und des Imperialismus weiterhin Sinn machten.“[12]

Die Arbeiten von Lothar Baumgarten aus den späten Sechzigerjahren gehören zu den ersten systematischen künstlerischen Reflexionen ethnografisch-museologischer Praxis. Neben einer ganzen Reihe von gleichzeitigen Arbeiten wie „Feather People (The Americans)“, Ethnography, Self and Other“ oder „Amazonas Kosmos (Grünkohl)“, die sich mit dem Selbst als Quelle der Produktion von Andersheit befassen, beginnt Baumgarten 1968 eine zweijährige fotografische Untersuchung von Displaysystemen ethnografischer Museen. Baumgarten studierte noch bei Joseph Beuys in Düsseldorf, als er mit diesen Arbeiten begann. Beuys hatte bekanntlich die seherische und therapeutische Rolle des Schamanen für seine gesellschafts- und rationalitätskritische Kunst adaptiert. Gewissermaßen aus dem toten Winkel des Beuys’schen Spätprimitivismus startet Baumgarten seine ideologiekritische Kartografie des Reisens im historisch-politischen Zusammenhang von Diskursen und Praktiken der Beschreibung, Sammlung und Eroberung fremder Kulturen. Hier ist eine deutliche Verschiebung vom modernistischen Begehren nach Differenz zu einer kritischen Archäologie von Repräsentationsformen des Anderen erkennbar.

Die daraus hervorgegangene Dia-Installation „Unsettled Objects“ (1968/69) zeigt Einblicke in das Pitt Rivers Museum in Oxford, ein weitgehend unverändert erhaltenes anthropologisches Museum des späten 19. Jahrhunderts. Die 80 Dias von Schaukästen, Vitrinen und einzelnen Sammlungsobjekten sind überblendet mit Wörtern, die Aktivitäten und Effekte der museologischen Praxis bezeichnen: displayed, imagined, classified, protected, consumed, mythologized, analyzed, claimed, transformed, photographed, framed, fetishized usw. Das Museum wurde 1884 von General Pitt Rivers der University of Oxford gestiftet, um dessen private Sammlung zu betreuen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In seinen Ordnungs- und Präsentationskriterien folgt das Museum den evolutionistischen Ideen seines Gründers: „Ordinary and typical specimens, rather than rare objects, have been selected and arranged in sequence, so as to trace, as far as practible, the succession of ideas by which the minds of men in a primitive condition of culture have progressed from the simple to the complex, and from the homogeneous to the heterogeneous.“[13]

Auch wenn sie in den dicht aneinandergedrängten und vollgestopften Schaukästen oft schwer nachvollziehbar ist, beherrscht die typologisch-evolutionistische Programmatik, die das Museumskonzept von ethnisch-geografischen Ordnungsmodellen unterscheidet, das Geschichts- und Kulturbild dieser Institution: „We have carried on his [Pitt Rivers’] comparative method by showing, in sequence with cases illustrating the tools of early prehistoric peoples in Europe, Asia, and Africa, a series showing the tools of peoples who were in their Stone Age at the time of their discovery by Europeans.“[14] Hier manifestiert sich die Gültigkeit der oben erwähnten „Verweigerung von Gleichzeitigkeit“. Die Broschüre des Pitt-Rivers-Museums unterstreicht auch die ungebrochene Relevanz des Rettungsparadigmas: „So-called ‚primitive’ societies are everywhere under threat and the Museum is acting as a curator for the world in striving to preserve and record that which may vanish totally.“[15]

Wie Lothar Baumgarten später festgestellt hat, lässt sich das nur marginal modernisierte Museum als eine „Konserve des Kolonialismus“[16] begreifen. „Unsettled Objects“ offenbart die imperialistische Sucht nach Aneignung und Anhäufung des Unbekannten, das Verlangen nach Kontrolle des Anderen durch Organisation und Klassifizierung. Die Ansichten überfüllter Vitrinen, die „ähnliche“ Gegenstände beinhalten, wobei Ähnlichkeit einmal nach Funktion, einmal nach Motiv, ein andermal nach Form definiert ist, zeugen von einem Sammlungsinteresse, dem es nicht um das Erfassen sozialer Strukturen geht, sondern um die Demonstration globaler Übersicht. Die ausgestellten Objekte haben ihren Ort und ihre Funktion nicht in einem Korrespondenzverhältnis zu anderen Objekten einer spezifischen Gesellschaft, sondern im Verhältnis zu kulturell und geografisch teilweise weit entfernten Gegenständen, mit denen sie die Lösung allgemeiner Fragen „der Menschheit“ teilen sollen. Es sind Fragen, die vom Standpunkt der industrialisierten westlichen Moderne aus formuliert sind, während diese selbst aus dem Horizont des musealen Interesses herausfällt: „The Museum takes the world for its province, and for its period, from the earliest times to the present day, excluding the results of mass production.“[17] Wenn das Museum – eher atmosphärisch als argumentativ – über den „Artenreichtum“ des Anderen erzählt, so betrachtet Baumgartens Dia-Installation das anthropologische Museum als Manifestation einer regionalen Denk- und Wissensformation, die im historischen Zusammenhang des Kolonialismus begründet wurde. Dies ist vor allem in jenen Bildern der Fall, die sich den Verpackungen, Nummerierungen, Beschriftungen und dekorativen Reihungen der gesammelten Objekte zuwenden und auf die Durchdringung von wissenschaftlichen, konservatorischen und ästhetischen Ansprüchen hinweisen. Eine der schönsten und aufschlussreichsten Aufnahmen ist jene, auf der ein betrachtungstechnisches Hilfsmittel erscheint, mit dem eine störende Spiegelung des Betrachters im Glas der Vitrinen vermieden werden kann. Sie verweist auf die systematische Ausblendung der ordnenden Instanz, des Subjekts der Repräsentation, aus den institutionellen Darstellungspraktiken.

In der Betrachtung der aufeinanderfolgenden Dias von Baumgartens Projektion schwindet die Möglichkeit der Konzentration, des Verweilens vor einzelnen Objekten. Die Arbeit vermittelt ein Gefühl der Orientierungslosigkeit in der Masse der präsentierten Gegenstände und provoziert im Betrachter tendenziell ein Begehren nach Kontrolle, den Wunsch, das flüchtig zu sehende exotische Material auf das eigene Bezugssystem hin zu ordnen. In der zumindest teilweisen Identifikation des Betrachters mit dem Ordnungsbestreben des Museums liegt eine spezifische Qualität dieser Arbeit, weil sie die kritische Distanz zur Institution durch einen mit ihr sympathisierenden Exotismus auch wieder unterläuft.

Bevor ich einen weiteren Sprung in die Kunstgeschichte unternehme, möchte ich eine signifikante Parallele zwischen Baumgartens Aufzählung von Praktiken, denen die Sammlungsstücke im musealen Kontext ausgesetzt sind, und einer literarischen Beschreibung von kolonialistisch unterworfenen Gesellschaften erwähnen. Cheikh Hamidou Kane räsoniert in dem 1962 erschienenen Roman „L'aventure ambiguë“ (engl. „Ambiguous Adventure”) über das Schicksal westafrikanischer Völker, die sich den KolonisatorInnen entweder im Kampf widersetzten oder aber eher passiv reagierten: „Those who had shown fight and those who had been surrendered, those who had come to terms and those who had been obstinate – they all found themselves, when the day came, checked by census, divided up, classified, labeled, conscripted, administrated.“[18]

In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat Hannah Höch eine Reihe von Fotomontagen geschaffen, die mit einigem Recht als eine Form von Institutionskritik avant la lettre betrachtet werden dürfen. Die 18 bis 20 Arbeiten umfassende Serie der Berliner Dadaistin entstand zwischen 1924 und 1934. Die meisten dieser kleinformatigen Blätter sind einzeln betitelt, die gesamte Werkgruppe trägt den Titel „Aus einem ethnographischen Museum“. Schon der Name der Serie ist bemerkenswert und verweist auf eine grundlegende Abweichung von der zeitgenössischen Norm des künstlerischen Umgangs mit anderen Kulturen und deren Artefakten. Höchs Titel macht unmissverständlich deutlich, dass die in den Fotomontagen auftauchenden Motive einem westlichen institutionellen Kontext zugeordnet sind und nicht, wie in den Werken anderer KünstlerInnen, den Anspruch erheben, von einem kulturellen Anderswo zu erzählen. Noch ehe man sich die einzelnen Arbeiten genauer ansieht, ist mit dem Namen der Werkgruppe ein Rahmen ihrer Betrachtung gegeben. Alles, was in diesen Bildern als exotisch, primitiv oder fremd erscheinen mag, gehört in erster Linie der diskursiven Ordnung des Museums beziehungsweise der Ethnografie als wissenschaftlicher Praxis an.

Im Umfeld des Dadaismus, insbesondere in seiner politischen Variante, wie im Berliner Dada, bestanden im frühen 20. Jahrhundert wahrscheinlich die geeigneten Voraussetzungen für die Entwicklung einer „institutionskritischen“ künstlerischen Perspektive. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit den kapitalistischen, nationalistischen und patriarchalischen Strukturen der Weimarer Republik muss hier vor allem das Medienbewusstsein dadaistischer Kunst berücksichtigt werden. Wenn das Grundproblem der primitivistischen und exotistischen Kunst der frühen Moderne als Schwierigkeit, zwischen Repräsentation und Wirklichkeit zu unterscheiden, beschrieben werden kann, so hatten die DadaistInnen die Realität von Sprache und Bildern, insbesondere die der Massenmedien, zum Material ihrer Kunst gewählt. Dadaistische Verfahren zergliedern das Vokabular und die Rhetoriken öffentlicher Sprach- und Bildwelten und montieren aus deren Fragmenten ihre Sprache der Kritik. In den Fotomontagen und Collagen der DadaistInnen wird die Fotografie weniger als Abbild von Realität denn als Bestandteil der modernen Realität der Massenmedien betrachtet. Bilder waren in diesem Verständnis immer schon gerahmt, kontextualisiert, Fragmente diskursiver Praktiken. Die dadaistische Sensibilität für mediale Repräsentation verbindet sich darüber hinaus mit einer kritisch-ironischen Reflexion des gesellschaftlichen Status von Kunst und der Rolle der KünstlerInnen. Diese Verbindung von Medienbewusstsein und Selbstreflexion verhindert eine ähnlich idealistische, nicht selten weltfremde Imagination des kulturell Anderen, wie sie der primitivistische Mainstream der frühen Moderne an den Tag legte.

Für die zu ihrer Zeit außergewöhnliche Perspektive, die Hannah Höch auf ethnografische Bilder und Objekte anwendet, scheinen zwei weitere Faktoren von Bedeutung zu sein. Zum einen befand sich Höch als einzige Frau in einer männerdominierten Dada-Gruppe in einer marginalen Position und ihr gesamtes künstlerisches Werk ist durchzogen von der Reflexion der Frauenrolle in der modernen technisierten und mediatisierten Gesellschaft. Zum anderen arbeitete Höch zwischen 1916 und 1926 im Ullstein-Verlag, der in Deutschland die populärsten Magazine seiner Zeit publizierte. Der Großteil der in Höchs Montagen verwendeten Bilder stammt aus diesen Illustrierten („Berliner Illustrierte Zeitung“, „Uhu“, „Querschnitt“), zu denen sie unmittelbaren Zugang hatte und in denen nicht nur das neue Frauenbild zwischen gesellschaftlicher Emanzipation und neuen Formen der Kommodifizierung verhandelt wurde, sondern auch massenhaft ethnografisches und exotistisches Bildmaterial zu finden war. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, fügt Hannah Höch in den Blättern der Serie „Aus einem ethnographischen Museum“ ausgeschnittene Motive und Motivfragmente aus beiden Bildwelten, den Frauen- und den Ethno-Bildern, zu hybriden Figuren zusammen. Auch wenn die Künstlerin Museumsbesuche als Anregung für diese Arbeit aufgeführt hat, so bezieht sich die Serie nicht auf ein konkretes Museum, sondern reflektiert generell den Ort und die Techniken der Konstruktion von Andersheit. Zu den signifikanten Charakteristika dieser Serie gehört die verschränkte Lektüre von Institutionen und Medien als Instanzen der Bedeutungsproduktion in Bezug auf Geschlechterdifferenz und kulturelle Unterschiede. Die Kombination von Bildfragmenten weißer Frauenkörper mit Bildfragmenten außereuropäischer Skulpturen lädt zu einer wechselseitigen Betrachtung ein und unterscheidet sich grundsätzlich von der üblichen Abwesenheit von Signifikanten des Europäisch-Weißen in der Kunst des Primitivismus. Für den Status der Skulpturen bedeutet dies ihre Wahrnehmung als Objekte in einem westlich-institutionellen Bezugssystem, in dem sie der Schaulust ausgesetzt sind wie ihre Begleiterinnen, die weißen Frauenkörper.

Worin sind nun, neben dem Titel der Serie, die offensichtlichen Anhaltspunkte einer Reflexion des Museums zu sehen? Zunächst sind das einfache formale Mittel, die auf eine museale Präsentation hinweisen. Höch postiert ihre Figurationen häufig auf Sockeln, die aus farbigen Papieren geschnitten sind. Sie stehen vor neutralen Hintergründen, in leeren Räumen, die wiederum in vielen Fällen von fensterartigen Rahmen eingefasst sind. Diese Rahmen lassen sich im engeren Sinn als Verweis auf Vitrinen oder Schaukästen lesen, aber auch im übertragenen Sinn als Referenz auf Praktiken der Bedeutungsproduktion. Dass der Rahmen für Höch auch als Symbol des Begehrens diente, zeigt etwa der Vergleich mit einem Bild von 1925 „Der Traum seines Lebens“, das eine aufreizend inszenierte Braut in verschiedenen Posen zeigt, die von einer ganzen Reihe von Rahmen eingefasst und fragmentiert wird. Hier ist der Rahmen ganz unmissverständlich als Metapher der Zurichtung des Repräsentierten auf die Fantasie eines, in diesem Fall männlichen, Subjekts verstanden. Sockel und Rahmen in der Serie „Aus einem ethnograpischen Museum“ lassen sich somit als Marker eines Übersetzungsprozesses lesen, dem das ethnografische Objekt unterliegt, wenn es aus dem Kontext seiner Herkunft in den des westlichen Museums übertragen wird. Neben diesen Mitteln ist es vor allem die verfremdende Technik der Montage selbst, die die Skulpturen fragmentiert und ihre Fragmente in neue Konstellationen zwingt, in Parallele zur Praxis des ethnografischen Sammelns, die Objekte ihren kulturellen Gebrauchs- und Bedeutungszusammenhängen entreißt und in ihnen fremde Ordnungen einfügt. Ferner ist die Häufigkeit bemerkenswert, mit der Hannah Höch außereuropäische skulpturale Oberkörper auf fragil wirkenden weißen Frauenbeinen balancieren lässt, die wiederum häufig aus Tanz- oder Sportbildern stammen, also aus ebenfalls öffentlich inszenierten Darbietungen. Schließlich wird das institutionalisierte Differenzbegehren, dem die ethnografischen Objekte unterliegen, durch die sexualisierten (Teile der) Frauenkörper hervorgehoben, mit denen die Skulpturen zu grotesken Konstruktionen der Fremdheit verschmelzen. Auch wenn es heute schwierig ist, Höchs kritische Intentionen zu rekonstruieren, so hebt sich ihr Blick auf die medialen und institutionellen Bedingungen der Konstruktion von Andersheit doch deutlich von zeitgleichen künstlerischen Einstellungen ab, die das „Primitive“ als Projektionsraum der Zivilisationsflucht imaginieren.

Wenn Höchs Arbeiten der 1920er Jahre die ersten Anfänge einer kritischen künstlerischen Perspektive auf das ethnografische Museum darstellen und Lothar Baumgartens Arbeiten der späten 1960er Jahre zu den ersten explizit institutionskritischen zählen, so sollte man nicht auf eine Reihe anderer Ansätze vergessen, die sich nicht zufällig gerade während der Phase der Entkolonialisierung entwickelten: der ethnografische Surrealismus der „Documents“, manche Filme von Jean Rouch oder die Reflexionen über den Zusammenhang des tödlichen Kolonialismus mit dem symbolischen Tod der afrikanischen Kunst in den westlichen Museen, die Chris Marker und Alain Resnais in ihrem großartigen Film „Les Statues meurent aussi“ von 1953 anstellen.


Der vorliegende Text erscheint parallel in: schnittpunkt ausstellungstheorie & praxis (Hg.), Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale Museologien, Wien: Turia + Kant 2008.



[1] Fred Wilson, Die museale Aufbereitung des Spektakels kultureller Produktion, in: Christian Kravagna (Hg.), Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln 2001, S. 120f.

[2] Ebenda, S. 124.

[3] Jimmie Durham, Über das Sammeln, in: Das Museum als Arena, a.a.O., S. 115.

[4] Johannes Fabian, Time and the Other: How Anthropology makes its Objects, New York 1983, S. 80.

[5] Fabian, Time and The Other, a.a.O, S. 31.

[6] Ebenda, S. 81.

[7] James Clifford, George E. Marcus (Hg.), Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley u.a. 1986, S. 3.

[8] Clifford Geertz, Works and Lives. The Anthropologist as Author, Stanford1988 (dt. Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller, Frankfurt/Main 1993).

[9] Fabian, Time and the Other, a.a.O., S. 35.

[10] Talal Asad (Hg.), Anthropology and the Colonial Encounter, Amherst, New York 1973, S. 10.

[11] Man sollte hier nicht über bemerkenswerte Widersprüche hinwegsehen. Denn derselbe Malinowski, der in diesem Zusammenhang zu einem Faktor der Krise der Wissenschaft wurde, war auch ein Förderer indigener Ethnografien, zum Beispiel als Betreuer der Dissertation von Jomo Kenyatta, dem späteren ersten Präsidenten Kenias, für deren Veröffentlichung („Facing Mount Kenya. The Tribal Life of the Gikuyu”, 1938) Malinowski auch ein Vorwort verfasste.

[12] Johannes Fabian, Curios and Curiosity: Notes on reading Torday and Frobenius, in: Enid Schildkrout, Curtis A. Keim (Hg.), The Scramble for Art in Central Africa, Cambridge 1998, S. 101.

[13] General Pitt Rivers 1874 in einer Rede vor dem Anthropologischen Institut im South Kensington Museum, zit. nach: Beatrice Blackwood, The Origin and Development of the Pitt Rivers Museum, Oxford 1991, S. 2.

[14] Ebenda, S. 3.

[15] Ebenda, S. 19.

[16] Lothar Baumgarten, unbetiteltes Statement, in: Kunst-Welten im Dialog: Von Gauguin zur globalen Gegenwart, Ausstellungskatalog Museum Ludwig Köln 1999, S. 372.

[17] Blackwood, The Origin and Development of the Pitt Rivers Museum, a.a.O., S. 19.

[18] Cheikh Hamidou Kane, Ambiguous Adventure, London 1972, S. 49.